Montag, 18. Juni 2018

Die Mutter-Kolumne: Gutes Benehmen. Was ist das überhaupt?

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich? Dieses Mal: Gutes Benehmen.



„Die Lehrerin sagt, gutes Benehmen ist das Wichtigste“, krähte das Söhnchen. Dann kräuselte sich seine Nase. „Was ist das?“
„Es bedeutet, dass du dich richtig verhältst“, sagte ich.
„Dass ich freundlich bin und einen guten Tag wünsche?“
„Das und noch mehr. Gutes Benehmen ist wichtig, wenn man mit vielen Leuten zusammen lebt. Damit sich niemand ärgern muss und sich alle wohl fühlen.“
„Man darf bei Tisch nicht rülpsen und auch nicht pupsen“, erklärte meine Tochter.
Meine Kinder verloren sich lachend in der Vorstellung einer barbarischen Tischrunde.
„Aber auf dem Klo darf man pupsen“, sagte mein Sohn.
„Es gibt für jeden Ort ein anderes gutes Benehmen“, wusste mein Töchterchen.
Ihr Bruder nickte nachdenklich. „Und alle machen das dann, dieses gute Benehmen?“, fragte er.
„Ja“, antwortete ich etwas zu schnell.
„Woher weiß ich, was das gute Benehmen am Ort ist?“, fragte mein Kleiner.
„Das hat uns doch Mama beigebracht“, rief seine Schwester.
Ich atmete erleichtert auf.

Die Woche verflog. Wie so oft, hatte sich einmal mehr vieles gehäuft. Wir waren im Kino und im Theater gewesen, auf einem Besuch bei den Nachbarn und hatten Stunden im Supermarkt verschwendet. Am Sonntagmorgen fanden wir uns auf dem Sofa wieder. Später hatten wir noch Karten für ein Kinderkonzert, aber gerade einen Moment der Muße.
„Ich habe alles beobachtet“, erzählte das Söhnchen.
„Was denn?“, fragte seine Schwester.
„Ich weiß nun, was gutes Benehmen ist.“ Er holte tief Luft, machte große Augen und zählte auf. „In der Schule muss man Gutentagfraufröhlich sagen, man muss das Leisezeichen machen und darf dem Tischnachbarn nicht die Buntstifte mopsen. Auch nicht den Blauen.“ Er warf mir einen Seitenblick zu, doch ich tat so, als bemerkte ich den nicht. „Im Kino muss man laut miterzählen, mit Tüten knistern oder knutschen.“
Meine Kinder ömmelten sich kurz weg, und ich glaubte, einen sehr trockenen Humor am Sohn entdeckt zu haben. Doch er fuhr fort und meinte es ernst.
„Bei den Nachbarn darf man nichts anfassen, man darf sich nicht auf das weiße Sofa setzen und man muss Kekse essen, obwohl die nicht schmecken. Im Kaufhaus muss man rempeln, man darf anderen Sachen aus dem Korb klauen, an der Kasse rummeckern und die Wagen gegen einen fahren. Im Theater muss man flüstern, zusammen husten, ein bisschen pupsen und schlafen.“
Das Töchterchen brach in helles Gelächter aus.
„Wie kommst du denn da drauf?“, fragte ich konsterniert.
„Habe ich alles gesehen“, erklärte mein Sohn stolz. „Jetzt weiß ich bescheid.“
Ich nahm ihn in den Arm und musste einmal mehr erkennen, nicht alle Erwachsenen sind ein gutes Vorbild.

Auf dem Kinderkonzert herrschte ausgelassene Stimmung. Meine Kinder strahlten um die Wette. Zwischendrin kam mein Kleiner zu mir rübergetanzt.
„Schau Mama“, brüllte er. „Gutes Benehmen ist hier wie verrückt jubeln, klatschen, tanzen und mitsingen. Aber die da“, er zeigte auf eine Gruppe Eltern, die still in einer Ecke abwarteten, bis sie ihren Nachwuchs wieder aufsammeln konnten, „die da, haben ein sehr, sehr schlechtes Benehmen.“


Montag, 23. April 2018

Die Mutter-Kolumne: Das Zauberwort


Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich? Dieses Mal: das Zauberwort.



Auf dem Marktplatz verteilt ein Clown Ballons.
„Ich möchte auch einen“, ruft das Söhnchen.
„Dann hol ihn dir“, sage ich.
„Liebe Mama, machst du das? Da sind so viele andere Kinder“, quengelt der Süße mit auf sehr niedliche Weise aufgerissenen Augen.
„Nein“, bleibe ich standhaft, schaue aber schnell woanders hin. „Ich kaufe ein paar Karotten. Wir treffen uns dann wieder hier.“

Später an selber Stelle habe ich ein Bund Möhren in der Hand, mein Sohn aber keinen Ballon. Er zieht ein Schippchen, und feuchte Spuren auf seinen Wangen erzählen von Kummer.
„Was ist los?“, frage ich. „Ist der Ballon geplatzt?“
„Nein“, knurrt der Kleine.
Ich warte. Doch vor Erregung kann er nichts weiter sagen.

„Wusstest du, dass es ein Zauberwort gibt?“, fragt er mit bebender Unterlippe, als es wieder geht.
Bitte nicht der Zauberwortquatsch, denke ich und schüttele den Kopf.
„Mit dem Zauberwort hätte mir der Clown einen Ballon gegeben“, berichtet mein Söhnchen. „Aber ich wusste es nicht! Niemand hatte es mir verraten!“
Seine Verzweiflung rührt mich an. Dabei hatte ich es bewusst vermieden, meinen Kindern irgendeinen Unsinn von einem Zauberwort zu erzählen. Ich hatte ihnen Höflichkeit näher gebracht, die Worte Bitte und Danke. Ich hatte mit ihnen darüber gesprochen, warum es wichtig ist, freundlich zu sein. Auch, wenn man mal das Gegenüber nicht nett findet. Ich hatte ihnen das vorgelebt und sachte darauf hingewiesen.
Höflichkeit ist keine Zauberei und Bitte nie ein Zauberwort gewesen.

„Warum hast du mir das nicht verraten?“, fragt mein Sohn vorwurfsvoll zuhause.
„Was denn, mein Schatz?“, flöte ich, die Unwissende spielend.
„Dass Bitte das Zauberwort ist“, flüstert er, als müsse er diese Neuigkeit vor fremden Ohren schützen.
„Das ist es doch gar nicht“, widerspreche ich. „Wenn man etwas möchte, dann bittet man darum. Das ist höflich und nicht zauberhaft. Wer hat dir das überhaupt gesagt?“
„Ich“, ruft mein Töchterchen aus ihrem Zimmer. „Es funktioniert wirklich. Wenn ich lieb bitte sage, bekomme ich immer, was ich will“, trötet sie.
Plötzlich bricht sie ab.
„Auweia“, hören wir ein Flüstern und ein leises Klatschen, als hätte sich jemand sehr Niedliches gerade die Hand vor das Schnütchen geschlagen.
„Jetzt ärgert sie sich, weil sie es verraten hat“, stellt mein Sohn fest.
Eigentlich ist er nämlich sehr klug und das schon in seinen jungen Jahren. Diesen Zauberwortunsinn hat er doch sicher nicht ernst genommen.

„Bitte, bitte, bitte“, höre ich es vor dem Schlafengehen aus seinem Zimmer raunen.
Ich linse unbemerkt durch den Türspalt. Der Kleine hockt vor einem Teller. Darauf liegt ein Gummibärchen. Vorsichtig begießt er es mit Wasser.
„Bitte, bitte, bitte“, wispert er dabei beschwörend.
Ich seufze innerlich. Jemand hatte ihm im Kindergarten verraten, wie man angeblich Gummibärchen vermehren kann. Ich weiß, dass ich es nicht übers Herz bringen werde, ihn enttäuscht zu wissen, und lege schon mal die Tüte mit den süßen Bären bereit. Später werde ich mich noch mal in sein Zimmer schleichen – auf einer zauberhaften Mission.


Sonntag, 8. April 2018

Tischdienst – ein Tutorial für ein wunderbares gemeinsames Speisen, Plauschen und Gerichte Tauschen


Mit lauter netten Leuten Selbstzubereitetes speisen, plaudern und Köstlichkeiten tauschen – wenn Euch bei dieser Vorstellung das Herz hüpft und das Wasser im Munde zusammenläuft, dann übernehmt doch den Tischdienst und organisiert eine fröhliche Runde an einer reich gedeckten Tafel. 




Die Idee
Zwei Freundinnen und ich ackern fürs Gemüse, kochen gerne und lieben es, verschiedenste Menschen an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam zu speisen. So kam uns die Idee zum Tischdienst
Zu einem bestimmten Motto kocht jeder Teilnehmer ein Gericht, das auf die große Tafel gestellt wird. Vier kleinere Portionen desselben (oder einer selbst gemachten Zutat) werden hübsch verpackt zum Tausch mitgebracht. Als Paar kocht man natürlich entweder doppelt so viel oder zwei Gerichte. 


Grafik: Selina Willand


Beim Genießen, Rezepte Tauschen und über das Leben Plaudern lernt man nicht nur neue Gerichte und nette Menschen kennen, sondern geht auch mit dem Bauch voller Köstlichkeiten, dem Kopf voller Kochideen und einer Tüte voller Spezereien nach Hause. 

Einen Ort finden
Wer hat schon eine Tafel für etwa 20 Personen zuhause? Also macht man die Not zur Tugend und entdeckt besondere Orte, indem man mit offenen Augen durch die Stadt läuft. Gibt es eventuell offene Veranstaltungsräume oder Kantinen? Könnte man die nette Dame aus dem großzügigen Gewürzladen, den jungen Mann mit seinem Atelier oder die Frau mit der Musikschule gewinnen? Oder gibt es einen netten Ort open air?
Man braucht einen Raum für eine große Tafel, genügend Sitzmöglichkeiten drumherum, mit einem Wasseranschluss, eventuell einem Herd zum Aufwärmen und einer Toilette in der Nähe. 




Planen
Etwa 6 Wochen im Vorfeld bestimmt man einen Termin. 
Tipp: An einem Donnerstagabend von 19 bis 22 Uhr haben viele Menschen Zeit. Oder Sonntags. Dann passt das auch mit dem Kochen gut. Allerdings schauen viele Menschen gerne Tatort. :)
Dann überlegt man sich ein Motto, zu dem gekocht werden soll. Das kann etwas Saisonales wie Frühlingserwachen und Erntedank sein oder etwas Spezifisches wie 1000 Gewürze, Brotaufstriche und Alles aus Petersilie
Natürlich muss man überlegen, wie viele Leute kommen können. Wie groß ist die Tafel, die ich aus verschiedenen Tischen oder aus Böcken und alten Türen bauen kann? Wie viele Stühle kann ich besorgen? Bekomme ich genug Besteck, Gläser und Teller zusammen oder muss die jeder selbst mitbringen? 


