„Antje, du bist jemand, der schreiben muss. Da bin ich mir
sicher“, sagte letztens meine Agentin.
Sie hat recht. Aber nicht nur das. Während sich die
Geschichten in mir herumdrängeln, wer zuerst raus darf, während die ersten
Versionen schnell in die Tasten und auf das virtuelle Papier fliegen, beginnt die
eigentliche Arbeit erst danach. Ich suche Verknüpfungen und logische Momente,
ich recherchiere und analysiere, ich formuliere, stelle um, hobele und feile,
lese das Ganze mit dem Kopf, dann viermal mit dem Herzen und schreibe es in
schön.
Und dann noch einmal alles von vorn und noch einmal und
vielleicht noch einmal. Ich brauche für ein Buch ein halbes Jahr. Ich gebe es
erst dann raus, wenn ich es für etwas Fertiges, etwas Wunderbares und
Wertvolles halte.
Ich bin Kinderbuchautorin mit der Seele und dem Procedere
eines Künstlers.
Leider auch mit der Verletzbarkeit und der Empfindsamkeit.
(So etwas weiß natürlich ein Lehrer nicht, wenn er überlegt,
ob die Klasse lieber Mathe oder Physik für die von der Bibliothek gratis
angebotende Autorenlesung ausfallen lassen soll.)
Ich lese gerne vor und zum Glück kann ich das richtig gut.
Es macht mir Spaß und ich bin begeistert, von dem, was ich tue. Und: Ich kann
diese Begeisterung an die Kids vermitteln. Etwas, das mich richtig glücklich
macht und beseelt an meinen Schreibtisch zurück eilen lässt.
Nach mehreren hundert erfolgreichen Lesungen, war ich mir
sicher, dass mich diesbezüglich nichts mehr aus der Bahn zu werfen vermag.
Doch in der letzten Woche fand ich mich das erste Mal in
einem Fiasko wieder. Das Erlebte erschütterte mich dermaßen, dass ich mir gar
überlegte, in einen Elfenbeinturm zu ziehen und nicht mal mehr von oben zu
winken. Natürlich ist das übertrieben, doch, mein lieber Leser, der Grund dafür
liegt in den ersten Sätzen dieses Posts.
Aber was war eigentlich passiert?
Nachdem etwa 60 Fünfklässler einer Oberschule Platz
genommen hatten, begann ich wie sonst auch meine Lesung. Die Kinder saßen still
vor mir. Erst dachte ich noch: „Na, die sind aber gut erzogen.“ Doch dann bekam
ich ein unruhiges Gefühl. Niemand rüherte sich, niemand lachte, nicht einer
verzog wenigstens den Mundwinkel. So etwas hatte ich noch nie erlebt.
Als plötzlich doch einmal jemand giggelte, hätte ich mich am
liebsten auf ihn gestürzt, ihn geknuddelt und gerufen: „Na, nun erzähle doch
mal den anderen, was daran lustig ist.“
Das machte ich natürlich nicht. Stattdessen erhöhte ich den Ausdruck
meiner Lesung, wackelte mit den Augenbrauen, was ich sehr gut kann, verzog das
Gesicht zu unbändigen Fratzen, was ich noch besser kann beziehungsweise niemals
vermeiden kann. Es funktionierte nicht. Stumm betrachtete mich die Schar wie
eine gelangweilte wissenschaftliche Deligation einen Anwärter für den letzten
Platz im Raumschiff, das gleich die verwesende Erde verlassen würde.
Schon bei derem Eintreten hatte ich gespürt, dass es nicht
ganz einfach werden würde, die Kinder zu packen. Sie sahen älter (einer war
sogar schon 15), gelangweilter, abgeklärter und unkindlichher aus als meine
eigentliche Zielgruppe. Ich hatte also sehr flott und vermeindlich cool
begonnen, versuchte sie, die wahrscheinlich schon zu viel oder viel zu wenig gesehen
hatten, abzuholen, fragte, wer in der Nacht das League of Legends Finale im
Stream gesehen hätte, aber auch, wer Bücher lesen würde. Bei der ersten Frage
meldeten sich mehr als bei der zweiten. Dort meldeten sich etwa sieben Kinder.
Zwei davon nahmen ihre Hand allerdings schnell wieder runter. Es war wohl
einfach zu peinlich.
Doch Sorgen machte ich mir noch nicht.
