Nun ist es Abend, Zeit zum Vorlesen. Heute am 11. Dezember ist meine Geschichte "Die Wunschzettel" die Geschichte des Tages im literarischen Adventskalender
"Weihnachten so wunderschön" aus dem Ueberreuter Verlag – ein fein illustriertes Buch, in dem 26 Autoren für jeden Tag des Dezembers bis zum 2. Weihnachtsfeiertag eine Geschichte erzählen. Mit Erlaubnis des Verlags möchte ich die meine hier veröffentlichen. Gemütliches Vorlesen!
Die Wunschzettel
Tom ist sechs Jahre alt. Seit dem
Herbst geht er in die erste Klasse. Doch der Herbst ist lange vorbei.
Weihnachten steht vor der Tür. Tom ist aufgeregt. Im letzten Jahr hatte der
Weihnachtsmann ihm nämlich nur das fast richtige Geschenk gebracht. Die Murmelbahn
ist nur so ähnlich wie die von Leon. Sie ist aber nicht genau so toll. Vielleicht
hatte der Weihnachtsmann den Wunschzettel nicht richtig verstanden? Tom hatte sich
viel Mühe damit gegeben. Er hatte jeden Holzbaustein auf seinem Bild bunt
ausgemalt. Dabei malt er gar nicht gern.
Zum Glück geht Tom nun in die
Schule. Die anderen in der Klasse kennen schon sechs Buchstaben. Tom kennt fast
das ganze ABC. Seine Lehrerin ist sehr erstaunt darüber. Aber Tom will ganz sicher
sein, dass in diesem Jahr nichts schief geht. Darum hat er wie verrückt die
Buchstaben gelernt. Nun kann er seinen Wunschzettel an den Weihnachtsmann richtig
schreiben. Er hat schon ein paar Mal geübt. Er weiß, das wird super gut klappen.
Kein Problem.
Aber dann sagt Lea vier Wochen
vor Heiligabend etwas zu Tom. Lea ist gar nicht seine Freundin. Eigentlich
reden sie überhaupt nicht miteinander.
„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“,
fragt Lea.
Tom möchte das Geheimnis von Lea
nicht so gern kennen. Geheimnisse sind was für Freunde.
„Wenn du willst“, antwortet er
trotzdem.
„Es gibt gar keinen
Weihnachtsmann“, flüstert Lea in sein Ohr.
„Spinnst du!“ Tom ist furchtbar
erschrocken.
Bestimmt ist Lea verrückt geworden.
Natürlich gibt es den Weihnachtsmann! Über diesen Quatsch braucht er eigentlich
gar nicht weiter nachzudenken. Aber vielleicht hatte er ja deswegen die falsche
Murmelbahn bekommen? Der echte Weihnachtsmann hätte sein Bild bestimmt richtig
verstanden. Vielleicht hatte jemand anderes den Wunschzettel vom Fensterbrett geholt?
„Hast du dafür Beweise?“, fragt
er Lea. Nur zur Sicherheit.
„Ich hatte mir im letzten Jahr die
Glitzerpuppe mit rosa Haaren gewünscht. Ich habe aber eine langweilige Stoffpuppe
bekommen, die Mama ganz toll fand. Dabei hatte ich einen super perfekten
Wunschzettel gemalt“, erzählt Lea.
Sie guckt Tom mit hochgezogenen
Augenbrauen an.
„Na ja“, überlegt Tom. „Vielleicht
haben wir nur fast bekommen, was wir wollten, weil wir nur fast artige Kinder
waren? Vielleicht müssen wir uns mehr anstrengen und gute Taten vollbringen.“
Leas Augenbrauen rutschen wieder
an die richtigen Stellen. Dann kneift sie ein bisschen die Augen zusammen.
„Das könnte sein“, gibt sie zu.
Tom und Lea gucken sich an.
„Lass uns noch etwas richtig
Gutes machen“, sagt Tom. „Bevor es zu spät ist.“
„Das ist eine super Idee“, sagt
Lea.
Am Wochenende versuchen Tom und
Lea etwas richtig Gutes zu machen. Das ist aber gar nicht so einfach. Tom will
für Mama einkaufen gehen. Aber Mama lacht nur und streicht ihm über den Kopf.
Tom fragt Papa, ob er ihm am Kiosk eine Zeitung holen soll. Aber Papa sagt,
dass er Zeitungen nur noch online liest. Seiner großen Schwester Nelly will Tom
keinen Gefallen tun. Sie ist immer nur genervt und kneift Tom in die Wangen.
Das muss der Weihnachtsmann verstehen. Darum fängt Tom an, den Zaun vor dem
Haus zu streichen.
Das hatten seine Eltern eigentlich schon im Sommer tun
wollen. Deshalb stand auch die Farbe im Keller. Als er den Viertelzaun
gestrichen hat, hat Tom eigentlich keine Lust mehr. Er streicht trotzdem
weiter. Da kommt Mama vom Einkaufen nach Hause. Warum sie so einen schlimmen
Schreikrampf bekommt, versteht Tom nicht. Erstens mag er die neue Winterjacke
sowieso nicht leiden. Zweitens geht die rosa Farbe in seinem Gesicht auch
irgendwann von alleine wieder ab. Tom findet auch, dass der Zaun gar nicht so
schlimm aussieht, wie Papa später tut. Auch wenn die rosa Farbe gar nicht für
den Zaun gedacht war.
