Dienstag, 12. November 2013

Ich könnte heulen – Lesen an "schwierigen" Schulen

Meist lese ich an Schulen oder auf Lesefesten. Dazu haben mich interessierte Menschen eingeladen, die die Kinder auf Lesungen vorbereitet haben. Kinder, denen im Laufe ihres Lebens das Medium Buch vermittelt wurde.


Manchmal ist es jedoch ganz anders.
Zur Zeit weile ich in Braunschweig und lese fünf Tage lang je dreimal im Rahmen der Braunschweiger Kinderbuchwoche an den verschiedensten Schulen. Diese konnten sich für die Lesungen bewerben, das heißt, sie müssen sie nicht bezahlen, ein engagierter Förderkreis kulturinteressierter Eltern ist nicht nötig.


Daraus folgt, dass ich auch vor Klassen sitze, deren Schüler gemeinhin die angebotene Bildung nur von sehr fern betrachten. Da sitzen Kinder vor mir, denen noch nie vorgelesen wurde, die nicht stille sitzen, nicht richtig schreiben und auch nicht lesen können. Kinder, deren Eltern keine Zeit oder keine Lust haben, sich für Kultur oder eben Bildung zu interessieren oder sie an ihren Nachwuchs zu vermitteln. Hinzu kommen natürlich auch noch die Jungen und Mädchen, die tatsächlich eine gravierende Lernschwäche haben.


Diese Lesungen sind sehr anstrengend für mich – emotional anstrengend. Ich weiß, dass ich hier nicht mit einer Lesung ein kleines Leben ändern kann und doch versuche ich es trotzdem irgendwie.
Ich kam nicht umhin, einige Unterschiede festzustellen. So fiel mir auf, dass die Kinder in solchen Schulen den Humor meiner Bücher nicht verstehen. Stumm blicken sie mich bei Stellen an, an denen sonst losgeprustet wird. Dafür reagieren sie bei ekligen Passagen besonders heftig.
Natürlich sind meine Beobachtungen keine empirischen Erhebungen – und doch, ich muss die ganze Zeit darüber nachdenken.


Ich gebe alles bei solchen Lesungen. Ich verstelle meine Stimme noch etwas mehr, schreie, flüstere und raune. Es spornt mich an, wenn sie mir an den Lippen hängen und förmlich in mich hineinkriechen. Ich versuche mich nicht irritieren zu lassen, wenn ein Junge plötzlich laut hinter mir aufgetürmte Stühle zu zählen beginnt. Es waren 47.
"Bitte, bitte, hör nicht auf zu lesen", flehten die Kinder, als ich das Buch schließlich zuschlug. Sie kamen auf mich zu, umarmten mich und baten mich, ganz, ganz bald wiederzukommen. Dabei hatte ich den Eindruck gehabt, dass mindestens die Hälfte gar nicht zuhören würde. Doch dem war gar nicht so.


Auf dem dunklen Gang sprach mich nach einer solchen Lesung eine Sozialarbeiterin an.
"Haben die gerade etwas geschenkt bekommen? Sie wirken so freudig, geradezu euphorisch."
"Ja", antwortete ich, "ich habe ihnen vorgelesen."
"Na, ich meine, etwas richtiges."
Ich musste schlucken – und sah mich in diesem Gebäude um. Bedrückend schlug auf mich ein, dass hier nicht sehr viel Liebe herrschte, wenig Interesse war, irgendwie selbst die Hoffnung sich in den dunklen Ecken versteckte.


Auch die unfreiwillig belauschten Lehrerzimmergespräche drückten mir auf das Herz. Hier ging es nicht um kreative Ideen, lustige Ausflüge und die nächste Aufführung der Theatergruppe. Hier saßen erschöpfte Lehrkräfte, die beieinander Trost und Hilfe suchten. Hier ging es um Gestörtheit, wütende Eltern, Aggression, Lernrückstand und Apathie.


Ich trage das nun mit mir herum. Auf einem abendlichen Autorentreffen gab mir ein geschätzter Kollege den Rat, solche Erlebnisse auf einer beruflichen Ebene zu belassen. Sie als Schriftstellerin wahrzunehmen, sie aber nicht in meine Seele kriechen zu lassen. Mitleid hilft eben auch niemandem. Daran werde ich arbeiten müssen. Denn ich könnte immer noch heulen.

8 Kommentare:

  1. ....wie soll man sowas nicht an sich heran lassen ??? Mir würde es wahrscheinlich auch nicht gelingen, sind das doch alles Kinder die die Zukunft unseres Landes sind. Und so wie Du schreibst liegt es ja eindeutig an dem Umfeld in dem sie aufwachsen und nicht an dem Desinteresse der Kinder selbst. Es ist schon sehr traurig, wenn man sieht welch wenige Möglichkeiten manchen Kindern offen stehen um sich zu entfalten und zu entwickeln, sie aber geradezu danach lechzen etwas Aufmerksamkeit, Wärme, Zuneigung, Verständnis oder einfach nur gemeinsame Zeit zu bekommen.
    Das kann einem ja nur traurig und nachdenklich machen !
    LG Christiane

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  2. "Ich weiß, dass ich hier nicht mit einer Lesung ein kleines Leben ändern kann..." Natürlich das kannst du das! Nicht bei jedem Kind, aber nach dem, was du über die Reaktionen schreibst, glaube ich, dass du bei vielen von ihnen schon ein klein bisschen was verändert hast. Und bestimmt wird in einigen von ihnen dadurch Interesse für das Lesen geweckt.