Ich erzählte etwas mehr als sonst, las etwas kürzer, stellte
einbeziehende Fragen. Ich veränderte meine eigenen Positionen, stellte mich
schließlich hin und ertrug stoisch das Gekicher und die Lästereien über mein
Kleid.
Ich begann zu schwitzen, obwohl ich weder in den
Wechseljahren bin noch die Bibliothek irgendwie zu warm war. Ich spürte, dass
sich mein Haarknoten auflöste, ich musste auf die Toilette und hätte so gerne
etwas getrunken. Ein wenig übel wurde mir auch, trotzdem kam mir immer wieder
das Eierbrötchen mit dem Roqufort-Käse in den Sinn, das ich zum Frühstück
gegessen hatte.
Doch ich machte weiter, während das Gekicher über mein Kleid
wieder verebbte und der grusligen Stille von zuvor Platz machte.
Schließlich kündigte ich das letzte Kapitel an.
Normalerweise rufen die Kinder dann: „Oh, nein!“ und meinen damit „Oh, schade!
Lies doch noch etwas weiter.“ Darum passierte es mir, dass ich den von einer
Handvoll Kinder gestöhnten Ausruf „Boah, nee!!!!“ beinahe falsch interpretiert
hätte.
Doch dann verstand ich und in mir krampfte sich alles noch
einmal fester zusammen. Trotzdem fragte ich nach.
„Mann, Alter, das ist voll langweilig!“
„Ist das wahr?“, fragte ich Masochistin noch einmal.
„Total!“, riefen einige Mädchen, bliesen ihre Ponnys aus den
Stirnen und tasteten in den Taschen nach ihren vibrierenden Handys.
Ich schlug mein Buch zu. Vielleicht war das dumm und
kindisch, auf alle Fälle unreif. Aber ich verweise noch einmal auf die
einleitenden Sätze.
„Gut, dann höre ich jetzt auf“, presste ich an dem
Tränenknoten in meinem Hals vorbei.
„Oh, Mann, Scheiße seid ihr bescheuert!“, schrie da ein
Mädchen. „Das ist doch immer noch besser als Scheißphysik!“
Inzwischen hatten sich die Lehrerinnen von ihrem Schock und
ihrem peinlich Berührtsein erholt.
„Das wäre aber sehr ungerecht denen gegenüber, die zuhören
wollen“, sagte eine.
Sie wollte mit denen, die keine Lust mehr hatten, hinaus in
den Park gehen. Etwa 20 Kinder griffen hurtig nach ihren Jacken.
„Auf keinen Fall!“, rief die andere Lehrerin. „Diejenigen
gehen mit mir in die Schule. Wir machen Physik.“
Natürlich blieben alle sitzen. Bis auf die zwei, die einfach
am lautesten zuviel verkündet hatten.
´Auf keinen Fall!`, wollte ich nun rufen. Ich wollte niemandem vorlesen, der lieber
in Kauf nahm, hier vor mir zu sitzen, als Scheißphysik zu machen. Und ich
wusste genau, wer das war. Aber ich bin kein Denunziant und scheinbar nicht nur
in der Liebe leidensfähiger als gedacht. Ich las das letzte Kapitel ohne dass
sich die Tränen Bahn brachen, die mich innerlich ertränkten, während ein Drittel
der Kinder die Zeit nutzte, geräuschvoll auf die Toilette zu gehen.
Stell dich nicht so an, versuche ich mir seitdem immer
wieder zu sagen und ziehe mir die Erinnerungen der anderen Lesungen der letzten
Woche vor das innere Auge: fröhliche, lachende Kinder, die mich anstrahlen und
mit mir gemeinsam eine lustige und schöne Stunde erleben. Ein Schulleiter, der
mir sagt, dass meine tolle fröhliche Art, die Kinder geradzu in ihren Bann
ziehen würde. Die geflüsterten Worte eines kleinen Mädchens in einem
altmodische Kleid: „Ich möchte auch eine tolle Schriftstellerin werden. So wie
du.“
Trotzdem. Ich muss erkennen: Ich schreibe für lesende Kinder
und solche, die sich gerne Geschichten erzählen lassen. Ich kann zwar Computerspiele,
Smartphone Apps und das Fernsehen nicht ausstechen, aber ich bin auch nicht das
kleinere Übel für Scheißphysik.