Mittwoch, 31. Dezember 2014

Das große Glück – Frau Herden tagträumt


Der letzte Tag des Jahres ist eine feine Gelegenheit, über Glück zu sinnieren. Eigentlich mache ich das ja täglich, sozusagen am Alltag und an den Sorgen vorbei. Ich sinniere allerdings nicht nur darüber, sondern visualisiere mein zukünftiges, mögliches, potentielles Glück sogar und das äußerst intensiv. Am allermeisten male ich mir jedoch das unmögliche Glück in schillernden Farben aus. Meistens, eigentlich immer, geht es um die Liebe, den Ozean mit einem perfekten Break und Schokoladentörtchen mit cremiger Karamellsoße. Nun ja.

Irgendwo und vor vielen Jahren las ich mal, wenn man die Dinge nur recht visualisiere, dann würden sie auch geschehen. Vielleicht stand da auch, dass Dinge und Situationen, die man nicht fest im Visier hätte, nicht eintreten würden, da sie zu beiläufig gewünscht und erstrebt wären. Der Umkehrschluss hat mir aber schon immer besser gefallen. Darum verbringe ich täglich und besonders nächtlich einige Stunden mit intensivem Tagträumen.

Himmel, wie phanastisch könnte mein Leben sein! Es liegt alles da und klar vor mir und es ist äußerst erstaunlich, dass diese Dinge nicht tatsächlich geschehen. Ich gebe mir nämlich verdammt viel Mühe mit diesen Tagträumen: spreche englisch, wenn es notwendig ist, berechne genau, wann ich mit welchem Sport und welcher Ernährung die angebrachte und kraftvolle Figur haben werde, überlege, welche Frisur möglich wäre und wie die im Sommerwind aussehen würde, was ich trüge und schließlich wieviel Geld ich verdient haben müsste, um an den Orten zu sein, an denen meine Tagträume so stattfinden oder wie ich sonst da hinkäme und ob es den Kids dort auch gefiele.

Weil ich das Tagträumen also nahezu perfektionistisch betreibe, – ich vermute mal, es handelt sich dabei um ein besonderes, genetisch bedingtes Talent, vielleicht jenes, das mich auch beruflich zur Geschichtenerzählerin hat werden lassen – tauche ich aus diesen Wachträumen mit erregt klopfendem Herzen und voller Vorfreude auf, stelle mich vor den Spiegel und lächele mein zerknautschtes Gegenüber an: Ich schreibe uns hier raus, Baby!

Manchmal dauert es Stunden, bis ich in der Realität wieder angekommen bin. Zumindest in Zeiten, die ich viel alleine verbringe, was ich sehr gerne tue und berufsbedingt auch tun muss. (Die Schriftstellerei ist ein einsames Geschäft, wer Alleinsein nicht mag, der muss etwas anderes machen.)
Einmal hatte ich sogar Angst, dass ich gar nicht wieder aufwachen wollte. 

Zum Glück bekam ich dann aber Lust auf ein Pflaumenmusbrötchen und einen Kaffee und es war keine Milch im Haus und irgendjemand musste mit einem buttrigen Messer ins Pflaumenmus gestochen sein, denn es schimmelte leise vor sich hin.
Also schlüpfte ich in meine Lieblingsjogginghose und putzte mir die Zähne, mit der Bürste im Mund bestückte ich schnell noch eine Waschmaschine, dann musste ich die 88 Stufen von unserer Wohnung hinunter zum Bäcker um die Ecke hüpfen, den Müll und das Altglas nahm ich auch gleich mit, so etwas bedenkt man, wenn man 88 Stufen über der Stadt wohnt, im Briefkasten waren nur eine Rechnung, die ich nicht zuordnen konnte, und ein Elternbrief (oh Mann, das bedeutete erzieherische Maßnahmen, die ich selbst nicht mochte), und als ich dann endlich mit dem Kaffee und einem Laugencroissant (der Bäcker hatte kein Pflaumenmus im Angebot) am Tisch saß, war ich dermaßen im Alltag angekommen, dass ich auch gleich am aktuellen Manuskript weiterschreiben konnte. Es gelang mir eine ganz passable Passage, an der ich noch ein wenig feilte, bis sie mir richtig gut gefiel, die Kids kamen von der Schule und wir aßen, redeten und alberten etwas herum.

So ist das mit dem großen Glück. California waiting, oder so.

Mittwoch, 17. Dezember 2014

Eine Adventskalendergeschichte



Wir saßen in der teuren Villa der Fotografin beim siebten, achten oder zwanzigsten Kaffee.

