Samstag, 24. März 2018

Die Mutter-Kolumne: Von Schatz und Spatz in der Hand und rosa Kieseln und Tauben auf dem Dach

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich? Dieses Mal: Der Spatz in der Hand und so weiter ...


Wir hüpften von Fels zu Fels das fast leere Bachbett hinauf, das nur einem murmelnden Rinnsal den Weg bergab wies. Das Töchterchen hüpfte etwas schneller als ihr Bruder und ich.
„Kommt doch mal“, rief sie ungeduldig zurück.
„Kann ich nicht“, murmelte das Söhnchen. „Meine Last ist zu schwer.“
Seine Last waren rundgeschliffene anthrazitfarbene Kiesel, die er auf seine Hosentaschen verteilt hatte. Mit beiden Händen musste er die Hose nun festhalten, damit er sie nicht verlöre. So kann man natürlich nur sehr langsam von Fels zu Fels einen Bachlauf bergan hüpfen.

Am Anfang war auch er noch flink gewesen. Dann hatte er den ersten besonderen Stein gefunden. Ziemlich bald den zweiten, den dritten.
„Schau Mama, wie schön die sind“, hatte er gerufen.
„Wolltest du nicht einen Rosafarbenen finden?“, hatte ich gefragt.

Von den rosafarbenen Steinen hatte uns der alte Mann im Dorf erzählt. Wir hatten in einem Restaurant zu Mittag gegessen, und er saß am Nebentisch. Er hatte uns einen glatten, sanft schimmernden, perfekt runden Kiesel gezeigt.
„Die kann man im Bachbett hinterm Restaurant finden. Weit oben und wenn man großes Glück hat“, erzählte er.
Nach dem Essen waren wir zur Schatzsuche aufgebrochen.

„Die Rosanen liegen weiter oben“, rief das Töchterchen ungeduldig. „Lass doch deine Steine fallen, dann kannst du schneller klettern.“
„Niemals. Das sind meine Schätze!“, antwortete ihr Bruder.
„Das sind keine echten Schätze. Die echten sind die Schimmernden“, sagte meine Tochter.
„Gar nicht. Meine sind auch Schätze. Vielleicht sind sie nicht so schatzig wie die Rosanen, aber sie sind trotzdem kostbar. Erst recht, weil ich sie schon habe“, brummte der kleine Kerl und schleppte sich weiter.
Weit voran stürmte seine Schwester, hopste von Stein zu Stein, bückte sich immer mal wieder, hatte aber noch keines der mineralischen Stücke gefunden.

„Stimmt´s, Mama, meine Steine sind echte Schätze. Sogar noch echter als die Rosanen. Denn die sind ja gar nicht da“, meinte das Söhnchen. „Und ein echter Schatz ist doch viel besser als einer, der gar nicht da ist.“
„Aber Mama, mein rosa Stein ist doch viel wertvoller, auch wenn ich ihn noch nicht gefunden habe“, widersprach das Töchterchen. „Außerdem kann ich schon mal davon träumen.“
Die beiden schauten mich mit großen Augen an. Ich sollte entscheiden. War der Spatz in der Hand der größere Schatz als die stolze Taube auf dem Dach? Ich wusste es nicht.
„Vielleicht ist das für jeden anders?“, schlug das Töchterchen vor.
Mein Sohn hielt sich die schwere Hose fest und nickte gewichtig. „Ja. Die einen finden einen Stein schön, den sie haben, der aber vielleicht nur grau ist–“
„Und die anderen wollen keinen grauen Schatz, sondern träumen lieber von einem der rosa ist“, beendete seine Schwester den Satz.
Besser hätte es wahrscheinlich niemand sagen können.
Nicht einmal ihre kluge Mutter, die eine Träne der Rührung aus den Augen wischte und sich dann nach zwei rosafarbenen Kieselchen bückte, die sich unter einem der Felsen verklemmt hatten.