Nach dem schlimmen Wochenende stehen
Lea und Tom zusammen im Schulhof. Der Himmel über ihnen sieht aus, als würde es
bald schneien.
„Gute Taten sind ganz schön
schwer“, sagt Tom.
Lea nickt und guckt unglücklich. Bei
ihr hat auch nichts so richtig geklappt. Sie trägt unter ihrer Jacke einen sehr
seltsamen Pullover. Der ist drei Nummern zu klein und sieht aus wie ein kratziges
Stück Filz. Tom wundert sich, warum Lea so etwas anzieht.
Plötzlich leuchten Leas Augen
auf.
„Wir können die Hunde von alten
Damen ausführen! Denen ist es bestimmt viel zu kalt zum draußen Rumlaufen“,
ruft sie.
Tom fällt sofort Frau Krause mit
ihrem Bello ein. Bello ist ziemlich klein. Das ist kein Problem. Als Tom am
Nachmittag bei Frau Krause klingelt, guckt sie erst einmal komisch. Aber dann darf
er mit Bello in den Park. Dort trifft er Lea. Sie hat auch einen Hund dabei.
Der heißt Pimpf und ist ein bisschen größer als Bello. Sie laufen mit Bello und
Pimpf um die Wette. Tom ist der Schnellste. Pimpf ist wirklich ganz schön groß.
Dann spielen sie Verstecken. Bello versteckt sich am allerbesten. Sie brauchen
zwei Stunden bis sie ihn endlich finden. Er hat sich aber auch nicht im Park
versteckt, sondern in einem ganz anderen Stadtviertel. Dorthin darf Tom
eigentlich gar nicht. Als er Bello zurückbringt ist Frau Krause sehr aufgeregt.
„Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Da
bist du ja wieder, mein Schatz!“, ruft sie.
Sie meint aber nicht Tom. Den
guckt sie nur böse an.
Am nächsten Tag stehen Lea und
Tom wieder zusammen im Schulhof. Auf Leas Nase landet eine Schneeflocke. Die ist
aber nur ganz klein.
„Meinst du, das war gestern eine
gute Tat?“, fragt Tom.
„Frau Schuster hat mit mir
geschimpft, weil Pimpf und ich erst so spät wieder kamen“, erzählt Lea.
Tom nickt.
„Außerdem hat es im Park großen
Spaß gemacht. Ich weiß nicht, ob gute Taten zählen, wenn sie großen Spaß
machen“, befürchtet Lea.
„Wir müssen etwas tun, was uns
keinen Spaß macht“, sagt Tom.
Obwohl er findet, dass es gestern
im Park nicht die ganze Zeit Spaß gemacht hat.
„Ich kenne viele Sachen, die keinen
Spaß machen“, sagt Lea.
Sie grinst Tom schief an. Das
Ganze würde wahrscheinlich schrecklich ungemütlich werden. Tom grinst schief zurück.
„Ich auch“, sagt er.
Dann wird es schrecklich
ungemütlich. Tom räumt drei Tage lang sein Zimmer auf. Damit es nicht wieder unordentlich
werden kann, fasst er darinnen nichts mehr an. Außerdem läuft er nur noch auf
Zehenspitzen. Sicher ist sicher. Zweimal am Tag putzt er sich die Zähne.
Manchmal morgens und abends. Manchmal aber auch mittags oder mitten in der
Nacht. Wenn er es nämlich morgens oder abends vergessen hat. Am Mittwoch duscht
er und am Samstag gleich noch einmal. Sogar mit Seife. Obwohl er das Gefühl hat,
dass seine Haut schon etwas dünner geworden ist. Zu Mittag isst er seinen
Teller leer. Auch das grüne Gemüse. Tom wird selbst ganz grün davon. Aber er
hält durch. Darum geht er auch am Sonntag mit Mama und Papa spazieren. Ganz
lange und fast ohne Meckern.
Am Montag sagt Lea, dass sie
genug Sachen getan hat, die keinen Spaß machen.
„Stimmt, ich auch“, sagt Tom.
„Meine Mutter guckt mich schon ganz besorgt an. Manchmal fühlt sie mir auch die
Stirn.“
„Meinst du, der Weihnachtsmann hat
gesehen, wie wenig Spaß wir hatten?“, fragt Lea.
„Ich hoffe es“, sagt Tom.
Am nächsten Nachmittag besucht
Lea Tom zuhause. Nach dem Mittagessen klettern sie auf den Dachboden. Aus seiner
Geheimkiste holt Tom zwei Bögen allerfeinstes Papier.
„Siehst du, mit Goldrand. Es ist
wirklich kostbar“, sagt er.
Oma hat ihm dieses Papier
geschenkt, damit er ihr schöne Briefe schreiben kann. Eigentlich findet er es
nicht so toll. Es hat blöde Hubbeln an denen der Stift hängen bleibt und doofe
Kringel macht. Aber es ist wirklich kostbar. Oma hat vergessen, das Preisschild
abzufummeln.