„Kommt Ihr Lieben, ein oder zwei Ideen werden wir doch wohl noch finden“, ermunterte sie uns. Wir Lieben waren die Assistentin der Fotografin, der Stylist, dessen Assistent, die Visagistin, die Hairstylistin nebst Assistentin, die Beautyredakteurin eines Frauenmagazins, die Assistentin der Beautyredakteurin eines Frauenmagazins und ein weibliches Fotomodell mit braunem Haar und werbewirksamen hellen Augen. Ich.

Seit zwei Tagen produzierten wir eine Fotostrecke mit dem Titel: 24 Tipps für ein entspanntes Weihnachtsfest. Zweiundzwanzig dieser Tipps hatten wir im Kasten. Keiner davon hatte uns irgendwie entspannt. Die restlichen zwei sperrten sich gänzlich. Es wollte niemandem auch nur noch eine Winzigkeit einfallen, wie man ein entspanntes Weihnachtsfest angehen könnte, wir wussten seit Stunden nicht einmal mehr, was ein entspanntes Weihnachtsfest überhaupt ist. Das war doch nur eine Legende! Eine Legende allerdings, die überdauern würde, da wir seit zwei Tagen alles für deren Überlieferung taten.

Wir hatten sämtliche Hausfrauenkniffe und Milchmädchenweisheiten ausgeschlachtet, wir hatten alle Religionen abgeklopft, der Stylist hatte seine Oma und die ihre Nachbarin angerufen und die Visagistin durfte mit ihrem rudimentären, homöopathischen Wissen auftrumpfen, das sie sich einst in einem vorzeitig abgebrochenen Wochenendseminar zugelegt hatte.

„Müssen es denn unbedingt 24 sein?“ Das war der Assistent des Stylisten, der da leise fragte.

Wir anderen blickten hoffnungsfroh auf die Beautyredakteurin. Ja, warum eigentlich vierundzwanzig?

„Na, diese Zahl liegt ja wohl nahe“, sagte diese jedoch.

Das lag sie wohl, mussten wir enttäuscht zugeben. Denn die Idee war ein dem Dezemberheft beigelegter Adventskalender. Hinter jedem Türchen sollte sich ein entspannender Tipp verstecken.

„Wir könnten hinter die 24 einfach Wir wünschen ein entspanntes und inspirierendes Fest! schreiben“, schlug die Assistentin der Beautyredakteurin vor.

„Genau. Und am Nikolaustag wünschen wir einen prall gefüllten Schuh. Dann hätten wir sie alle“, sagte die Assistentin der Fotografin.

Ich musste kichern. Die Beautyredakteurin blitzte einmal in die Runde. Wir verstanden, unterdrückten ein Stöhnen und taten weiterhin so, als dächten wir nach.

„Wie wäre es denn mit dem guten, alten OHM?“, rief die Fotografin und wir zuckten zusammen, weil sie so rüde die eingekehrte Stille zerbrochen hatte.

„Wir haben schon zwei Yoga- und zwei Atemübungen. Wird ein bisschen viel, oder?“

„Unsinn, das ist doch etwas völlig anderes. Komm Antje! Wir probieren das aus.“ Die Fotografin gab sich große Mühe ihre lahme Idee mit Verve zu unterlegen, sprang wie aufgezogen herum und versuchte jeden, aus der ihn umklammernden Erschöpfung zu reißen.

Ich setzte mich auf eine vom Stylisten schnell ausgebreitete indische Decke ins Fadenkreuz der Scheinwerfer. In den Schneidersitz, den ich irgendwie für passend hielt. Meinen Kopf ließ ich in den Nacken sinken. OHM.

„Wie sieht das denn aus, wenn einer so ein entspannendes OHM von sich gibt? So doch sicher nicht“, zweifelte die Beautyredakteurin.

Alle beäugten mich kritisch.

„Ich könnte meine Handgelenke auf die Knie legen, die Hände nach oben abwinkeln und die Fingerspitzen zusammenführen,“ schlug ich vor.

„Ja, mach das doch mal.“

Acht Augenpaare lagen hoffnungsvoll auf mir.

„Also, ich weiß nicht“, murmelte die Fotografin.

„Vielleicht wenn sie die Augen schließen würde?“ Zustimmende Mhms wurden laut. „Und mach doch mal einen runden Mund, als würdest du gerade das O ertönen lassen.“

„Nicht schlecht, oder?“, sagte jemand, den ich nicht sehen konnte.

Jeder wollte das, was er sah, entspannend finden. Jeder wollte endlich nach Hause gehen. Doch die Wahrheit ist manchmal augenscheinlich, besonders wenn man sie zu beugen versucht.