Freitag, 9. März 2018

Von welcher Zukunft träume ich? – Harald Welzer im Gespräch mit Schülern


Von welcher Zukunft träume ich? –

Harald Welzer, Sozialpsychologe, Gründer von „FuturZwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit“ und Mitbegründer der Initiative „Die offene Gesellschaft“, der sich für eine lebenswerte Zukunftsgestaltung einsetzt und für die zivilgesellschaftliche Verteidigung demokratischer Werte steht, diskutierte das mit Schülern am 9. März 2018 in der Centralstation.

Ich habe das zweistündige Gespräch zusammengefasst. Vorab möchte ich jedoch schreiben, dass die Eingangsfrage von den Schülern nicht beantwortet wurde. Mich schockierte das ein bisschen. Haben die 15- und 16Jährigen wirklich keine eigenen Zukunftsvisionen?




Wir haben das Glück, in einer Zeit und in einer Gesellschaft zu leben, die uns satt, gesund und frei sein lässt. (Selbst Ludwig der 14., Sonnenkönig genannt und bekannt als der europäische Monarch schlechthin, fror jämmerlich im prachtvollen Versailles, in dem es zudem mangels Toiletten aus allen Ecken stank.)
Unsere Lebensumstände ermöglichen es, die eigene Zukunft zu gestalten.

Davor steht natürlich die Frage: Wie stelle ich mir meine Zukunft vor? Und auch: Wie setze ich meine Visionen und Wünsche um?

In einer Demokratie hat jeder Mensch die Chance, das Leben, die Gesellschaft, die Zukunft mitzuformen und zu entwickeln. Eine Chance, die im gleichen Maß Verantwortung bedeutet. Zum Beispiel die Verantwortung, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, nachhaltig zu handeln und diesen Planeten den folgenden Generationen nicht als Mülleimer zu hinterlassen.

Natürlich gibt es unfassbar viele Ablenkungen, die es einem mehr als einfach machen würden, sich rauszuhalten, träge zu werden, die Verantwortung für sein Handeln und für sein Leben abzugeben. Diese Entscheidung muss jeder für sich treffen. Mische ich mich ein, bin ich Gestalter und Bestimmer meines Lebens und meiner Zukunft? Oder versinke ich in den Ablenkungen anderer, die dann für mich entscheiden?
Glücklich werden diese Ablenkungen einen nicht machen. Da können apple, samsung oder netflix noch so viel versprechen.

In einer Welt, in der die Zahlen der absolut Armen, der Säuglingssterblichkeit und Hungertoten stetig zurückgehen, ist nicht alles schlecht und verloren. Auch wenn die dramatischen Darstellungen von Amokläufen, Präsidentenidioten, Krawallen, Unmenschlichkeit, Rechtspopulismus und Flüchtlingssituationen in den sozialen Medien das Gegenteil suggerieren wollen. Sich davon nicht kirre machen zu lassen, sondern sich bewusst zu informieren, die Informationen zu filtern, sich eine eigene Meinung zu bilden und daraus eine Position abzuleiten, sind Schritte in die eigene Richtung. Und diese eigene Richtung bestimmt man selbst. Jedenfalls darf man das.

Täglich ist man extremen Widersprüchen ausgesetzt. So versucht beispielsweise die Werbung den Einzelnen zum Ultrakonsum zu verführen, während Prognosen und Studien auf die Zerstörung der Umwelt hinweisen. Man weiß, ein weiteres Wachstum der Wirtschaft wie in den vergangenen Jahrzehnten ist nicht möglich. Der Planet ist endlich, der Regenwald licht, die Ozeane voller Plastik, der Boden voller Gifte, die Luft angereichert mit festen Partikeln. Zu einer lebenswerten Zukunft gehören aber vor allem existentielle Dinge wie sauberes Wasser, ausreichend Sauerstoff, gesunde Nahrungsmittel und Bewegungsfreiheit. Sinnfreies Habenwollen zerstört die Erde. Ein Weltretter kauft nichts, was er nicht zum Überleben braucht. Das wissen wir. Doch die Innenstädte mit ihren Auslagen, die Werbung in allen Medien und das Internet schreien uns an: Du musst konsumieren! Interessanterweise gar nicht, um zu besitzen, (die wissen selbst, dass niemand Wohnungskrimskrams, das neuste Smartphone oder sieben Hosen braucht), sondern um angeblich glücklicher zu sein. Also, nach dem Motto: Besitz macht glücklich.

