Montag, 27. April 2015

Ich bin nicht das kleinere Übel für Scheißphysik – Qualen einer Autorin


„Antje, du bist jemand, der schreiben muss. Da bin ich mir sicher“, sagte letztens meine Agentin.
Sie hat recht. Aber nicht nur das. Während sich die Geschichten in mir herumdrängeln, wer zuerst raus darf, während die ersten Versionen schnell in die Tasten und auf das virtuelle Papier fliegen, beginnt die eigentliche Arbeit erst danach. Ich suche Verknüpfungen und logische Momente, ich recherchiere und analysiere, ich formuliere, stelle um, hobele und feile, lese das Ganze mit dem Kopf, dann viermal mit dem Herzen und schreibe es in schön.
Und dann noch einmal alles von vorn und noch einmal und vielleicht noch einmal. Ich brauche für ein Buch ein halbes Jahr. Ich gebe es erst dann raus, wenn ich es für etwas Fertiges, etwas Wunderbares und Wertvolles halte.
Ich bin Kinderbuchautorin mit der Seele und dem Procedere eines Künstlers.
Leider auch mit der Verletzbarkeit und der Empfindsamkeit.
(So etwas weiß natürlich ein Lehrer nicht, wenn er überlegt, ob die Klasse lieber Mathe oder Physik für die von der Bibliothek gratis angebotende Autorenlesung ausfallen lassen soll.)

Ich lese gerne vor und zum Glück kann ich das richtig gut. Es macht mir Spaß und ich bin begeistert, von dem, was ich tue. Und: Ich kann diese Begeisterung an die Kids vermitteln. Etwas, das mich richtig glücklich macht und beseelt an meinen Schreibtisch zurück eilen lässt.
Nach mehreren hundert erfolgreichen Lesungen, war ich mir sicher, dass mich diesbezüglich nichts mehr aus der Bahn zu werfen vermag.

Doch in der letzten Woche fand ich mich das erste Mal in einem Fiasko wieder. Das Erlebte erschütterte mich dermaßen, dass ich mir gar überlegte, in einen Elfenbeinturm zu ziehen und nicht mal mehr von oben zu winken. Natürlich ist das übertrieben, doch, mein lieber Leser, der Grund dafür liegt in den ersten Sätzen dieses Posts.

Aber was war eigentlich passiert?


Nachdem etwa 60 Fünfklässler einer Oberschule Platz genommen hatten, begann ich wie sonst auch meine Lesung. Die Kinder saßen still vor mir. Erst dachte ich noch: „Na, die sind aber gut erzogen.“ Doch dann bekam ich ein unruhiges Gefühl. Niemand rüherte sich, niemand lachte, nicht einer verzog wenigstens den Mundwinkel. So etwas hatte ich noch nie erlebt.
Als plötzlich doch einmal jemand giggelte, hätte ich mich am liebsten auf ihn gestürzt, ihn geknuddelt und gerufen: „Na, nun erzähle doch mal den anderen, was daran lustig ist.“
Das machte ich natürlich nicht. Stattdessen erhöhte ich den Ausdruck meiner Lesung, wackelte mit den Augenbrauen, was ich sehr gut kann, verzog das Gesicht zu unbändigen Fratzen, was ich noch besser kann beziehungsweise niemals vermeiden kann. Es funktionierte nicht. Stumm betrachtete mich die Schar wie eine gelangweilte wissenschaftliche Deligation einen Anwärter für den letzten Platz im Raumschiff, das gleich die verwesende Erde verlassen würde.

Schon bei derem Eintreten hatte ich gespürt, dass es nicht ganz einfach werden würde, die Kinder zu packen. Sie sahen älter (einer war sogar schon 15), gelangweilter, abgeklärter und unkindlichher aus als meine eigentliche Zielgruppe. Ich hatte also sehr flott und vermeindlich cool begonnen, versuchte sie, die wahrscheinlich schon zu viel oder viel zu wenig gesehen hatten, abzuholen, fragte, wer in der Nacht das League of Legends Finale im Stream gesehen hätte, aber auch, wer Bücher lesen würde. Bei der ersten Frage meldeten sich mehr als bei der zweiten. Dort meldeten sich etwa sieben Kinder. Zwei davon nahmen ihre Hand allerdings schnell wieder runter. Es war wohl einfach zu peinlich.
Doch Sorgen machte ich mir noch nicht.