Die Einladung
In der Einladung nennt man nicht nur Ort, Zeit und Motto, sondern beschreibt auch die Idee und bittet um Anmeldung bis zwei Wochen vor dem Termin unter der eigenen Email-Adresse. Wer Freude am Gestalten hat, findet unter thegraphicsfairy.com dekorative Vintage-Illustrationen aller Art zum kostenlosen Download. 
Will man etwas privater bleiben, verschickt man die Einladung nur an seine Freunde und Bekannte. Wer neue Menschen zusammenbringen und kennenlernen möchte, lässt die Einladung als Flyer drucken und verteilt sie in Buchläden, Cafés und im Kindergarten. Noch einfacher ist es, eine öffentliche Facebook-Veranstaltung zu erstellen. 


Grafik: Selina Willand


Die Gäste
Am Tag nach dem Anmeldeschluss fertigt man die Gästeliste an. Haben sich mehr Leute angemeldet, als um die Tafel passen, muss man leider einigen absagen. Doch vielleicht wiederholt man das Ereignis und kann darauf vertrösten? Den Gästen teilt man noch einmal genau mit, wann, wo und unter welchem Motto sie erwartet werden. Nun hat jeder Zeit, sich ein Gericht zu überlegen und ein- oder zweimal zur Probe zu kochen. Darüber freut sich die Familie zu Hause. 
Tipp: Etwa 20 Gäste sind ideal. Alle kommen miteinander ins Gespräch und die Speisen sind äußerst vielfältig, aber nicht zu viele, um eine jede zu probieren. 


Vorbereitung
Als Veranstalter hat man natürlich etwas mehr Arbeit als die Geladenen. Auf der Einkaufsliste sollten Servietten und Brot stehen. Außerdem frische Minze, Zitronen oder gefrorene Beeren, um mehrere Karaffen aromatisiertes Wasser als Getränk anzubieten. 
Etwa eine Stunde braucht man, um die Tafel vorzubereiten und einzudecken. Natürlich kann man mottogemäß dekorieren, doch das ist gar nicht nötig. Die Wasserkaraffen, ein paar frische Blumen oder Zweige auf verschiedene Vasen verteilt, und einige Kerzen runden die vielen Speisen, die auf der Tafel Platz finden werden, schön ab. 
Außerdem hält man DIN A5-Karten und einen Stift bereit. Hierauf schreibt jeder Gast, welches Gericht er mitbrachte, und stellt sie daneben. 


Das Ereignis 
In der ersten halben Stunde trudeln die Gäste ein. Jeder beschriftet sein Kärtchen und stellt sein Gericht auf die Tafel. Die vier Tauschportionen aller werden an einem zugänglichen Ort gesammelt. 
Wenn alle Platz genommen haben, begrüßt man die Gäste. In einer Vorstellungsrunde erzählt jeder etwas zu sich und seinem Gericht. Danach ist das Eis gebrochen und alle wünschen sich einen guten Appetit. 
Tipp: Wenn man einen Weinhändler mit ins Boot holt, kann dieser Weine zur Probe oder zum Selbstkostenpreis anbieten. Außerdem kann man mit einem Sekt den Abend eröffnen. 


Die Tauschrunde 
„Noch nie habe ich so lecker gegessen“, wird es unisono nach dem Essen klingen. Dann wird getauscht. Reihum darf sich jeder eine der Tauschportionen nehmen. Danach darf sich der letzte als erster nehmen. Das Ganze findet 4 Mal statt. 
Natürlich wird nach so einem netten Abend niemand den Gastgeber mit dem Abwasch alleine lassen. Während alle spülen und aufräumen, kann man schon den nächsten Tischdienst planen. 

Wer einmal bei uns vorbeischauen möchte, kann das hier tun: Tischdienst 



Samstag, 24. März 2018

Die Mutter-Kolumne: Von Schatz und Spatz in der Hand und rosa Kieseln und Tauben auf dem Dach

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich? Dieses Mal: Der Spatz in der Hand und so weiter ...


Wir hüpften von Fels zu Fels das fast leere Bachbett hinauf, das nur einem murmelnden Rinnsal den Weg bergab wies. Das Töchterchen hüpfte etwas schneller als ihr Bruder und ich.
„Kommt doch mal“, rief sie ungeduldig zurück.
„Kann ich nicht“, murmelte das Söhnchen. „Meine Last ist zu schwer.“
Seine Last waren rundgeschliffene anthrazitfarbene Kiesel, die er auf seine Hosentaschen verteilt hatte. Mit beiden Händen musste er die Hose nun festhalten, damit er sie nicht verlöre. So kann man natürlich nur sehr langsam von Fels zu Fels einen Bachlauf bergan hüpfen.

Am Anfang war auch er noch flink gewesen. Dann hatte er den ersten besonderen Stein gefunden. Ziemlich bald den zweiten, den dritten.
„Schau Mama, wie schön die sind“, hatte er gerufen.
„Wolltest du nicht einen Rosafarbenen finden?“, hatte ich gefragt.

Von den rosafarbenen Steinen hatte uns der alte Mann im Dorf erzählt. Wir hatten in einem Restaurant zu Mittag gegessen, und er saß am Nebentisch. Er hatte uns einen glatten, sanft schimmernden, perfekt runden Kiesel gezeigt.
„Die kann man im Bachbett hinterm Restaurant finden. Weit oben und wenn man großes Glück hat“, erzählte er.
Nach dem Essen waren wir zur Schatzsuche aufgebrochen.

„Die Rosanen liegen weiter oben“, rief das Töchterchen ungeduldig. „Lass doch deine Steine fallen, dann kannst du schneller klettern.“
„Niemals. Das sind meine Schätze!“, antwortete ihr Bruder.
„Das sind keine echten Schätze. Die echten sind die Schimmernden“, sagte meine Tochter.
„Gar nicht. Meine sind auch Schätze. Vielleicht sind sie nicht so schatzig wie die Rosanen, aber sie sind trotzdem kostbar. Erst recht, weil ich sie schon habe“, brummte der kleine Kerl und schleppte sich weiter.
Weit voran stürmte seine Schwester, hopste von Stein zu Stein, bückte sich immer mal wieder, hatte aber noch keines der mineralischen Stücke gefunden.

„Stimmt´s, Mama, meine Steine sind echte Schätze. Sogar noch echter als die Rosanen. Denn die sind ja gar nicht da“, meinte das Söhnchen. „Und ein echter Schatz ist doch viel besser als einer, der gar nicht da ist.“
„Aber Mama, mein rosa Stein ist doch viel wertvoller, auch wenn ich ihn noch nicht gefunden habe“, widersprach das Töchterchen. „Außerdem kann ich schon mal davon träumen.“
Die beiden schauten mich mit großen Augen an. Ich sollte entscheiden. War der Spatz in der Hand der größere Schatz als die stolze Taube auf dem Dach? Ich wusste es nicht.
„Vielleicht ist das für jeden anders?“, schlug das Töchterchen vor.
Mein Sohn hielt sich die schwere Hose fest und nickte gewichtig. „Ja. Die einen finden einen Stein schön, den sie haben, der aber vielleicht nur grau ist–“
„Und die anderen wollen keinen grauen Schatz, sondern träumen lieber von einem der rosa ist“, beendete seine Schwester den Satz.
Besser hätte es wahrscheinlich niemand sagen können.
Nicht einmal ihre kluge Mutter, die eine Träne der Rührung aus den Augen wischte und sich dann nach zwei rosafarbenen Kieselchen bückte, die sich unter einem der Felsen verklemmt hatten.

Freitag, 9. März 2018

Von welcher Zukunft träume ich? – Harald Welzer im Gespräch mit Schülern


Von welcher Zukunft träume ich? –

Harald Welzer, Sozialpsychologe, Gründer von „FuturZwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit“ und Mitbegründer der Initiative „Die offene Gesellschaft“, der sich für eine lebenswerte Zukunftsgestaltung einsetzt und für die zivilgesellschaftliche Verteidigung demokratischer Werte steht, diskutierte das mit Schülern am 9. März 2018 in der Centralstation.

Ich habe das zweistündige Gespräch zusammengefasst. Vorab möchte ich jedoch schreiben, dass die Eingangsfrage von den Schülern nicht beantwortet wurde. Mich schockierte das ein bisschen. Haben die 15- und 16Jährigen wirklich keine eigenen Zukunftsvisionen?




Wir haben das Glück, in einer Zeit und in einer Gesellschaft zu leben, die uns satt, gesund und frei sein lässt. (Selbst Ludwig der 14., Sonnenkönig genannt und bekannt als der europäische Monarch schlechthin, fror jämmerlich im prachtvollen Versailles, in dem es zudem mangels Toiletten aus allen Ecken stank.)
Unsere Lebensumstände ermöglichen es, die eigene Zukunft zu gestalten.

Davor steht natürlich die Frage: Wie stelle ich mir meine Zukunft vor? Und auch: Wie setze ich meine Visionen und Wünsche um?

In einer Demokratie hat jeder Mensch die Chance, das Leben, die Gesellschaft, die Zukunft mitzuformen und zu entwickeln. Eine Chance, die im gleichen Maß Verantwortung bedeutet. Zum Beispiel die Verantwortung, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, nachhaltig zu handeln und diesen Planeten den folgenden Generationen nicht als Mülleimer zu hinterlassen.

Natürlich gibt es unfassbar viele Ablenkungen, die es einem mehr als einfach machen würden, sich rauszuhalten, träge zu werden, die Verantwortung für sein Handeln und für sein Leben abzugeben. Diese Entscheidung muss jeder für sich treffen. Mische ich mich ein, bin ich Gestalter und Bestimmer meines Lebens und meiner Zukunft? Oder versinke ich in den Ablenkungen anderer, die dann für mich entscheiden?
Glücklich werden diese Ablenkungen einen nicht machen. Da können apple, samsung oder netflix noch so viel versprechen.

In einer Welt, in der die Zahlen der absolut Armen, der Säuglingssterblichkeit und Hungertoten stetig zurückgehen, ist nicht alles schlecht und verloren. Auch wenn die dramatischen Darstellungen von Amokläufen, Präsidentenidioten, Krawallen, Unmenschlichkeit, Rechtspopulismus und Flüchtlingssituationen in den sozialen Medien das Gegenteil suggerieren wollen. Sich davon nicht kirre machen zu lassen, sondern sich bewusst zu informieren, die Informationen zu filtern, sich eine eigene Meinung zu bilden und daraus eine Position abzuleiten, sind Schritte in die eigene Richtung. Und diese eigene Richtung bestimmt man selbst. Jedenfalls darf man das.

