„Kapert die M.!“, rief das Söhnchen.
„Wer ist die M.?“, fragte seine Schwester.
„Weiß nicht. Hat die Lehrerin gesagt“, knurrte der Sproß.
„Unsere Nachbarin Frau Müller?“, fragte meine Tochter.
„Ihhh! Die will keiner kapern.“
„Vielleicht Malzbonbons“, sagte ich. „Kapert die Malzbonbons!“
„Was ist das denn?“, fragte mein Sohn.
„Wir können welche machen“, schlug ich vor.
„Au ja!“, riefen die Kinder und folgten mir in die Küche.
Die Malzbonbons schmeckten nicht wirklich, aber wir hatten eine Pfanne zerstört, uns alle etwas verbrannt, und wir hatten Mühe hineingesteckt. Also saßen wir auf dem Sofa und lutschten die bitteren Brocken.
„Die M. könnte ein Schiff sein“, überlegte meine Süße.
„Das Piratenschiff Die Mäusebraut“, sagte der Sohn kichernd.
„Das gefährlichste Schiff jenseits der Polargewässer“, meinte das Töchterchen. „Lasst sie uns mit den neuen Buntstiften malen.“
Die neuen Buntstifte waren prächtig, noch prächtiger war Die Mäusebraut, die mit ihrer Hilfe und vier kleinen Händen entstand. Es würde nicht einfach sein, sie zu kapern.
„Oder die M. sind die Murkelliesen“, überlegte die Schwester, nachdem wir das Werk an unsere Gemäldewand gehängt hatten. „Kapert die Murkelliesen.“
„Wer sind die Murkelliesen?“, wollte der Bruder wissen.
„Oh, die kenne ich“, begann ich raunend zu erzählen. Ich erzähle sehr gern Geschichten. Wir kuschelten uns wieder auf das Sofa. Obendrauf legten wir die gemütliche Decke. „Die Murkelliesen kommen nur in schwarzen Nächten aus dem Moor, greinend wabern sie die dunklen Straßen entlang. Murkelt uns, ihr Leute, rufen sie mit ihren schrecklichen Stimmen. Murkelt uns, denn uns ist so kalt im öden Moor.“
„Und dann?“, fragte das Söhnchen aufgeregt.
„Und dann–“, hob ich an.
„Und dann–“, unterbrach meine Tochter.
Flink übernahm sie die Geschichte der gekaperten, grausligen Murkelliesen. Es herrschte eine lustvolle Konkurrenz zwischen den familiären Bänkelsängern. Wir lutschten noch ein paar Malzbonbons.
„Die Leute haben Angst, dabei wollen die Murkelliesen nur eine Umarmung. Aber wenn man eine Murkelliese berührt, wird man ganz nass und kalt und auch ein bisschen schleimig.“
„Brrr“, machte mein Sohn und schüttelte sich wohlig.
Am Ende der Geschichte, war auch der Nachmittag zu Ende. Wir hatten alles verpasst. Ballett und Hapkido, die Hausis waren nicht gemacht und das Abendbrot hatte ich nicht zubereitet. Dabei sollte es doch einen besonderen Getreideauflauf geben. Einen den ich nicht ganz so schlimm fand und der äußerst gesund zu sein schien.
„Wir haben nicht die M. gekapert“, stellte das Söhnchen fest. „Wenn man die M. kapert wird man klug und schön und ein guter Mensch. Man nutzt den Tag.“
„Auweia, wir haben ja nicht mal Ballet und Hausis gemacht und nur Bonbons gegessen“, sagte die Schwester.
„Hat aber mehr Spaß gemacht, als eine blöde M. zu kapern, oder?“, meinte der Bruder, und die beiden grinsten sich an.
Ich lächelte vor mich hin. Carpe Diem heißt Genieße den Tag, nicht Nutze den Tag. Ob man davon klug, schön und gut wird, weiß ich nicht. Aber wir waren glücklich.
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