Ich erzählte etwas mehr als sonst, las etwas kürzer, stellte einbeziehende Fragen. Ich veränderte meine eigenen Positionen, stellte mich schließlich hin und ertrug stoisch das Gekicher und die Lästereien über mein Kleid.
Ich begann zu schwitzen, obwohl ich weder in den Wechseljahren bin noch die Bibliothek irgendwie zu warm war. Ich spürte, dass sich mein Haarknoten auflöste, ich musste auf die Toilette und hätte so gerne etwas getrunken. Ein wenig übel wurde mir auch, trotzdem kam mir immer wieder das Eierbrötchen mit dem Roqufort-Käse in den Sinn, das ich zum Frühstück gegessen hatte.
Doch ich machte weiter, während das Gekicher über mein Kleid wieder verebbte und der grusligen Stille von zuvor Platz machte.

Schließlich kündigte ich das letzte Kapitel an. Normalerweise rufen die Kinder dann: „Oh, nein!“ und meinen damit „Oh, schade! Lies doch noch etwas weiter.“ Darum passierte es mir, dass ich den von einer Handvoll Kinder gestöhnten Ausruf „Boah, nee!!!!“ beinahe falsch interpretiert hätte.

Doch dann verstand ich und in mir krampfte sich alles noch einmal fester zusammen. Trotzdem fragte ich nach.
„Mann, Alter, das ist voll langweilig!“
„Ist das wahr?“, fragte ich Masochistin noch einmal.
„Total!“, riefen einige Mädchen, bliesen ihre Ponnys aus den Stirnen und tasteten in den Taschen nach ihren vibrierenden Handys.

Ich schlug mein Buch zu. Vielleicht war das dumm und kindisch, auf alle Fälle unreif. Aber ich verweise noch einmal auf die einleitenden Sätze.
„Gut, dann höre ich jetzt auf“, presste ich an dem Tränenknoten in meinem Hals vorbei.
„Oh, Mann, Scheiße seid ihr bescheuert!“, schrie da ein Mädchen. „Das ist doch immer noch besser als Scheißphysik!“

Inzwischen hatten sich die Lehrerinnen von ihrem Schock und ihrem peinlich Berührtsein erholt.
„Das wäre aber sehr ungerecht denen gegenüber, die zuhören wollen“, sagte eine.
Sie wollte mit denen, die keine Lust mehr hatten, hinaus in den Park gehen. Etwa 20 Kinder griffen hurtig nach ihren Jacken.
„Auf keinen Fall!“, rief die andere Lehrerin. „Diejenigen gehen mit mir in die Schule. Wir machen Physik.“
Natürlich blieben alle sitzen. Bis auf die zwei, die einfach am lautesten zuviel verkündet hatten.
´Auf keinen Fall!`, wollte ich nun rufen. Ich wollte niemandem vorlesen, der lieber in Kauf nahm, hier vor mir zu sitzen, als Scheißphysik zu machen. Und ich wusste genau, wer das war. Aber ich bin kein Denunziant und scheinbar nicht nur in der Liebe leidensfähiger als gedacht. Ich las das letzte Kapitel ohne dass sich die Tränen Bahn brachen, die mich innerlich ertränkten, während ein Drittel der Kinder die Zeit nutzte, geräuschvoll auf die Toilette zu gehen.

Stell dich nicht so an, versuche ich mir seitdem immer wieder zu sagen und ziehe mir die Erinnerungen der anderen Lesungen der letzten Woche vor das innere Auge: fröhliche, lachende Kinder, die mich anstrahlen und mit mir gemeinsam eine lustige und schöne Stunde erleben. Ein Schulleiter, der mir sagt, dass meine tolle fröhliche Art, die Kinder geradzu in ihren Bann ziehen würde. Die geflüsterten Worte eines kleinen Mädchens in einem altmodische Kleid: „Ich möchte auch eine tolle Schriftstellerin werden. So wie du.“

Trotzdem. Ich muss erkennen: Ich schreibe für lesende Kinder und solche, die sich gerne Geschichten erzählen lassen. Ich kann zwar Computerspiele, Smartphone Apps und das Fernsehen nicht ausstechen, aber ich bin auch nicht das kleinere Übel für Scheißphysik. 

Montag, 13. April 2015

Glyzinien, Shades of Grey und der ästhetische Blick – Was ist eigentlich gute Literatur?


Der Mensch ist doch immer wieder unerwartet ambivalent. Also ich bin das. In Bezug auf die Literatur zum Beispiel. Das durfte ich heute morgen entdecken, als ich noch einige Augenblicke in einen neuen hochgelobten Roman hinein las und – ihn einfach nicht mochte. Obwohl ich die Autorin sehr schätze und große Erwartungen hegte.