Täglich ist man extremen Widersprüchen ausgesetzt. So versucht beispielsweise die Werbung den Einzelnen zum Ultrakonsum zu verführen, während Prognosen und Studien auf die Zerstörung der Umwelt hinweisen. Man weiß, ein weiteres Wachstum der Wirtschaft wie in den vergangenen Jahrzehnten ist nicht möglich. Der Planet ist endlich, der Regenwald licht, die Ozeane voller Plastik, der Boden voller Gifte, die Luft angereichert mit festen Partikeln. Zu einer lebenswerten Zukunft gehören aber vor allem existentielle Dinge wie sauberes Wasser, ausreichend Sauerstoff, gesunde Nahrungsmittel und Bewegungsfreiheit. Sinnfreies Habenwollen zerstört die Erde. Ein Weltretter kauft nichts, was er nicht zum Überleben braucht. Das wissen wir. Doch die Innenstädte mit ihren Auslagen, die Werbung in allen Medien und das Internet schreien uns an: Du musst konsumieren! Interessanterweise gar nicht, um zu besitzen, (die wissen selbst, dass niemand Wohnungskrimskrams, das neuste Smartphone oder sieben Hosen braucht), sondern um angeblich glücklicher zu sein. Also, nach dem Motto: Besitz macht glücklich.

Aber stimmt das? Wie lange erfreue ich mich an den neuen Nike Air Max oder am nigelnagelneuen Smartphone? Irgendwann ist es einfach ein Paar Schuhe, damit man keine kalten und nassen Füße kriegt, und eine Kommunikationsmöglichkeit mit zersplittertem Display, die aber zum Glück noch funktioniert. (Im Zweifelsfall genügte aber auch das alte Phone, das der Kumpel noch in der Schublade hat. Hauptsache ist doch, man kann seine Leute erreichen.)
Das Leben selbst würde einem also deutlich machen können, dass man eigentlich gar nicht so viel braucht oder besitzen muss, dass Besitz nicht langfristig glücklich macht und dass es ganz cool wäre, wenn der Planet noch eine Weile ausreichen würde, man im Meer baden könnte, bis zur Atemlosigkeit rennen, um dann einen tiefen Zug frischer Luft nehmen könnte, und dass Vögel, Blumen, Bäume und was die Natur sonst noch vorbringt, eigentlich auch ganz schön und vor allem lebenswichtig sind.
Aber bevor man da bewusst ankommt, hat apple schon wieder das nächste Tablett entwickelt und schaltet Werbung, die einen manipuliert: Ohne das neue Produkt bekäme man nichts geregelt, sei nicht dabei, uncool und irgendwie raus. Trotz besseren Wissens zieht man also wieder los und kauft.
Wer diesen Widerspruch zumindest wahrnimmt und ihn erkennt, ist noch normal in Hirn und Herz. Sich davon zu befreien, selbstbestimmt entscheiden zu wollen, wäre dann der erste Schritt in eine eigene Zukunft.

Es wird immer Menschen geben, denen Zukunft, selbst die eigene, egal ist. Darüber kann ich mich ärgern. Ich kann versuchen, sie aufzuklären, und sie irgendwie wachzurütteln. Aber sie dürfen nicht diejenigen sein, die mein Tun beeinflussen. Sie dürfen mich nicht so sehr frustrieren, dass ich die Lust verliere, zu gestalten und zu bestimmen. Ich entscheide über mein Tun. Die Frage „Wie gehe ich persönlich mit den Möglichkeiten, die sich mir bieten, um“, macht das Leben spannend.
Sind meine Schritte erfolgreich, werden sie belohnt, weil mir etwas gelingt, weil ich ein Ziel erreiche, macht mich das stolz und gibt mir Anerkennung. Daraus entwickle ich Vertrauen in mich selbst und meine Fähigkeiten. Ein Mensch, der daran glaubt, dass er selbstbestimmt handeln und mit seinem Tun etwas erreichen kann, entwickelt letzten Endes Zufriedenheit und Glücksgefühle. (Siehe dazu auch den Wiki-Eintrag über Selbstwirksamkeitserwartung.)

Meine eigenen Zukunftsvorstellungen werden niemals eins zu eins umgesetzt werden können. Das ist nicht frustrierend, sondern logisch und auch richtig. Wir sind keine Einzelgänger. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Meine ureigenen Gedanken und Ideen werden durch das Denken und Tun der anderen verändert. Sie inspirieren den anderen, er wird sie aber nie so verstehen oder umsetzen, wie ich das tue oder tun würde. Daraus entstehen gemeinschaftliche Modelle und Projekte.

Falsch Gedachtes kann man nicht optimieren.
Situationen, Erfindungen und Systeme, die verkehrt sind, können nicht verbessert werden. Man muss sie loswerden. Das gelingt nur über eine geänderte Fragestellung. Im Wechsel der Perspektive und der Hinwendung in eine ganz andere Richtung, sucht und findet man Ansätze und Lösungen, die Zustände und letztlich ganze Systeme komplett verändern.
Beispiel: Auto
Das Auto zerstört die Umwelt, verschwendet Ressourcen und nimmt dem Menschen Lebensraum. Egal wie sehr die Hersteller daran arbeiten, ein „grünes“ Auto zu produzieren, es wird nicht gelingen, den Fehler Auto mit einem optimierten Auto auszumerzen.
Hier muss man umdenken, also die Fragestellung ändern. Der Mensch möchte mobil sein, braucht diese Mobilität in gewissen Maßen auch. Wie kann ich diese Mobilität ohne Auto gewährleisten?

Viele Probleme dieser Welt kämen über eine geänderte Fragestellung zu einer Lösung. So wird das Thema Überbevölkerung oft problematisiert. Überbevölkerung bedeutet gemeinhin, dass es angeblich nicht genug Nahrung und andere Ressourcen für die Anzahl der Menschen auf der Erde gäbe. Das ist bei richtiger Fragestellung Unsinn. Denn niemand müsste hungern oder darben, wenn Nahrungsmittel, Medikamente, Wohnraum, Wasser, Bildung usw. gerecht verteilt wären. Doch das sind sie nicht. Zum Beispiel verbrauchen die Deutschen das 5- bis 10-fache und die Amerikaner sogar das 10- bis 20-fache an zur Verfügung stehenden materiellen und immateriellen Gütern im Verhältnis zu den meisten afrikanischen Ländern.

Zukunft zu gestalten bedeutet eben auch immer, die richtigen Fragen zu stellen und die üblichen Pfade zu verlassen. Besonders wenn sie als Sackgassen enden.
Wir bemessen beispielsweise das Niveau unserer Gesellschaft über das Bruttosozialprodukt. Das Bruttosozialprodukt allerdings wächst auch über Zerstörung. Ein Krieg mit nachfolgendem Wiederaufbau erhöht das Bruttosozialprodukt eines Landes. In dieser Denkweise also den Wohlstand der Bevölkerung. So betrachtet muss man fragen, bemisst es tatsächlich das Wohlleben der Gesellschaft?
Wie gut geht es den Menschen, wäre doch hier die viel bessere Frage.

Natürlich kann ein Mensch im ersten Schritt eines Einzelgangs keine Gesellschaft oder ein ganzes System ändern. Aber er kann Impulse geben, die zu einer Veränderung führen können.
Gesellschaften sind keine statischen Systeme, sie sind nicht stabil und entziehen sich letztlich der Kontrolle durch den Menschen. Einzelne Impulse bringen kleine Verschiebungen. Vom Einzelnen inspiriert, können sie wachsen und zu Bewegungen werden. Dabei ist es nicht wichtig, ob der Erste das System an sich ändern wollte, oder ob er überhaupt politisch dachte oder eher persönlich inspiriert handelte. Aber aus Einzelaktionen entstandene Bewegungen erzeugen Aufmerksamkeit. Letztlich auch bei der Politik.
Die Geschichte zeigt, dass viele Handlungen eigentlich anders motiviert waren und etwas ganz anderes erreichen wollten, als sie es dann taten.
Zum Beispiel der Mauerfall. Damals gingen die Menschen in der ehemaligen DDR auf die Straße, um die Zustände im eigenen Land anzuprangern. Sicher hätte niemand von ihnen gedacht, dass nur ein Jahr später das Ende einer Diktatur zu feiern war. Und das ohne Gewalt.

Darum kann also auch der Einzelne etwas verändern. Er muss nur den ersten Schritt gehen, einen Impuls setzen. Der kann zu einer Dynamik führen, so dass aus einer Person eine Gruppe mit dem selben Anliegen entsteht, daraus wiederum eine Bewegung, die auf die Gesellschaft übergreift, die dann letztlich das System ändert.

Jeder, der in einer Demokratie lebt, ist in der Lage, seine Zukunft selbst zu gestalten. Er muss nur anfangen, etwas zu tun. Nicht darüber reden, sondern machen.

Mittwoch, 14. Februar 2018

Die Mutter-Kolumne: Wer petzt ist doof! Wirklich?

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich?


„Kim hat gesagt, man darf sich ein Bonbon aus Frau Fröhlichs Schreibtischschublade nehmen, und als ich das gemacht habe, hat er mich verpetzt, und ich habe Ärger gekriegt!“
Meine Tochter war weinend aus der Schule gekommen, hatte sich in meine Arme geworfen und geschluchzt.
„Mein Süß, das war gemein von Kim. Petzen ist doof“, sagte ich. Verschwieg jedoch, wie gemein und doof ich Kims Verhalten tatsächlich fand.
„Blöde Petze!“, krähte das Söhnchen.
„Kim ist ein Junge“, schnuffelte meine Tochter.
„Blöder Petzer!“, rief ihr Bruder. „Petzen kann keiner leiden.“

Dann verschwanden nach und nach der Salzstreuer, das Stövchen und die Kaminhölzer, der getrocknete Oregano, eine Zitrone, der letzte Rest Mehl, der lange Kaffeelöffel und die gläserne Teekanne.
„Habt ihr diese Sachen?“, fragte ich die kleine Schar.
Sie verneinte unisono und vehement.
„Seltsam“, dachte ich. „Habe ich diese Sachen verlegt?“
Wo hatte ich nur meinen Kopf?

Vielleicht beim Söhnchen. Denn das gefiel mir nicht. Es schien bekümmert. Schlich tagelang herum, wie von Sorgen erdrückt.
„Hast du Kummer, mein Schatz?“, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
„Ist alles okay?“, fragte ich wieder.
„Alles gut“, knurrte der Kleine und schlich weiter.
Besorgt schaute ich ihm nach.