„Und wie wäre es mit dem MH?“, kam ein leiser Vorschlag. Ich glaube von der Visagistin.

„Also, wenn ihr mich fragt, das sieht total bescheuert aus.“

Das hätte ich ihnen schon vorher sagen können. Über das zustimmende Gemurmel ärgerte ich mich dennoch. Die anderen sich aber auch.

„Auf der anderen Seite ist das Bild nachher drei auf drei Zentimeter groß, man könnte es also gar nicht so genau erkennen“, erinnerte die Fotografin.

„Na, dann machen wir das jetzt so“, bestimmte die Beautyredakteurin.

Unverhohlenes Jubeln erfasste alle. Die Fotografin griff nach der Kamera und drückte ein paar Mal auf den Auslöser. Mit gespitztem Mund ließ ich das Mh ertönen. Einmal zwischendrin entspannte ich mich  ganz kurz. Nur aus Versehen.

„So, das hätten wir. Und nun?“

„Singen! Wie wäre es denn mit Singen?“, fragte der Visagist.

„Ja, Singen finde ich gut. So etwas macht man in der Vorweihnachtszeit“, ging die Beautyredakteurin auf den hoffentlich letzten Vorschlag ein.

Also schmiss ich mich in eine Pose, die meiner Meinung nach ein von Herzen kommendes Singen darstellte.

„Versuch es noch mal anders“, sagte jedoch die Fotografin.

Ich versuchte es anders.

„Nein, das ist nicht überzeugend. Sing mal laut.“

„Laut? Also so, dass ihr es hören könnt?“, fragte ich erschrocken.

Ich wollte niemanden enttäuschen. In Gedanken stellte ich mich alleine unter die Dusche und intonierte mit kläglicher Stimme einen aktuellen Popsong, von dem ich die erste Zeile kannte. Ganz deutlich konnte ich ein Kichern vernehmen.

„Vielleicht eher etwas Weihnachtliches?“, knurrte die Beautyredakteurin.

Auf die Schnelle fiel mir nur Vom Himmel hoch, da komm ich her ein. Ich hasse dieses Lied, weil ich schon in der Vorschule des Magdeburger Domchors damit scheiterte. Trotzdem krähte ich die ersten drei Zeilen im vollen Bewusstsein, dass mein Kopf vor lauter Anstrengung die gnadenlosen Höhen zu erklimmen, rot wenn nicht gar lila anlief während sich blaue Adern aus meinen Schläfen drückten. Ansehnlich, gar entspannungsmotivierend, sah das ganz sicher nicht aus.

Alle starrten der Fotografin über die Schulter auf das kleine Display der Kamera.

„Sieht nicht gut aus,“ unterbrach der Assistent des Stylisten die angespannte Stille.

„Wie wäre es denn damit?“, erklang die vorsichtig fragende Stimme der Assistentin der Beautyredakteurin.

Noch bevor ihr zagendes Stimmchen ganz verhaucht war, gab es ein ohrenbetäubendes Scheppern.

„Oh, nein, meine Tuba!“, schrie die Fotografin entsetzt und beruhigte sich erst, als sie ganz sicher war, dass ihr riesiges Instrument keine Delle davongetragen hatte.

„Super. Machen sie doch mit ihrer lieben Familie mal wieder Hausmusik. Und die Mutter bläst die Tuba“, sagte der Assistent des Stylisten und feixte mich erwartungsvoll an.

„Das ist nicht euer Ernst,“ protestierte ich. Ich behauptete zwar immer, mir für nichts zu schade zu sein, aber hier tat sich eine Grenze auf. Mit diesem Ungetüm wollte ich mir nicht die drei auf drei Zentimeter hinter der Nummer 24 eines Adventskalenders teilen.

Aus schierer Verzweiflung und in Ermangelung einer besseren Idee, begann ich aus vollem Halse Oh, du Fröhliche zu krakeelen, wobei ich meinen Körper in etwas verrenkte, was ich so ähnlich mal bei einer Yoga turnenden Freundin sah.

„Vielleicht ist die Idee mit dem Wunsch für ein entspanntes Weihnachtsfest hinter der 24 doch nicht so schlecht.“ Mit diesen Worten und einem höchst irritierten Blick auf mich unterbrach die Beautyredakteurin meine lautstarke, gymnastische Übung und erlöste uns endlich.