„Das wird den Weihnachtsmann
bestimmt beeindrucken“, sagt Lea.
„Ganz bestimmt“, meint Tom.
, schreibt Tom. Sein Stift bleibt an den Hubbeln hängen und macht
doofe Kringel. Es sieht trotzdem gut aus, findet er. Besonders der Goldrand. Dann
hilft er Lea, weil sie erst acht Buchstaben kennt.
Da erscheint Mamas Kopf in der
Luke zum Dachboden.
„Na, ihr zwei. Braucht ihr
Hilfe?“
„Nö“, sagt Tom. „Alles paletti.“
Auf keinen Fall will er Mama die
Wunschzettel zeigen. Er hat den Verdacht, dass Mama im letzten Jahr noch andere
Geschenke auf sein Bild mit der Murmelbahn geschrieben hatte. Unter dem Baum
hatten nämlich auch kratzige Pullover und langweilige Bastelbücher gelegen.
Vielleicht hatte er darum die nicht so tolle Murmelbahn bekommen. Außerdem
würde Mama bestimmt irgendwelche Rechtschreibfehler entdecken.
, schreibt
er für Lea.
Sie legen die Zettel auf das
Fensterbrett und öffnen das Fenster einen Spalt breit. Tom will wieder nach
unten klettern.
„Und wenn der Wind die
Wunschzettel wegpustet?“, fragt Lea.
„Dann trägt er sie zum
Weihnachtsmann“, sagt Tom.
„Nein! Das machen doch die
Wichtel“, erklärt Lea.
„Dann sollten wir lieber hier
oben bleiben und die Zettel bewachen bis die Wichtel kommen“, sagt Tom.
Sie machen es sich in Toms
Kuschelecke auf dem Dachboden gemütlich. Von hier können sie die Wunschzettel
gut sehen. Tom holt eine Flasche Limo und eine angeknabberte Tafel Schokolade
aus seinem Geheimversteck. Dann legt er ein Hörspiel in seinen kleinen
CD-Spieler. Lea seufzt wohlig und lutscht ein Stückchen Schokolade. Zu zweit
ist es hier viel schöner, denkt Tom.
Auf einmal ist das Hörspiel zu
Ende und die Wunschzettel sind weg. Vielleicht war er eingeschlafen. Tom kann
sich nicht erinnern. Lea schlägt die Augen auf.
„Die Wunschzettel sind weg! Hast
du gesehen, wie die Wichtel sie geholt haben?“, fragt sie besorgt.
„Klar“, sagt Tom. „Es ist alles
nach Plan verlaufen.“
Lea klatscht in die Hände.
„Dann kann ja nichts mehr schief
gehen“, freut sie sich.
An Heiligabend ist Tom furchtbar
aufgeregt. Nach dem Krippenspiel in der Kirche rennt er schnell nach Hause.
Unter dem Weihnachtsbaum liegen viele Geschenke. Er hat den Weihnachtsmann doch
wieder verpasst. Genau so, wie im letzten Jahr. Schade. Ob die schwarze
Ritterburg dabei ist? Dann denkt Tom an Lea. Hat sie schon ihre Geschenke ausgepackt?
Endlich ist es soweit. Mama
verteilt die Päckchen. Tom öffnet das Papier ganz langsam. Sein Herz klopft. Dann
hält er den Karton mit der schwarzen Ritterburg zum Selbstbauen in den Händen. Schnell
holt er das Telefon. Lea ist sofort am anderen Ende.
„Es hat geklappt!“, ruft sie.
„Ja, wir haben alles richtig
gemacht“, freut sich Tom.
„Was meinst du, was es war? Die
guten Taten oder das Artigsein ohne Spaß oder der Wunschzettel mit richtigen Buchstaben
auf dem kostbaren Papier oder dass wir zusammen auf die Wichtel gewartet
haben?“, fragt Lea.
„Ich weiß es nicht“, sagt Tom. „Aber
eigentlich ist das ja auch egal.“
„Danke schön“, sagt Lea leise.
Tom weiß nicht, warum sich Lea
bei ihm bedankt.
„Das musst du doch dem
Weihnachtsmann sagen“, meint er.
„Wir könnten ihm schreiben. Auf
dem kostbaren Papier mit dem Goldrand“, schlägt Lea vor.
Tom findet, das ist eine tolle
Idee.
„Wollen wir morgen zusammen
rodeln gehen“, fragt Lea.
„Super gern“, sagt Tom.
Vielleicht darf er ja mal auf
Leas neuem super Rennschlitten fahren. Auch wenn der lila ist.
„Okay, Tschüß. Und schöne
Weihnachten noch“, wünscht Lea.
„Dir auch“, sagt Tom.
Dann geht er zurück zu den
anderen. Alle haben strahlende Gesichter und leuchtende Augen. Im Zimmer
brennen viele Kerzen. Es duftet lecker aus der Küche. Aus den Lautsprechern
klingen Weihnachtsleider. Tom summt leise mit. Er ist glücklich. Draußen vor
dem Fenster fallen dicke Schneeflocken.