Es war ein Sonntagmorgen. Seit einigen Wochen durfte ich den gemütlich in meinem Bett verbringen. Die Kinder nahmen sich ein Müsli, und später kochte ich zu Mittag. Da hörte ich das Getrampel rennender nackter Kinderfüße. Dann wurde meine Zimmertür aufgestoßen. Atemlos und mit schreckgeweiteten Augen stand mein Sohn auf der Schwelle.
„Mama!“
„Was ist los?“, krächzte ich, innerlich zu Blitzeis erstarrt.
„Ich bin kein blöder Petzer!“, schrie der Kleine, und schiere Qual stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Nein, das bist du nicht“, beruhigte ich ihn. „Aber was ist los!“
„Das Labor brennt!“
„Das Labor?“, rief ich.
Alarmiert sprang ich aus dem Bett, verhedderte mich in der Decke, fiel auf die Knie und unterdrückte ein Aufstöhnen. Das fiel mir nicht schwer, denn ich musste ja sowieso schreien.
„Sag mir sofort von welchem Labor du sprichst?“
„Das Chemielabor in unserem Zimmer“, presste mein Söhnchen hervor.
Doch da war ich schon vorausgestürmt, griff ein Handtuch, riss die Kinderzimmertür auf, kämpfte mich durch seltsam wohlduftende Rauchschwaden und warf mich mutig dem kleinen Schwelbrand in der verschwundenen gläsernen Teekanne entgegen.

„Ich wollte doch ein großer Chemiker sein und Gold erfinden“, wisperte das Töchterchen, nachdem ich die Flamme ausgepustet hatte.
„Aus Salz, Oregano, Zitrone und Mehl?“, fragte ich.
Das süße Wesen nickte. Langsam beruhigten sich meine zitternden Beine.
„Ich habe das lange geplant“, murmelte die Kleine.
„Und ich wollte kein blöder Petzer sein“, sagte der Sohn von der Tür her.
Genau erkennen konnte ich ihn nicht, zu viele Rauchschwaden lagen zwischen uns.

Aber in einem sah ich klar. Das Thema Petzen war ein vielschichtiges. Darüber zu reden erforderte Kekse und heißen Tee. Zum Glück war die Kanne wieder da.

Sonntag, 28. Januar 2018

Die Mutter-Kolumne: Wer trödelt verpasst das halbe Leben. Echt jetzt?

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich?



„Der frühe Vogel fängt den dicksten Wurm!“, rief ich.
„Ihhhh! Würmer“, schallte es aus der Wohnung zurück.
Sonst passierte nichts.
Kein Wunder, das war ein denkbar unappetitlicher Spruch gewesen. Doch alles andere hatte ich schon versucht. Ich hatte geflötet, gelockt, gemahnt, erpresst und gedroht. In dieser Reihenfolge. Mindestens dreimal hintereinander.
Nun stand ich gesattelt und gespornt, besser gesagt, bejackt und beschuht, außerdem mit der Mülltüte und dem Altglas beladen – wir wohnen im Dachgeschoß, da will jeder Treppengang wohl durchdacht sein – seit einer Viertelstunde im Treppenhaus und schwitzte vor mich hin. Der Satz vor dem wurmlastigen war nämlich „Ich gehe jetzt los!“ gewesen. Vielleicht sollte ich das nun auch wirklich tun.
„Ich gehe jetzt los!“, rief ich zur Wohnungstür hinein.
„Das hast du schon gesagt“, antworteten mir zwei abwesende Stimmchen.

Wütend stapfte ich die Treppe hinunter.

Dabei hatte ich heute gar nicht raus gewollt, sondern gemütlich lesend den grauen Tag auf dem Sofa verbringen wollen. Es waren meine Kinder, die doch noch das Theaterstück sehen wollten.

Wütend knallte ich den Mülltonnendeckel zu.

Es war stets das Gleiche. Obwohl ich rechtzeitig zum Aufbruch blies, wohlweislich jedes Mal ein wenig früher, kamen die zwei nicht zu Potte und wir ständig völlig abgehetzt und ein wenig zu spät irgendwo an.

Wütend warf ich das Glas in den Container. 
Flasche für Flasche. Die kleine, gummibeschürzte Öffnung ließ nichts anderes zu.

Mir ist Pünktlichkeit wichtig. Ich beeile mich, wenn ich einen Termin oder eine Verabredung habe.

Für die weißen Flaschen gab es ein anderes Loch als für die grünen oder die braunen.

Meistens bin ich sogar zu früh und warte. Oft auch länger.

Ich lauschte dem Geräusch einer jeden Flasche nach. Zersprang sie in tausend Stücke oder blieb sie heil? Ich schloss innere Wetten ab.

Manchmal warte ich auch zu lang auf die anderen. Öfter sogar. Das ist eigentlich auch nicht schön.

Endlich kam meine kleine Schar angehüpft.
„Was habt ihr denn noch so lange gemacht?“, fragte ich.
Einiges, erfuhr ich. Die Zähne nach der neuen Anleitung – der Zahnarzt war gestern in der Schule – geputzt, das Arrangement verschiedener Fundsachen auf dem Schreibtisch neu sortiert, mit fünf blöden Socken gekämpft, etwas Verlorenes unterm Bett gefunden, drei Seiten im LTB angeschaut, dieses eine bestimmte Kleid gesucht und eine Kette dazu gefädelt, etwas Kleines gegessen, noch einmal auf dem Klo–
Der Glockenschlag der Kirchenuhr unterbrach die Aufzählungen.
„Auweia! Wir müssen uns beeilen!“, rief das Töchterchen, und die beiden flitzten los.
Erstaunt sah ich der Staubwolke dabei zu, wie sie sich langsam wieder legte. Es war also möglich. 

Da begriff ich etwas. Es ging im Leben meiner Rabaukelchen nicht ums Verplempern von Zeit, sondern schlicht um Prioritäten, die sie sich selbst setzten. Etwas, das ich nicht mehr so oft tun konnte, und viele in meinem Alter gar nicht mehr.
„Möge ihnen das noch sehr lange gelingen“, wünschte ich und rannte ihnen nach.

Dienstag, 16. Januar 2018

Die Mutter-Kolumne: Carpe Diem! – Aber was bedeutet das?

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich?


„Kapert die M.!“, rief das Söhnchen.
„Wer ist die M.?“, fragte seine Schwester.
„Weiß nicht. Hat die Lehrerin gesagt“, knurrte der Sproß.
„Unsere Nachbarin Frau Müller?“, fragte meine Tochter.
„Ihhh! Die will keiner kapern.“
„Vielleicht Malzbonbons“, sagte ich. „Kapert die Malzbonbons!“
„Was ist das denn?“, fragte mein Sohn.
„Wir können welche machen“, schlug ich vor.
„Au ja!“, riefen die Kinder und folgten mir in die Küche.

Die Malzbonbons schmeckten nicht wirklich, aber wir hatten eine Pfanne zerstört, uns alle etwas verbrannt, und wir hatten Mühe hineingesteckt. Also saßen wir auf dem Sofa und lutschten die bitteren Brocken.
„Die M. könnte ein Schiff sein“, überlegte meine Süße.
„Das Piratenschiff Die Mäusebraut“, sagte der Sohn kichernd.
„Das gefährlichste Schiff jenseits der Polargewässer“, meinte das Töchterchen. „Lasst sie uns mit den neuen Buntstiften malen.“
Die neuen Buntstifte waren prächtig, noch prächtiger war Die Mäusebraut, die mit ihrer Hilfe und vier kleinen Händen entstand. Es würde nicht einfach sein, sie zu kapern.

„Oder die M. sind die Murkelliesen“, überlegte die Schwester, nachdem wir das Werk an unsere Gemäldewand gehängt hatten. „Kapert die Murkelliesen.“
„Wer sind die Murkelliesen?“, wollte der Bruder wissen.
„Oh, die kenne ich“, begann ich raunend zu erzählen. Ich erzähle sehr gern Geschichten. Wir kuschelten uns wieder auf das Sofa. Obendrauf legten wir die gemütliche Decke. „Die Murkelliesen kommen nur in schwarzen Nächten aus dem Moor, greinend wabern sie die dunklen Straßen entlang. Murkelt uns, ihr Leute, rufen sie mit ihren schrecklichen Stimmen. Murkelt uns, denn uns ist so kalt im öden Moor.“
„Und dann?“, fragte das Söhnchen aufgeregt.
„Und dann–“, hob ich an.
„Und dann–“, unterbrach meine Tochter.
Flink übernahm sie die Geschichte der gekaperten, grausligen Murkelliesen. Es herrschte eine lustvolle Konkurrenz zwischen den familiären Bänkelsängern. Wir lutschten noch ein paar Malzbonbons.
„Die Leute haben Angst, dabei wollen die Murkelliesen nur eine Umarmung. Aber wenn man eine Murkelliese berührt, wird man ganz nass und kalt und auch ein bisschen schleimig.“
„Brrr“, machte mein Sohn und schüttelte sich wohlig.

Am Ende der Geschichte, war auch der Nachmittag zu Ende. Wir hatten alles verpasst. Ballett und Hapkido, die Hausis waren nicht gemacht und das Abendbrot hatte ich nicht zubereitet. Dabei sollte es doch einen besonderen Getreideauflauf geben. Einen den ich nicht ganz so schlimm fand und der äußerst gesund zu sein schien.
„Wir haben nicht die M. gekapert“, stellte das Söhnchen fest. „Wenn man die M. kapert wird man klug und schön und ein guter Mensch. Man nutzt den Tag.“
„Auweia, wir haben ja nicht mal Ballet und Hausis gemacht und nur Bonbons gegessen“, sagte die Schwester.
„Hat aber mehr Spaß gemacht, als eine blöde M. zu kapern, oder?“, meinte der Bruder, und die beiden grinsten sich an.

Ich lächelte vor mich hin. Carpe Diem heißt Genieße den Tag, nicht Nutze den Tag. Ob man davon klug, schön und gut wird, weiß ich nicht. Aber wir waren glücklich.

Donnerstag, 7. Dezember 2017

Die Mutterkolumne: Adventszeit und Besinnlichkeit – Ha! Von wegen!

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas versuche ich
auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen oder sagen das, aber wieso eigentlich?



Wir sangen. 
O, du fröhliche, O, du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit.
„Was heißt das?“, fragte mein Sohn.
„Dass die Weihnachtszeit besinnlich und voll Spaß ist, und dass sie uns Gaben bringt“, krähte das Töchterchen.
„Also eigentlich–“
„Wir kriegen Plätzchen und Schokolade, Vorlesegeschichten und Weihnachtsmarkt, Kerzen und Marshmallows, wir basteln und singen mit Mama“, zählte meine Süße auf.
„O, basteln auch?“, murmelte mein Söhnchen. Doch dann hellte sich sein Gesicht auf. „Das wird schön.“
Seine Schwester nickte begeistert. Ich versuchte, meine Beklommenheit weg zu atmen. Denn es ist nicht leicht mit dieser besinnlich fröhlichen Weihnachtszeit. Wenn man sich dafür nicht einen festen Plan macht, ist sie plötzlich vorbei und man selbst liegt erschöpft und drei Kilo schwerer in einer Sofaecke. Ich persönlich bin eher in den Tagen zwischen den Jahren besinnlich.