Später fuhr sie mich ins Hotel. Während ich aus dem Seitenfenster in den lauen Sommerabend starrte, stellte ich mir unzählige Frauen vor, die erwartungsfroh die Türchen ihres Adventskalenders öffneten und die von einem modernen Frauenmagazin abgesegneten Entspannungstipps befolgten. Wie viele würden am 23. Dezember in verkrampfter Haltung am Boden kauern, vielleicht mit einer indischen Decke unter dem Hintern und ein OHM in den Raum stöhnen?

„Sag mal, hast du gar kein schlechtes Gewissen?“ fragte ich die Beautyredakteurin.

„Warum?“

„Na, wegen des Quatsches, den wir uns da ausgedacht haben. Stell dir vor, die Leserinnen machen das wirklich nach.“

„Es zwingt sie doch niemand dazu.“

„Na, aber viele glauben doch, was in der Zeitung steht.“

„Wir machen die Zeitschrift, um zu unterhalten, nicht mehr und nicht weniger.“

„Trotzdem hast du doch eine gewisse Verantwortung“, ließ ich nicht locker.

„Aber du hast doch auch mitgemacht“, sagte sie leise.

„Wenn ich es nicht gemacht hätte, dann hättet ihr einfach ein anderes Model gebucht. Und ich brauchte das Geld.“

Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite an. Den Rest des Weges schwiegen wir.

Mittwoch, 10. Dezember 2014

Oh, du Fröhliche! – Geschenke suchen und finden in der Adventszeit



Als ich ein kleines Mädchen war, stöberten meine Schwester und ich in der Adventszeit durch die 60 Quadratmeter unserer sozialistischen Wohnung, spähten hinter alle Schranktüren und durchkramten – vorsichtig, ganz vorsichtig – die Kästen unterm Sofa und die Schubladen im Schlafzimmer meiner Eltern. Wir waren schnüffelnde Spurensucher auf der Jagd nach den versteckten Weihnachtsgeschenken.
Nachdem wir nämlich herausgefunden hatten, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt, erklärten wir das Geschenkeaufspüren in der Adventszeit zu unserer Passion. Sehr zum Ärger meiner lieben Frau Mama, die in jedem Jahr erneut ein Versteck in der viel zu kleinen Wohnung suchen musste, das doch immer wieder von uns gefunden wurde, wie ihr verräterische Schokoladenfingerabdrücke oder sehr ungeschickt zurückgelegte Kleiderstapel erzählten.
Ich mag mir ihre Enttäuschung gar nicht vorstellen, wenn sie freudig etwas Schönes für ihre Mädchen gefunden hatte, das aus irgendeinem Grunde aus dem öden Plansollwarenangebot der ehemaligen DDR, die sich ja auch nicht entblödete Weihnachtsengel geflügelte Jahresendzeitfiguren zu nennen, herausstach, und dieses Besondere dann bis zur Bescherung verwahren wollte, um es uns auswickeln zu sehen während sich unsere kleinen Münder zu einem freudigen Oh formen und unsere Augen Sternen gleich strahlen würden.
Das mussten wir dann am heiligen Abend spielen. Unter den Argusaugen unserer Mama, die uns nicht verraten hatte, dass sie wusste, dass wir wussten, sondern uns die freudige Überraschung aufführen ließ. Wir befürchteten erst, dann ahnten und schließlich erkannten wir siedend heiß, dass sie unser Spiel durchschaute. Oh, wie bitter brannte die gerechte Scham in unseren Herzen unterm geschmückten Tannenbaum.
Warum taten wir es dann aber im nächsten Jahr wieder?
Ich weiß es nicht. Es war vielleicht dieser Kribbel aus Jagdfieber und erwartungsvoller Vorweihnachtszeit. Dieses „Ob es schon Zeit ist?“ oder das „Hast du gesehen, sie trug heute einen großen Beutel nach Hause und ist gleich im Schlafzimmer verschwunden?“ Nach den versteckten Geschenken zu suchen, gehörte einfach dazu.
Und wie groß war die Freude, wenn wir doch nicht alles entdeckt hatten, wenn es doch noch eine echte Überraschung gab, etwas, das wie vom Weihnachtsmann gekommen war, das wir nicht gefunden hatten, weil wir es vielleicht nicht einmal zu wünschen gewagt hatten.