Im ersten Moment war ich überrascht, dann ein wenig peinlich berührt. Nicht von diesem Buch, das mir nicht gefallen wollte, sondern von mir selbst. Wie konnte ich ein, von denen, die es wissen müssen, zur Literatur verklär ... ähm, erklärtes Buch nicht mögen? Und das nicht geschmäcklerisch oder auf den Inhalt bezogen, sondern tatsächlich von meinem Verständnis und Gefühl ausgehend, dass darinnen nicht das stattfand, was ich als eine gute Geschichte in einer schönen, berührenden Sprache wahrnehme. Wie anmaßend, oder? Immerhin bin ich nur Kinderbuchautorin und habe nie die deutsche Sprache an einer Universität studiert.

Stattdessen studierte ich die Architektur. Und siehe: Nach nur wenigen Semestern konnte ich über diese und ihre jeweiligen Eingangssituationen schwadronieren und belächelte Häuslebauer. Obwohl denen doch ganz eindeutig das Häuschen mit Walmdach und zwei Säulen davor ausnehmend gut gefiel.
Wahrscheinlich war denen auch völlig egal, was ich als angehende Architektin von ihrem gebauten Lebenstraum hielt. Das war ihnen wahrscheinlich sogar scheißegal.

Auch in Bezug auf die Literatur stimmte ich gedanklich des öfteren in den Kanon des „das ist kein gutes Buch, es ist es nicht wert gelesen zu werden, denn es ist weder Literatur noch hat es Relevanz“ mit ein. Zwei, drei Mal tat ich das sogar laut, also so, dass andere es hören konnten. Zum Beispiel meine Tochter, als ich ihr leidenschaftlich zu erklären suchte, was für eine dumme Idee es gewesen war, das Taschengeld für ein ganz schlimmes Buch ausgegeben zu haben. Obwohl ich dieses nie gelesen hatte. Natürlich nicht, es war ja schlimm. Dafür hatten das aber Millionen andere getan, die es schlicht mochten und Freude daran hatten.

Wer hatte denn nun recht? Und warum? Und wessen Meinung war die, die zählte? Und warum?

Heute morgen das Ganze also anders herum. Ich hatte gehört und gelesen, der schmale Band sei ein richtig gutes Buch quasi Teil eines Werkes. Allein ich empfand das nicht so. Und bevor es mir richtig klar wurde, hatte ich schon auf die arroganten wer auch immer geschimpft, die sich anmaßten, mir sagen zu wollen, was gut oder schlecht ist. Vor allem: Mit welchem Recht taten die das? Sie sprachen ja nicht von eigenen Empfindungen sondern von unumstößlichen Wahrheiten. Wer bestimmte die Parameter für solche Wahrheiten denn? Und für wen?

Idioten, dachte ich abschließend. Wir alle. 
Es fiel mir etwas schwer, doch ich überwand mich, und schlug das Buch zu. Ich werde es auch nicht wieder öffnen. Habe es aber trotzdem ins Regal gestellt. Das Maß der Revolte war erst einmal voll. So etwas will ja auch gelernt sein. Vielleicht lasse ich es in ein zwei Jahren heimlich in die Altpapiertonne fallen. Kleine Schritte.

Dann fiel mir die Architektur und ich mir selbst als angehende Architektin und vor allem gnadenlose Kritikerin mit ästhetischem Blick wieder ein.
Plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge die unsäglichen Eingangssäulen von duftenden Glyzinien und wildem Wein, in dem die Amseln nisten, umrangt. Riesige Hortensienbälle im Vorgarten, die die falschen Butzenscheiben der Küchenfenster verdeckten. Vielleicht eine Bank mit weichen Sitzkissen, daneben zwei leere Weingläser. Unter dem Walmdach ein inzwischen vergessenes Piratenversteck. Ein Lachen, dass durch die Sonne im Wohnzimmer schwebte. Ein Zuhause.

Was soll also das Hochtrabende? Warum die Frage nach der Kunst, der Literatur, der Architektur?

Ein Buch ist erst einmal Buch, ein Haus ein Haus. Beides erschaffen von einem, der sich Mühe gab, im besten Falle einem inneren Drang folgte oder sich einen Traum erfüllte. Jeder einzelne Mensch, der sich nun davon in irgendeiner Form berühren lässt, macht es zu einem Kunstwerk, zu etwas Wertvollem. Mehr geht nicht. Alles andere ist Theorie.