Dieses Mal sollte es anders sein.
„Sind wir heute besinnlich?“, fragte mein Sohn morgens.
An den geöffneten Klappen seines Adventskalenders sah er genau, dass es langsam knapp wurde. Bis zum 16. Türchen war nicht recht Muße für die Gaben dieser besonderen Zeit gewesen.
„Aber heute“, bestimmte darum das Töchterchen.
„Ja“, sagte ich. „Heute.“
Wir wollten Weihnachtslieder hören, Plätzchen backen, süßen Kakao trinken und Geschichten erzählen. Mit strahlenden Augen standen Bruder und Schwester in der Küche.
Und dann ging alles schief.

Zuerst fielen die Tütchen mit den bunten Zuckerperlen runter.
„Nicht schlimm!“, riefen meine Kinder von unterm Küchenschrank hervor, wo sie die Hunderte winzigen Perlen wieder aufsammelten. Sie brachten auch andere Sachen von dort unten mit. Zwei davon gingen sogar als Gaben durch. Der Rest war eher eklig.
Ich hatte die Eier vergessen. Doch meine beiden rannten die Stufen zum netten Nachbarn hinunter. Der war ob der dreckigen Pullis der Kinder etwas erschrocken, hatte aber noch Eier übrig. Er kam gleich auf einen Kaffee mit hoch. Vielleicht dachte er, wir bräuchten Hilfe bei irgendetwas.
Mit Eifer stachen wir Pinguine, Herzen und Elche aus. Dabei sangen wir Piratenlieder, weil der Nachbar nichts anderes kannte.
Stolz blickten meine Kinder, der Nachbar und ich auf die ausgestochenen Teiglinge. Beim Hineinschieben in den heißen Ofen verbrannte ich mir dann den Handrücken. Der Nachbar revanchierte sich für den Kaffee mit Brandsalbe und einem Verband. Das schaffte er in sieben Minuten und zur beinahe vorgeschriebenen Zeit holten wir das Blech aus dem Ofen. Darauf lag eine blechgroße Keksplatte, die war an den Rändern etwas schwarz. Mir schossen Tränen in die Augen.
„Ein Monsterkeks!“, jubelten jedoch meine Kinder.

Wir waren gerade dabei, den Monsterkeks mit allem, was die süße Schublade hergab, zu verzieren, als es klingelte. Die Nachbarin suchte ihren Mann.
„Jetzt schimpft sie ihn aus“, erklärte mein Töchterchen.
„Weil er Spaß mit uns hatte und nicht mit ihr“, bekräftigte mein Sohn.
„Spaß?“, fragte ich matt.
Die beiden nickten.
„Weihnachtszeit ist supertoll, Mama! Und wir haben noch sieben Tage übrig.“

Samstag, 18. November 2017

Die Mutterkolumne – Vergebung ist die beste Rache – Wirklich?

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas versuche ich
auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen oder sagen das, aber wieso eigentlich?



„Das wird er büßen!“, rief mein Sohn.
Ich starrte ihn an. Dass er dieses Wort kennt, dachte ich stolz. Dann wurde mir klar, was er da sagte.
„Wer wird was büßen, mein Schatz?“, fragte ich.
„Tim! Er hat mich angelogen. Er hat gar kein echtes Laserschwert hinterm Schrank. Ich habe ihm jeden Tag meinen Nachtisch gegeben, damit er es mir zeigt. Aber er hat gar keins! Das gibt Rache!“
„Wer sich rächt, hat ein kleines Herz“, sagte ich.
Ich wusste, dass er stolz auf sein großes Herz war. So eines hatte ihm der Kindergärtner bescheinigt. Weil er jemandem beim Tischdienst geholfen hatte. Ich glaube, das war Tim. Tim mit dem Laserschwert. Mhm.
„Rache ist süß. Viel süßer als der Nachtisch im Kindergarten“, knurrte mein Söhnchen noch immer fuchsteufelswild.
„Rache ist Blutwurst“, erwiderte ich.
„Ihhh, Blutwurst“, machte der Kleine und verzog das Gesicht. „Blutwurst will ich nicht.“ Dann blickte er mich aus großen Augen an. „Aber ich bin so sauer. Tim hat mich belogen und betrogen. Und beim Tischdienst habe ich ihm auch geholfen.“
„Du hast trotzdem ein sehr großes Herz“, rutschte es mir heraus.
„Das weiß ich doch“, sagte mein Kind verwundert.
„Wenn man seinen Ärger runterschluckt, kriegt man Schluckauf“, mischte sich das Töchterchen ein. „Man darf sich nicht alles einfach so gefallen lassen.“
„Genau!“, kam es grimmig vom kleinen Bruder.
Ich musste zugeben, dass das so in etwa stimmte. Sich etwas schweigend gefallen zu lassen, ist nicht der richtige Weg. Blinde Rache aber auch nicht. Worte wie Vergeltung, Befriedigung, Gerechtigkeit und Verzeihen kamen mir in den Sinn. Ein großes Thema, das so mancher Erwachsene noch nicht versteht.
„Wenn du dich an Tim rächst, dann rächt er sich wieder an dir und du dich wieder an ihm und so weiter und so weiter. Dann habt ihr keine Zeit mehr, Freunde zu sein“, sagte ich.
„Das stimmt“, bestätigte die Große. „Das wär blöd.“
Der Kleine nickte. „Aber ich will auch keinen Schluckauf kriegen.“
„Ich hab´s! Du nimmst Rache in Gedanken“, rief meine Tochter. „Du denkst dir einfach aus, wie du dich an Tim rächst. Machen musst du es ja nicht.“ Ein strahlendes Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. „Du kannst ihn an den Ohren an die Wäscheleine hängen.“
„Au ja!“, jubelte mein Söhnchen.
„Und dann ziehst du ihm die Hose runter“, steigerte sich die große Schwester in rächende Fantasien.
„Wie peinlich“, juchzte ihr Brüderlein.
„Und dann erzählst du allen im Kindergarten, dass es hinten bei der Wäscheleine etwas Spannendes zu gucken gibt“, begeisterte sich meine geliebte Tochter immer mehr.
„Hihi“, freute sich mein nicht minder geliebter Sohn.
Ich wusste für einen Moment nicht genau, ob ich mir ernsthafte Gedanken machen sollte oder mich einfach am Einfallsreichtum meines Kindes erfreuen durfte.
„Ich weiß was!“, rief mein Sohn. „Ich ersteche Tim mit seinem Laserschwert.“
„Ich dachte, das gibt’s gar nicht“, meinte die Süße.
Mein Kleiner mit dem großen Herzen nickte heftig und grinste über beide Backen. „Gut, ne?“

Mittwoch, 18. Oktober 2017

Die Mutterkolumne – Morgen tut es nicht mehr weh, oder: Das Recht auf Schmerz und Traurigkeit

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas versuche ich auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen oder sagen das, aber wieso eigentlich?



„Omi sagt, wenn du heiratest tut es nicht mehr weh“, tröstete das Töchterchen.
Empört blickte ihr Bruder mit tränenverhangenen Augen zu ihr auf. „Das dauert ja noch hundert Jahre! Und was ist, wenn ich keine Frau finde? Außerdem weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt heiraten will.“
Dann stiefelte er davon, hinein in seine kleine Schmollecke. Dabei hielt er sich den Arm, den er sich an der Tür gestoßen hatte. Warum er allerdings auch humpeln musste, war mir entgangen.

Ich beobachtete heimlich das kleine Kerlchen in seinem Eckchen. Es warf mal schmerzverzehrte, mal wütende Blicke durch den Raum. Hin und wieder pustete es auf seinen Arm. Zwei weitere Trostversuche – Gummibärchen und etwas zusammen spielen – lehnte es ab.

Schließlich setzte ich mich zu ihm. „Tut der Arm noch dolle weh?“, fragte ich.
Er schüttelte erst den Kopf, um dann ganz schnell und sehr heftig zu nicken.
„Man kann da gar nichts machen? Niemand? Keine Schwester und auch keine Mama?“
„Nein. Es tut dolle, dolle weh. Und niemand kann was machen.“
„Könnte ein kleines Eis helfen?“
„Ein kleines Eis?“, flüsterte er empört.
„Vielleicht ein großes?“
„Mama, ich weiß, dass du es nicht magst, wenn mir was weh tut. Aber manchmal kann ein Eis nicht so groß sein wie das Aua.“
„Oh, mein armer Schatz, so sehr schmerzt dein Bein?“
Mein Kleiner nickte.
„Oder war es der Arm?“, fragte ich nach.
„Der auch. Und mein Bauch. Ich will jetzt auch gerne alleine sein. Mindestens fünf Minuten“, sagte mein geliebter Sohn.

Ich ging in die Küche und legte die Zutaten für den Familienlieblingskuchen bereit.
„Weißt du Mama, wenn das Bein, der Arm und der Bauch weh tun, weil man sich ein bisschen an der Tür gestoßen hat, dann ist es eigentlich das Herz“, sagte mein Töchterchen und schlug ein Ei in die Rührschüssel. „Und dann helfen auch kein Eis und keine Gummibärchen.“
„Weißt du, warum sein Herz weh tut?“, fragte ich mein weise Kleine.
„Ich glaube, er hat sich sehr dolle mit seinem Freund Tim gestritten, und Tim hat gemeine Sachen zu ihm gesagt.“
Ich nickte. „Das ist wirklich sehr schlimm.“
„Und darum muss jetzt eine Weile sein Arm weh tun, bis es wieder gut ist.“
Ich nickte wieder. Aus dem Schmolleckchen drang ein leises Weinen. Mein Herz tat mir nun auch furchtbar weh. Ich zwang mich, das Mehl zu sieben.
„Ganz manchmal will man dann auch keine Mama, sondern einfach ein bisschen weinen“, sagte meine Tochter und legte ihre kleinen butterverschmierten Finger zum Trost auf meine Hand.
„Verstehe“, murmelte ich.

Wir schoben den Kuchen in den Ofen, schnappten uns jeder eine entsprechende Zeitschrift, setzten uns auf das Sofa neben der Schmollecke, taten so als würden wir die Zeitschriften anschauen, und warteten.
„Was riecht hier so lecker?“, ertönte es endlich aus dem Eckchen. „Etwa Familienlieblingskuchen? Sind fünf Minuten schon um?“
Da machte mein Mutterherz einen freudig erleichterten Hüpfer.

Samstag, 9. September 2017

Die Mutter-Kolumne – Nimm dich nicht so wichtig! Wie falsch dieser Satz wirklich ist.

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas versuche ich auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen oder sagen das, aber wieso eigentlich?