Aber stimmt das? Wie lange erfreue ich mich an den neuen Nike Air Max oder am nigelnagelneuen Smartphone? Irgendwann ist es einfach ein Paar Schuhe, damit man keine kalten und nassen Füße kriegt, und eine Kommunikationsmöglichkeit mit zersplittertem Display, die aber zum Glück noch funktioniert. (Im Zweifelsfall genügte aber auch das alte Phone, das der Kumpel noch in der Schublade hat. Hauptsache ist doch, man kann seine Leute erreichen.)
Das Leben selbst würde einem also deutlich machen können, dass man eigentlich gar nicht so viel braucht oder besitzen muss, dass Besitz nicht langfristig glücklich macht und dass es ganz cool wäre, wenn der Planet noch eine Weile ausreichen würde, man im Meer baden könnte, bis zur Atemlosigkeit rennen, um dann einen tiefen Zug frischer Luft nehmen könnte, und dass Vögel, Blumen, Bäume und was die Natur sonst noch vorbringt, eigentlich auch ganz schön und vor allem lebenswichtig sind.
Aber bevor man da bewusst ankommt, hat apple schon wieder das nächste Tablett entwickelt und schaltet Werbung, die einen manipuliert: Ohne das neue Produkt bekäme man nichts geregelt, sei nicht dabei, uncool und irgendwie raus. Trotz besseren Wissens zieht man also wieder los und kauft.
Wer diesen Widerspruch zumindest wahrnimmt und ihn erkennt, ist noch normal in Hirn und Herz. Sich davon zu befreien, selbstbestimmt entscheiden zu wollen, wäre dann der erste Schritt in eine eigene Zukunft.

Es wird immer Menschen geben, denen Zukunft, selbst die eigene, egal ist. Darüber kann ich mich ärgern. Ich kann versuchen, sie aufzuklären, und sie irgendwie wachzurütteln. Aber sie dürfen nicht diejenigen sein, die mein Tun beeinflussen. Sie dürfen mich nicht so sehr frustrieren, dass ich die Lust verliere, zu gestalten und zu bestimmen. Ich entscheide über mein Tun. Die Frage „Wie gehe ich persönlich mit den Möglichkeiten, die sich mir bieten, um“, macht das Leben spannend.
Sind meine Schritte erfolgreich, werden sie belohnt, weil mir etwas gelingt, weil ich ein Ziel erreiche, macht mich das stolz und gibt mir Anerkennung. Daraus entwickle ich Vertrauen in mich selbst und meine Fähigkeiten. Ein Mensch, der daran glaubt, dass er selbstbestimmt handeln und mit seinem Tun etwas erreichen kann, entwickelt letzten Endes Zufriedenheit und Glücksgefühle. (Siehe dazu auch den Wiki-Eintrag über Selbstwirksamkeitserwartung.)

Meine eigenen Zukunftsvorstellungen werden niemals eins zu eins umgesetzt werden können. Das ist nicht frustrierend, sondern logisch und auch richtig. Wir sind keine Einzelgänger. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Meine ureigenen Gedanken und Ideen werden durch das Denken und Tun der anderen verändert. Sie inspirieren den anderen, er wird sie aber nie so verstehen oder umsetzen, wie ich das tue oder tun würde. Daraus entstehen gemeinschaftliche Modelle und Projekte.