Wie sehr unser Verhalten meine Mutter ärgerte, enttäuschte, vielleicht sogar verletzte, kann ich nur ahnen. Ich weiß aber, wann es aufhörte. Das war 1982. Aus irgendeinem Grunde hatte die Regierung beschlossen, das jährliche Plansoll an Schokoladenwaren wäre bereits im Sommer erfüllt gewesen. Es gab keine Weihnachtsschokolade. Ich war damals für die kleinen täglichen Einkäufe zuständig. Als ich vom Schokoladenmangel hörte, machte ich das zu meiner Mission: Ich würde dafür sorgen, dass meine Familie am heiligen Abend ein Stück Schokolade essen konnte.
Wann immer sich über den Herbst irgendwo lange Schlangen bildeten, ich stellte mich hinten an. Es konnte sich am anderen Ende nur um den Verkauf von Weihnachtsschokolade, Orangen oder Mohrenköpfen handeln. (Mohrenköpfe kaufte ich übrigens nie, ich war mir unsicher, was das eigentlich sein sollte.) In wie weit meine Familie überhaupt mitbekam, in welcher selbst erklärten Lage ich mich befand, weiß ich nicht. Aber als ich mir zu überlegen begann, wo ich die eventuell aufgespürte Schokolade bis zum Fest verstecken könnte, war der Zauber plötzlich gebrochen. Das war irgendwie schlimmer, als die Wahrheit über den Weihnachtsmann.

Mittwoch, 3. Dezember 2014

Ich habe die Socken schon an – Es ist kalt, doch das Kind trägt Sommer


Heute haben wir den 3. Dezember. Seit einigen Tagen ist es nun kalt geworden. Doch noch, muss man sagen, in diesem wärmsten aller Jahre seit Anbeginn der Wetteraufzeichnungen. Ich gebe zu, das ist verwirrend. Trotzdem. Es gibt da ein Phänomen, welches ich schon so lange beobachte, da ich Kinder habe, und das ich bis heute noch nicht verstanden habe: Kinder, Jungs, zumindest mein Sohn zieht sich nicht gerne warm an.

Vorgestern brachte ich das Altpapier runter. Die Tonne war gerade geleert worden und stand darum auf der Straße. An der deshalb leeren Stelle in der Hofeinfahrt lag eine schwarze Jacke. Die Jacke, die mein Sohn angeblich seit Tagen draußen trug. Erschüttert blieb ich davor stehen. Wie lange lag sie da schon? Die Tonne wird alle 2 Wochen geleert. Etwa solange bestand ich auf die warme Jacke, wenn mein Kind das Haus verließ. Die ersten 3 Tage gab es deswegen lautstarke Diskussionen. Danach nicht mehr. Danach hatte er sie hinter der Altpapiertonne versteckt.
„Zieh bitte die warme Jacke an.“
„Hab ich.“
Tür zu.
Ich stehe nicht neben unserer Wohnungstür und überprüfe, ob mein Sohn eine Jacke trägt beim Gehen und Kommen. Wer friert denn schon gerne freiwillig? Und vor allem: Warum?

Ich nahm das klamme, feuchte, schwarze Ding mit hoch in die warme Wohnung.
„Brauchst du eine neue Winterjacke?“, fragte ich den Heimkehrenden und beobachtete heimlich, wie er versuchte, beim Antworten nicht mit den Zähnen zu klappern.
„Nö, wie so? Ich hab´ doch die schwarze.“

Vielleicht sind Jacken per se uncool, dachte ich. Aber eine schnelle Überprüfung (in unserer Straße liegen 2 Gymnasien) brachte keinerlei Beweis für diese These.
Was war es also dann?

Ich erinnerte, dass das schon immer Thema war. In jedem zur Neige gehenden Herbst musste ich schließlich die Bermudashorts verstecken, damit mein Kind gezwungenermaßen in der morgendlichen Eile zu den langen Hosen greifen musste. Der Abschied von den Sommerklamotten ist jedes Jahr ein schmerzhafter und langwierig bis zum ersten Schnee.
Vielleicht weil dünne Shirts und kurze Hosen einfach leichter sind, weder auftragen noch kratzen, Bewegungsfreiheit gewährleisten und von besseren Zeiten erzählen? Oder ist das Anziehen selbst eigentlich etwas ganz und gar Unnatürliches und daher Unangenehmes? Das ließ mich mein Kind zumindest von Anfang an glauben. Ganz besonders Jacken und – nicht zu vergessen – Socken scheinen Höllenqualen zu bedeuten.


Ich habe ein Foto meines noch kleinen Sohnes. Sauer und aufmüpfig schaut er in die Kamera. Die dahinterstehende Mutter musste sich das Lachen verkneifen. Denn gerade hatte er ihr folgende Worte um die Ohren gefeuert: „Ich habe meine Socken schon an!“ Einen grandiosen Witz hatte er jedenfalls  immer.

Heute liegt draußen sogar Schnee. Das ist sichtbare Kälte. Vielleicht ist das eventuell Jackenwetter?