„Nimm dich nicht so wichtig!“
Der Satz war mir herausgerutscht. In einem schwierigen Moment, der mehr Synapsen erfordert hatte, als gerade frei waren. Müde war ich auch und darum war mir ein Bedürfnis meiner Tochter wie Quengelei erschienen. Kurzschluss. Übersprungshandlung. Nur Sekundenbruchteile danach das Bedauern darüber, was ich soeben gesagt hatte.
Das Töchterchen starrte mich mit großen Augen an. „Ich dachte, wir sind das Wichtigste, das du hast“, sagte sie.
„Natürlich seid ihr das, meine Süße.“ 
Ich riss sie in meine Arme. 
„Ich habe es nicht so gemeint.“
„Also, stimmt es nicht?“, fragte die Kleine. „Ich darf mich wichtig nehmen?“
„Natürlich, mein Schatz.“
„Weil ich wichtig bin?“
„Ganz genau so ist es. Du bist wichtig, und du sollst dich wichtig nehmen.“
Sie nickte. 
„Das ist sehr gut, Mama“, sagte sie mit Nachdruck. „Dann hast du nämlich auch etwas großes Wichtiges im Leben. Weil du ja keine Zeit hast, für dich selber wichtig zu sein.“

Fassungslos schaute ich ihr nach, wie sie mit flatternden Zöpfchen davonhüpfte.
Hatte sie meinen herausgerutschten Satz etwa nur darauf bezogen, dass mein Wichtigstes ziemlich klein wäre, wenn sie sich selbst nicht wichtig nehmen würde? Ging es ihr um mich und mein Wohlergehen? Machten ihr meine Worte persönlich gar nichts aus? Stand sie darüber, weil sie vielleicht fühlte und so auch wusste, dass sie wichtig ist?
Und dann war da noch dieser andere Satz. Was lebte ich meinen Kindern eigentlich vor, wenn ich mir niemals Zeit für mich nahm, meine Bedürfnisse immer hintenanstellte und mich mit schiefem Lächeln quasi aufopferte?
Um Himmels willen, war meine Tochter etwa eine große Philosophin mit einem sehr tiefen Verständnis für die Dinge des Lebens?
Darüber musste ich erst einmal nachdenken.

Ich ließ die Wäsche vor der Maschine liegen, schob den Staubsauger aus dem Weg und schnippte gegen den Stapel gräulicher Briefumschläge mit unserer Adresse darauf, so dass er hinter die Kommode rutschte. In der Küche schloss ich am Spülbecken kurz die Augen, schaltete den Herd mit dem kochenden Nudelwasser aus und mixte mir eine Bananenmilch. Auf dem Weg zum Balkon ließ ich das Telefon klingeln, die Türglocke schellen und fuhr den Rechner mit der offenen Word-Datei herunter.
Ich machte es mir im Liegestuhl gemütlich. Schön war es auf dem Balkon. Obwohl ich dringend– psst! Schön war es hier. Obwohl ich gar nicht dazu gekommen war– psst! Schön war es.
Späte Hummeln summten um die letzten Sommerblüten, irgendwo jubilierte ein engagiertes Amselmännchen, Lachen drang aus dem Kinderzimmer, ein lauer Wind streichelte mein Gesicht, und am blauen Himmel gaben sich weiße Wattewolken Mühe, irgend etwas anderes zu sein.
Ich ließ meine Beine und die Seele baumeln.

„Mama!“, krähte das Söhnchen.
„Psst!“, machte meine Tochter. „Mama sitzt mit Bananenmilch auf dem Balkon.“
„Ich will auch Bananenmilch!“, forderte der kleine Bruder.
„Das geht jetzt nicht“, erklärte mein Töchterchen. „Mama nimmt sich gerade wichtig.“
Beseelt schloss ich die Augen.
Später würde ich der großen Kleinen mal zeigen, wie man mit dem Mixer umgeht.

Freitag, 18. August 2017

Die Mutter-Kolumne – Dafür bist du noch zu klein

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wieso eigentlich?


Wir balancierten und kletterten über schmale Stege, Stämme und Felsen. Das Töchterchen vorne weg und sicher im Tritt, ich hinterdrein, wackelnd und unsicher. Gemeinsam unterwegs auf einem Nicht-den-Boden-berühren-Pfad.
„Warte doch mal! Ich kann das nicht so gut“, rief ich.
„Klar, weil du schon groß bist“, rief sie über die Schulter zurück. „Große können so was nicht.“
Ich glaubte, ein wenig Triumph in ihrer Stimme zu hören, dann war sie um die nächste Ecke gebogen.
„Mama, mach mal Platz!“, kam es von hinten.
Das Söhnchen drängelte an mir vorbei. Ich verlor die Balance und musste einen verbotenen Schritt auf den Boden setzen.
„Das habe ich gesehen“, jubelte es vor mir.

Am Ende des halbstündigen Weges warteten sie auf mich. Sehnsucht im Gesicht. Aber nicht meinetwegen. Neben ihnen bot ein Eisstand seine süßen Waren an.
„Du warst echt eine lahme Ente“, krähte mir mein frecher Sproß entgegen.
„Pst!“, machte seine Schwester. „Wir wollen doch ein Eis.“
„Immer müssen wir fragen“, grummelte mein Sohn. „Immer hat Mama das Geld und darf bestimmen. Dabei weiß ich doch viel besser, ob ich ein Eis brauche oder nicht. Ist doch mein Bauch.“
„Wir sind eben noch Kinder“, sagte meine kluge Tochter.
Ich lächelte sie an und stellte mich hinter die drei Wartenden am Eiswagen.
„Kinder dürfen nämlich nicht selbst bestimmen. Das ist sehr gemein“, hörte ich da mein größeres Kind dem kleineren erklären.
„Aber warum ist das so, wenn es gemein ist?“, fragte das.
Unauffällig drehte ich mich um.
Das bezopfte Wesen zuckte gerade die Schultern. „Wahrscheinlich haben die Erwachsenen ein bisschen Angst vor uns Kindern.“
„Warum?“, wollte mein Sohn wissen.
„Na, weil wir klüger sind. Mama hat sich heute dreimal verfahren. Ich wusste den Weg hierher noch ganz genau.“
Der Kleine nickte. „Ich auch.“
„Balancieren und klettern kann sie auch nicht so gut“, fuhr mein geliebtes Töchterchen fort.
„Stimmt“, freute sich mein Sohn.
„Dreimal je Erdbeer und Vanille“, bestellte ich mit angespannter Stimme.

Wir saßen und schleckten unser Eis. Unauffällig betrachtete ich meine beiden. Sie wirkten völlig unschuldig und mir wollte einfach nichts Kluges zumThema einfallen. Andererseits hatten sie mich ja auch gar nichts gefragt.
Die Sonne schien. Das Eis schmolz schneller, als die Kinderzungen lecken konnten.
„Mama, ich muss Hände waschen“, krähte das Söhnchen.
Ich deutete zum Klohäuschen. „Kannst du dort machen.“
„Ich will nicht alleine“, jammerte das Kerlchen los. „Du musst mit.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, mein Schatz. Das schaffst du schon. Wer sechs Jahre alt ist, kann allein seine Hände waschen gehen.“
„Sonst bin ich immer zu klein“, meckerte er.
„Ich komme mit“, sagte seine Schwester.
Gemeinsam liefen sie zum Häuschen.
„Wann war eigentlich die Zeit zwischen dafür bist du noch zu klein und das kannst du allein, du bist doch schon so alt?“, hörte ich mein Söhnchen seine drei Jahre ältere Schwester fragen.
„Daran kann ich mich nicht erinnern“, antwortete diese. „Die war, glaube ich, niemals.“
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Samstag, 17. Juni 2017

Die Mutter-Kolumne – Verwöhnen tut nicht gut! Wer sagt das denn?

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wieso eigentlich.



Wir hatten nie viel Geld. Aber es gab ja Kinderflohmärkte. Von denen schleppte ich Beutel voller Bücher, CDs, Comics, kleine Spielwelten, Püppchen, Plastikroboter, Legofiguren und Ähnliches ins Zuhause. Erstens bin ich eine Schatzsucherin und zweitens, und noch viel wichtiger, gab es nichts Schöneres, als meinen Kindern eine Freude zu machen.

„Omi sagt, du verwöhnst uns“, meinte das Töchterchen eines Tages.
„Und Opo sagt das auch“, krähte das Söhnchen hinterdrein.
„Wenn Kinder zu sehr verwöhnt werden, dann können sie keine guten Menschen sein. Sie wissen nichts von wertvollen Dingen und verschwenden alles“, ergänzte das niedlich bezopfte Wesen der Kinderschar.
Mein Sohn nickte gewichtig dazu.
Himmel, wenn einem schon die eigenen Kinder sagen, dass man sie zu sehr verwöhnt, dann muss da viel Wahres dran sein. Ich selbst war auch schon etwas unsicher geworden.
Gedankenverloren stieg ich mehrfach über die Schlange aus Playmobilszenerien, Cowboy-Forts, Polly Pocket Häuschen und Legoaufbauten, die sich meterlang durch unsere Wohnung wand. Die Kinder hatten sie tagelang in versunkener Lust aneinandergereiht, glücklich über jede Station und jedes einzelne Figürchen, das sie hinzufügen konnten. Seitdem bespielten sie sie, sobald sie nach Hause kamen. Nun schien diese Spielzeugschlange der anklagende Beweis für mein pädagogisches Fehlverhalten zu sein.

Seufzend strich ich die nächsten Flohmarkttermine aus meinem Kalender. Dann leerte ich die Belohnungskiste. Dabei hatte ich die als eine ganz besonders clevere Möglichkeit des Schenkens eingeführt. Meine Lieben durften sich nämlich jedes Mal etwas herausnehmen, wenn sie etwas gut gemacht hatten. Okay, manchmal auch, wenn sie einfach etwas gemacht hatten. Ihr Zimmer aufgeräumt, zum Beispiel, oder wenigstens die dreckigen Socken neben die Waschmaschine gelegt hatten. Also gut, einen Socken.
Eigentlich wusste ich ziemlich genau, was meine Eltern meinten.

Meine Kinder allerdings nicht. Nur wenige Tage später erlauschte ich zufällig das Gespräch im gemeinsamen Bade.
„Die Belohnungskiste ist ganz leer“, raunte das Söhnchen.
„Ja, das habe ich gesehen“, meinte das Töchterchen.
„Jetzt müssen wir nicht mehr Zimmer aufräumen, wenn wir ein kleines Geschenk wollen“, hoffte mein Sohn.
„Nee. Das kann nicht sein. Ich glaube, wir kriegen keine kleinen Geschenke mehr“, vermutete meine Tochter. „Wir hätten Mama nicht das mit dem Verwöhnen sagen dürfen.“
„So was Doofes“, schimpfte das Söhnchen.
„Wir hätten lieber das andere erzählen sollen, was Omi auch gesagt hat“, überlegte das Töchterchen.
„Du meinst das mit dem Kea... Kreta... Du weißt schon, was ich meine“, fauchte das Söhnchen, wütend über den doppelten Unbill, erst sich die Geschenke vermasselt zu haben und dann das rettende Wort nicht aussprechen zu können.
„Mhm“, machte das Töchterchen. „Dass wir beide so dolle kreativ sind und immer so schön miteinander spielen.“

Mehr musste ich nicht hören. Voller Glück und Liebe hüpfte ich über die Windungen der Spielzeugschlange ins Wohnzimmer und füllte die Belohnungskiste bis zum Rand.