Falsch Gedachtes kann man nicht optimieren.
Situationen, Erfindungen und Systeme, die verkehrt sind, können nicht verbessert werden. Man muss sie loswerden. Das gelingt nur über eine geänderte Fragestellung. Im Wechsel der Perspektive und der Hinwendung in eine ganz andere Richtung, sucht und findet man Ansätze und Lösungen, die Zustände und letztlich ganze Systeme komplett verändern.
Beispiel: Auto
Das Auto zerstört die Umwelt, verschwendet Ressourcen und nimmt dem Menschen Lebensraum. Egal wie sehr die Hersteller daran arbeiten, ein „grünes“ Auto zu produzieren, es wird nicht gelingen, den Fehler Auto mit einem optimierten Auto auszumerzen.
Hier muss man umdenken, also die Fragestellung ändern. Der Mensch möchte mobil sein, braucht diese Mobilität in gewissen Maßen auch. Wie kann ich diese Mobilität ohne Auto gewährleisten?

Viele Probleme dieser Welt kämen über eine geänderte Fragestellung zu einer Lösung. So wird das Thema Überbevölkerung oft problematisiert. Überbevölkerung bedeutet gemeinhin, dass es angeblich nicht genug Nahrung und andere Ressourcen für die Anzahl der Menschen auf der Erde gäbe. Das ist bei richtiger Fragestellung Unsinn. Denn niemand müsste hungern oder darben, wenn Nahrungsmittel, Medikamente, Wohnraum, Wasser, Bildung usw. gerecht verteilt wären. Doch das sind sie nicht. Zum Beispiel verbrauchen die Deutschen das 5- bis 10-fache und die Amerikaner sogar das 10- bis 20-fache an zur Verfügung stehenden materiellen und immateriellen Gütern im Verhältnis zu den meisten afrikanischen Ländern.

Zukunft zu gestalten bedeutet eben auch immer, die richtigen Fragen zu stellen und die üblichen Pfade zu verlassen. Besonders wenn sie als Sackgassen enden.
Wir bemessen beispielsweise das Niveau unserer Gesellschaft über das Bruttosozialprodukt. Das Bruttosozialprodukt allerdings wächst auch über Zerstörung. Ein Krieg mit nachfolgendem Wiederaufbau erhöht das Bruttosozialprodukt eines Landes. In dieser Denkweise also den Wohlstand der Bevölkerung. So betrachtet muss man fragen, bemisst es tatsächlich das Wohlleben der Gesellschaft?
Wie gut geht es den Menschen, wäre doch hier die viel bessere Frage.

Natürlich kann ein Mensch im ersten Schritt eines Einzelgangs keine Gesellschaft oder ein ganzes System ändern. Aber er kann Impulse geben, die zu einer Veränderung führen können.
Gesellschaften sind keine statischen Systeme, sie sind nicht stabil und entziehen sich letztlich der Kontrolle durch den Menschen. Einzelne Impulse bringen kleine Verschiebungen. Vom Einzelnen inspiriert, können sie wachsen und zu Bewegungen werden. Dabei ist es nicht wichtig, ob der Erste das System an sich ändern wollte, oder ob er überhaupt politisch dachte oder eher persönlich inspiriert handelte. Aber aus Einzelaktionen entstandene Bewegungen erzeugen Aufmerksamkeit. Letztlich auch bei der Politik.
Die Geschichte zeigt, dass viele Handlungen eigentlich anders motiviert waren und etwas ganz anderes erreichen wollten, als sie es dann taten.
Zum Beispiel der Mauerfall. Damals gingen die Menschen in der ehemaligen DDR auf die Straße, um die Zustände im eigenen Land anzuprangern. Sicher hätte niemand von ihnen gedacht, dass nur ein Jahr später das Ende einer Diktatur zu feiern war. Und das ohne Gewalt.

Darum kann also auch der Einzelne etwas verändern. Er muss nur den ersten Schritt gehen, einen Impuls setzen. Der kann zu einer Dynamik führen, so dass aus einer Person eine Gruppe mit dem selben Anliegen entsteht, daraus wiederum eine Bewegung, die auf die Gesellschaft übergreift, die dann letztlich das System ändert.

Jeder, der in einer Demokratie lebt, ist in der Lage, seine Zukunft selbst zu gestalten. Er muss nur anfangen, etwas zu tun. Nicht darüber reden, sondern machen.