Sonntag, 28. Mai 2017

Alltagsgeschichten #1 – Im Waldsee darf man nicht wellenreiten

„Surfen ist hier nicht erlaubt“, erklärt mir der Junge in der orangenen DLRG-Uniform.
Warum das unfassbar absurd ist, bedarf einer genaueren Ortsanalyse.
Da der Sommerurlaub näher rückt, wollten wir die dafür benötigten Muskelpartien trainieren, und hatten unsere Surfbretter an den Waldsee gekarrt. Die Idee war, mehrmals quer über den See zu paddeln. Zweimal war mir das gelungen. Nun steht also dieser Junge mit seiner zitternden Unterlippe und den unsteten Augen vor mir. Ich beschließe, ihn trotzdem zu siezen.
„Surfen?“, frage ich verblüfft.
Er deutet auf mein Wellenreit-Brett.
„Ach, Sie meinen meine Schwimmhilfe?“, frage ich leider nicht, weil mir so etwas immer erst hinterher einfällt.
„Das da geht nicht“, sagt er.
„Sie haben aber schon gesehen, dass es hier im Waldsee keine Welle gibt, die man surfen kann, und dass das da ...“, ich deute ebenfalls auf mein Board, „... kein Windsurfbrett ist, denn die haben ja Segel und sind auch viel größer.“
„Es steht auf dem Schild. Das darf man nicht“, wiederholt er.
Ich mag diesen See eigentlich nicht. Er ist belagert von grölenden Jugendlichen und anderen Menschen, die gerne laut sind und dabei auch nicht gut aussehen. Jeder mit eigener plärrender Musik, überall rauchende Grills und kleine Feuerchen. Auf dem Weg ins Wasser muss man achtgeben, nicht in zerbrochene Bierflaschen oder Kronkorken zu treten. Über das Wasser jagen sie sich mit riesigen Lufttieren und Matratzen. Schräg gegenüber sitzen die Angler. Als ich ankam hatten sie gerade wieder einmal den großen, uralten Karpfen an der vernarbten Unterlippe an Land gezerrt. Für das hundertste Karpfen-Selfie. Armer Kerl. Doch was soll er tun? Er ist eben ein Fisch und lernt nichts aus seinen Erfahrungen.
„Warum nicht?“, frage ich.
„Es steht auf dem Schild“, zittert der Junge heraus.
Ich schaue ihn nur an. Er guckt beinahe panisch überallhin, nur nicht zu mir.
„Vielleicht weil es gefährlich ist?“, fragt er mich dann.
Wir blicken über den See. Am schmutzigen Badestrand brüllen und tunken sie sich bis kurz vor knapp. Auf unserer Paddelstrecke ganz am Rand ist keine Menschenseele. Allerdings schaukelt dort eine einsame Ente.
„Mhm“, mache ich. „Für die Ente?“, sage ich allerdings wieder nicht.
Irgendwie tut er mir leid. Noch kann ich nicht glauben, dass das hier ernst sein soll. Schon immer sind wir hier gepaddelt. Da war das Kerlchen noch nicht mal geboren.
„Ist das nicht ein öffentliches Gewässer?“, frage ich. „Vielleicht gilt das nur für den Badebereich?“ Das wäre kein Problem. Von dem sind wir sehr weit entfernt.
„Es steht auf dem Schild.“
Ich habe Sorge, dass er gleich zu weinen beginnt.
„Kann ich dieses Schild mal sehen?“
Wir laufen durch herumliegende Flaschen, Dosen, Tüten , Feuerstelln und Lumpen zur Regeltafel. Dort steht etwas von Freizeitgelände, Selbstverantwortlichkeit und zeitweiliger Betreuung durch den DLRG.
„Da steht es“, sagt er und deutet auf einen der Sätze.
„Feuermachen verboten“, lese ich laut.
„Dann da“, flüstert er und zeigt auf einen anderen Satz.
„Müll ist zu vermeiden“, lese ich wieder laut. „Aber vielleicht meinen Sie diesen Satz hier“, helfe ich ihm, „motorbetriebene Boote, Segeln und Surfen sind nicht erlaubt.“
„Ja, genau“, atmet er erleichtert auf.
„Sie wissen aber schon, dass die Windsurfen meinen?“, frage ich ihn.
„Jedes Surfen“, beharrt er.
Inzwischen bin ich doch etwas fassungslos, erkläre es ihm aber trotzdem. „Man könnte hier nur Windsurfen. Zum Wellenreiten braucht man Wellen. Das hier ist ein Waldsee.“
„Es steht auf dem Schild.“
Der Chef des Dreimann-DLRG-Teams beobachtet uns grimmig. Er ist beinahe zahnlos, voller schlechter Tätowierungen, Bierwampe. Ich bin mir etwas unsicher, ob in Seenot geratene Nichtschwimmer hier tatsächlich gerettet werden würden. Leider bin ich mir aber sehr sicher, dass er, hier quasi auf letzter Station mit Macht in seinem Leben, auf keinen Fall vernünftigen Argumenten lauschen würde. Vielleicht hat er auch selbst längst begriffen, dass auf dem Schild nichts davon steht, dass wir uns irgendwie verboten verhalten hatten. Aber das würde er niemals zugeben. Er musste sein orangefarbenes Shirt, seine Ehre und Männlichkeit verteidigen. Vielleicht auch ein bisschen den IQ seiner Truppe. Obwohl ich bezweifle, dass er so weit dachte.
Ich wende mich trotzdem an den ihn, trage vor, was Sache ist.
„Ist verboten“, knurrt er.
„Woher weiß man das?“, frage ich.
„Es steht nicht auf dem Schild.“
Er starrt einem Mädchen im Bikini nach. Leckt sich über die Lippen. Mir wird ein bisschen schlecht.
„Feststoff“, kräht hinter mir der dritte und wippt mit stolzgeschwellter Brust auf und ab. „Alles aus Holz ist verboten.“
„Holz?“, entschlüpft es mir.
Ich hätte sehr gerne ein echtes, altes Board aus hawaiianischen Holz, besitze aber eines aus Resin mit Schaumstoffkern. Meine Tochter paddelte auf ihrer modernen Epoxi-Planke. Beide Bretter hatte ich zuvor einen Kilometer durch den Wald getragen. Eins rechts unterm Arm, eins links. Nur mal so, wegen der Feststoffe.
Ich weiß längst, dass hier nichts mehr hilft. Keine Nachhilfe in Lesen und in das Gelesene Verstehen. Da stehen drei Männer, die stolz ihren Dienst tun. Fertig.
Ich drehe um. Schlängele mich zurück, durch die Massen, die alle Regeln brechen, aber das auf eine sehr verständliche Art und Weise. Ein Surfboard ist wohl einfach zu obskur.
Hilfe, in was für einer Welt leben wir eigentlich, denke ich und hüpfe auf einem Bein weiter, weil ich in eine noch brennende Zigarette getreten war. Na, zum Glück ist die nun aus. Waldbrandgefahr und so. Aber egal.


Freitag, 19. Mai 2017

Die Mutter-Kolumne – Versprechen muss man halten. Ach, ja?

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wieso eigentlich.


„Das könnten wir doch vielleicht irgendwann mal machen, oder?“, hatte ich gesagt und auf die schönste Seite des Abenteuer-Kochbuchs gedeutet, das wir gerade gemeinsam anschauten. Camping an einem Flüsschen, Angeln, Wiesenkräuter sammeln, Feuerstelle und köstliche, auf einem Stock gegrillte Fische. Ein richtiger Abenteuertraum.
„Au ja!“, hatten die Kinder gerufen. Beide. Obwohl mein Sohn gar keinen Fisch mag.

Dann passierte das Leben. Es spülte uns leider den ganzen Sommer lang an kein Flüsschen. Eine Angel entdeckte ich auch nirgendwo. Und das Buch fiel mir nicht wieder in die Hände.

Im Herbst saß die Kinderschar, derer zwei plus einiger sie begleitende Kuscheltiere, vor mir auf dem Sofa und schaute mich mit vorwurfsvoll aufgerissenen Augen an. Alle, auch die Kuscheltiere. Auf dem Teppich daneben, halb unter das Sofa gerutscht, lag das Abenteuerkochbuch. Es wirkte wie ein Verräter.
„Du hast uns das da versprochen“, sprach das Töchterchen und tippte mit der Fußspitze dagegen.
„Was man verspricht, muss man auch halten“, krähte das Söhnchen.
Die anderen nickten. Alle.
„Aber ich hatte doch vielleicht gesagt, es war kein richtiges Versprechen“, verteidigte ich mich.
Das ließ die Schar nicht gelten. „Versprochen ist versprochen“, hieß es. Das hatte ich ihnen genauso beigebracht.

Daraus lernte ich. Nie wieder wollte ich etwas versprechen, das ich nicht halten konnte. Nicht einmal Möglichkeiten andeuten, die man als Versprechen missdeuten konnte. Ich begann, grundsätzlich Konditionalsätze zu vermeiden. Sicher war sicher.

Im Gegensatz dazu mehrten sich mit den Jahren die Versprechen der Kinder. Zu Beginn merkte ich es noch gar nicht. Vor allem nicht, dass diese Versprechen gar nicht erfüllt wurden. Ich glaubte ihnen, wenn sie sagten: „Das Zimmer räume ich später auf. Versprochen.“ Oder: „Ich komme gleich.“
Erst nach und nach begriff ich die Bedeutungen von gleich, später und sofort. Die waren: vielleicht, irgendwann oder auch niemals.
Waren das dieselben beiden Personen, die einst so darauf bestanden hatten, dass man ein Versprechen, auch wenn man es nur sehr wage formuliert hatte, einhalten musste? Die mich mit vorwurfsvollen Augen bestraft und ihre Kuscheltiere auf mich gehetzt hatten?
„Was ist denn nun mit versprochen ist versprochen?“, fragte ich.
„Ach, Mamilein, nimm doch nicht immer alles so ernst“, sagte mein Sohn.
Mamilein war ich immer dann, wenn sich auf liebevolle Art und Weise aus der Kinderriege ein wenig über mich lustig gemacht wurde. Hinzu kam noch ein beinahe joviales Schulterklopfen.
„Ja, und was ist jetzt damit?“, fragte ich und deutete mal ganz unbestimmt auf das uns umgebende Chaos im Kinderzimmer.
„Das räume ich später auf“, sagte mein Kind und schlüpfte in seine Jacke. „Jetzt muss ich erst mal ganz dringend weg.“
„Aber –“, begann ich.
„Versprochen, Mamilein“, sagte der Sohn, gab mir noch einen Kuss und war verschwunden.

Dienstag, 9. Mai 2017

Die Mutter-Kolumne – Die schicke, blöde Hose

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wieso eigentlich.


Ganz hinten im Schrank meines Sohnes hingen zwei Bügel. Auf dem einen ein Hemd mit Kragen, auf dem anderen eine helle Hose ohne Löcher. Die gute Hose. Ein Outfit für einen besonderen Tag. 
Ich gebe es zu, die Sachen hatte ich ungefragt gekauft. Sie sahen im Katalog so niedlich aus. Außerdem: Jedes Kind braucht doch zwei, drei ordentliche Kleidungsstücke, oder? Es gibt im Leben Momente, da geziemt sich eine nett anzuschauende Optik.

„Die Sachen sehen doof aus“, knurrte jedoch mein Söhnchen, wenn ich darauf zeigte. Zum Beispiel vorm Familienosterbrunch oder an Heiligabend. „Ich denke, wir sollen uns schön machen. Dann kann ich doch nicht so was Doofes anziehen.“
Er hatte eben ein ganz eigenes Bild von schön machen. Die abgewetzte Cordhose zum Beispiel, die war schön. Denn sie war super bequem und wunderbar weich. Oder der Pulli mit dem Hai. Der war zwar schon ein bisschen sehr kurz an den Ärmeln und sein Bäuchlein blitzte darunter hervor. Trotzdem. Der Haipulli war schön. Darum trug mein Kind ihn auch jeden Tag. Sollte ich zusehen, wie ich mit dem Waschen hinterher kam. Seinetwegen musste der auch gar nicht so oft gewaschen werden.

„Omi fände es schön, wenn du zu ihrem Geburtstag deine gute Hose und den Pullunder tragen würdest“, sagte ich einmal.
Er schaute mich skeptisch an.
„Ganz genau“, krähte das Töchterchen. „Sie freut sich bestimmt auch, dass ich mich so schön gemacht habe.“
Ich betrachtete etwas beklommen die Frosch-Gummistiefel an ihren Füßen, das türkisfarbene Satinnachthemd darüber, das sie mich gezwungen hatte, auf einem Flohmarkt einer alten Dame abzukaufen. Hochgeschürzt von einem ollen Ledergürtel aus der Verkleidungskiste. Darüber ein strahlendes Lächeln.
Ich gab ihr einen Kuss. „Bestimmt wird sich Omi sehr darüber freuen.“
„Ich bin ja auch keine Prinzessin“, knurrte das Söhnchen.
Dabei warf er einen neidvollen Blick auf den glänzenden Fetzen am Leib seiner Schwester.

„Einmal ziehst du die guten Sachen für mich an, ja?“, fragte ich ein anderes Mal.
Das Söhnchen schlüpfte mit angewiderter Mine und großem Geziere vor einem Theaterbesuch in eben jene Sachen. Ich machte schnell ein Foto. Dann lief ich schon mal vor. Jacke und Schuhe anzuziehen ging bei meinen beiden schneller, wenn ich nicht in der Nähe war.
In der Theatergarderobe musste ich dann herzhaft lachen, als unter der Jacke der Haipulli auftauchte.

Die Zeit arbeitete für ihn. Mein Sohn entwuchs dem schicken Outfit, ohne es ein einziges Mal getragen zu haben. Wir hängten es an unseren Stand auf einem Kinderflohmarkt.
Als sich eine Mutter dafür interessierte, begann mein Kind die ungeliebten Kleider anzupreisen. Ich hatte ihm einen Anteil für sein Sparschwein versprochen.
„Das ist eine sehr schicke Hose“, sagte er und nickte gewichtig. „So etwas braucht man.“
Die Mutter lächelte und zückte ihr Portemonnaie.
„Sie hängt sehr gut ganz hinten im Schrank“, fuhr mein Söhnchen fort. „Da sieht man sie nicht so. Und anziehen ...“, er schüttelte vehement seinen Kopf, „... anziehen würde ich so was nie.“

Samstag, 11. Februar 2017

Die Mutter-Kolumne – Ordnung muss sein! Egal wie

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wieso eigentlich.


„Ordnung muss ein“, sagte ich und schaute beunruhigt durch das Zimmer meines Sohnes. Es war in einem Zustand, der für eine geistige Zerrüttung des Bewohners sorgen musste. Doch der saß mittendrin und schaute sich einen Comic an.
„Sehr richtig, liebe Frau Mama“, murmelte er unschuldig. „Ordnung ist eine Tugend.“
Ich schluckte. Das Kerlchen konnte kaum lesen, hatte sich aber binnen kürzester Zeit den salbungsvollen Sprachstil der Lustigen Taschenbücher zu eigen gemacht. Meistens fand ich das niedlich. Aber nicht immer.
„Ich wollte sagen, dass du bitte dein Zimmer aufräumen sollst“, formulierte ich noch einmal um.
„Warum?“, fragte das Kind ohne aufzublicken.
„Hier kannst du doch gar nichts mehr finden“, stellte ich fest. Leider zu unrecht.
„Das entspricht nicht der Wahrheit“, meinte es. „Ich weiß genau, wo alles ist.“
„Dann weil es hier aussieht wie in einem Schweinestall“, presste ich hervor.
„Das ist nicht nett für die Schweine“, antwortete das geliebte Kind.
Ich schluckte erneut. Solche Sätze waren der Grund, warum wir eine besondere Beratung aufgesucht hatten. Schnell kam heraus, ich brauchte Hilfe. Zum Beispiel um mit solchen Sätzen umgehen zu lernen. Außerdem hatte ich mich etwas verheddert und versprochen, dass ich zukünftig und immer seinen Schreibtisch ordentlich halten würde. Weil MIR das wichtig war, wie die Beraterin lächelnd sagte.
Fassungslos betrachte ich den kleinen Kerl, der noch immer seelenruhig in Entenhausen weilte. Kein Wunder. Hier war ja auch kein Platz dafür. Mir fehlten die Worte.
„Räum´ auf. Sofort!“ Dann knallte eine Tür.

„Ich muss ihn doch zur Ordnung erziehen“, sprach ich kurz darauf über das Telefon mit meiner Mutter.
„Das habe ich bei dir auch versucht“, sagte sie. „Es war faszinierend. Du erschufst das größte Chaos um dich herum. Aber wenn es dann mal krachte, hattest du dein Zimmer innerhalb von zehn Minuten aufgeräumt. Aber im Grunde, bin ich wohl gescheitert.“
„Wie meinst du das?“, fragte ich verärgert. „Ich bin ein ordentlicher Mensch. Eine äußere Ordnung ist wichtig, wenn man kreativ und innerlich etwas ungeordnet ist.“
Ich schaute mich um. Na gut. Da gab es einige Kramecken, die waren nicht wirklich ordentlich. Eigentlich hätte es sie gar nicht geben dürfen. Auch vor den Büchern im Regal, auf dem Schreibtisch, hinterm Schrank, unter meinem Bett ...
„Ich weiß genau, wo alles ist“, knurrte ich und legte mit dem Lachen meiner Mutter im Ohr auf.

Eine halbe Stunde später öffnete ich die Tür wieder. Dann schluckte ich ein drittes Mal. Unberührtes Inferno. Mein Söhnchen stand vor seinem überladenden Schreibtisch.
„Schatz, ich hatte doch gesagt ...“
Strahlend drehte er sich zu mir.
„Ich habe aufgeräumt. Guck, Mama.“
Vor ihm, inmitten des Durcheinanders, lagen einige Stiftstummel, Radiergummis, Büroklammern, Zettel, Murmeln, kleine Plastikfiguren und etwas Undefinierbares (Kaugummi? Brotkrumen? Knetenreste?) nach Größe, Farbe und Form sortiert. Gerührt betrachtete ich diesen Flecken Akkuratesse im Chaos. Es würde alles gut werden. Irgendwie.


Freitag, 27. Januar 2017

Das Fernsehen in der Bude

Ich laufe mit konzentriert zusammengekniffenen Augen durch die Bude. 
Morgen kommt das Fernsehen. Sie wollen mich beim Arbeiten filmen. Ich arbeite zuhause. 



Was muss weg? Welche Dinge sind zu persönlich? 
Wer meine Wohnung kennt, bricht jetzt in Gelächter aus. Es gibt keinen einzigen Quadratzentimeter, der nicht zutiefst persönlich ist. Selbst unterm Sofa liegen Zeugen dieses meines Lebens herum. Jeder Winkel, jedes Eckchen, jede Fläche, jedes von irgendwelchen Objekten gebildete Räumchen schreit meine, unsere Geschichte hinaus. 



Sogar die Luft riecht danach. Vorgestern gab es zum Beispiel Ente. Die war mir angebrutzelt. Ich benutze Handcreme mit Rosmarinduft und abends brennt eine Pommegranate-Kerze. 



Hier stehen unzählige Bücher, die mich prägten. Die Wände hängen voller Illustrationen. Überall stehen kleine Dinge, Skurriles und Erinnerungen, die das Leben anspülte. Eichhörnchenschädel, Mangafiguren, Steine, Muscheln, Ozeanplastik, Fotos, Schlangehäute und Haieier, Notizen, Bonbongläser, Kerzenhalter, CDs. Ein riesiges durchgesessenes Sofa mit vielen Kissen ist Arbeitsplatz, genauso wie der Esstisch, ein wuchtiges Stilmöbel mit farbspritzerübersäten Fritz Hansen-Stühlen drumherum. Ebenso angespült, abgestellt und gefunden wie der Rest. 



Keine Chance. Wenn der Kameramann ein gutes Auge hat, dann hat er mit drei, vier kurzen Schwenks über unser Wohnzimmer den Großteil meiner Seele offenbart.


Und dann:

Einst stand ich beinahe täglich vor der Kamera. Das ist aber schon eine ganze Weile her. Ich hatte trotzdem das Gefühl, wir konnten davon noch etwas profitieren. Dennoch, haben wir 11 Stunden gedreht. Für einen 6-minütigen Beitrag. Hauptsache Kultur, Hessischer Rundfunk. 
Großen Dank an die 6. Klassen des LGG und Frau Weiler, an die Buchhandlung am Markt in Darmstadt, die Centralstation Darmstadt und an das lustige Filmteam des HR. 
Ich habe viel gelacht. 
Manchmal auch heimlich.
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