    Wäre es nicht möglich, aus Buchspenden oder ähnlichem eine kleine Bibliothek an diesen Schulen einzurichten für die Kinder, die von zuhause aus nicht die Möglichkeit haben, an Bücher zu kommen? Es ist schade, dass die Lehrer inzwischen auch schon völlig überfordert sind und selbst keine Energie mehr für soetwas haben. Meine Bewunderung für deinen Vorlese-Einsatz jedenfalls hast du! =)

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  3. Ich arbeite an solch einer Schule, in der Nachmittagsbetreuung. Ich habe auch oft damit zu kämpfen, welche Defizite manche (eigentlich sogar eher viele) Kinder haben, weil sich deren Eltern einen Dreck um sie scheren. Ich habe u.a. eine Natur-Gruppe, jetzt ist wieder ein Kind dabei, das noch nie vorher in einem Wald war. Und sich nach einem Regenschauer über den braunen "Schleim" am Boden wunderte. Acht Jahre alt. Wir haben Kinder, deren Eltern es nicht schaffen, dass die Kinder morgens ihren Schlafanzug ausziehen, sie ziehen einfach Jeans und Pulli drüber. Manche waschen sich tagelang nicht und wir sind es, die sich oft darum kümmern, dass sich Kinder waschen und saubere Socken anziehen. Glaub mir, das macht mich wütend und sehr traurig, immer wieder. Aber das ist auch eben der Ansporn, aus dem heraus ich tolle Sachen für diese Kinder auf die Beine stelle.
    Natürlich ist es wichtig, eine gewisse Distanz zu diesen Schicksalen aufzubauen, aber bitte keine Mauer, die uns einfach nur unseren Job tun und keine Herzenswärme hindurch läßt! Es ist doch auch irgendwie ein gutes Zeichen, dass uns das nicht kalt lässt! Dann lieber mal ein bisschen heulen und grübeln, mitfühlen, wütend sein. Um dann gerade diesen Kindern eine Extra Portion von uns schenken zu können! Also, mach unbedingt weiter so!

    Ich schreibe übrigens auch für Kinder (Bastel-Sach-Mitmachbücher). Ich lasse die Kinder ein wenig teilhaben am Entstehungsprozess, erzähle immer mal wieder, was ich gerade mache, wie weit ich bin etc. Manche Sachen probiere ich mit ihnen aus, manchmal brauche ich ihre Meinung. Und diese Kinder haben am allermeisten mitgefiebert, als die Bücher rausgekommen sind. Sie haben geklatscht, mir die Hand geschüttelt, gejubelt und mich beglückwünscht. Das war wirklich ganz besonders. Und das von Kindern, in deren Leben Bücher so gut wie nur in der Schule zum Lernen eine Rolle spielen. Das berührt mich auch sehr.

    Was wir (und besonders die Lehrer) übrigens oft für Probleme haben: Es gibt kaum coole, altersentsprechende Texte, die von unseren speziellen Kindern gelesen und verstanden werden können. Es ist nämlich in der Tat so, dass ihnen viel Wortwitz entgeht und Texte dadurch langweilig sind. Bücher, die zum Alter passen, sind zu schwierig. Mit 12 Jahren Erstlesebücher zu lesen, ist einfach Babykram. Das ist super schade.

    Viele Grüße von
    Kathi Pirati ;)

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  4. Das würde ich ganz anders sehen! Diese Kinder, dass weiß ich aus Erfahrung, bekommen wirklich nicht viel von dem, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Gerade deshalb kann so eine schöne Sache wie eine Lesung ganz neue Töne in den kleinen Seelen anschlagen. Fenster aufmachen, die noch verschlossen sind. Diese Kinder halten oft nicht viel von sich selbst. Und wenn dann jemand kommt und ihnen Gutes tut, dann ist das Balsam für die Seelen.
    Ihr fehlerhaftes Benehmen, nicht still sitzen können, "eine Show machen", das sind alles verzweifelte Versuche zu kommunizieren, wo es nicht oder nur mangelhaft erlernt wurde.
    Ich finde es ganz toll, dass da jemand hingeht, vorliest, liebevolle Zuwendung verteilt und somit den Kindern und auch den oft verzweifelten Lehrkräften ein bisschen mehr Sonne bringt. Und vielleicht hier und da bewirkt, dass noch mal Neues ins Rollen kommt....

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  5. das was Du da schreibst, macht mich einfach nur traurig, denn all die Kinder können ja nichts dafür. Kein Kind dieser Welt kann etwas dafür, in welche Familie es geboren wird. Es selbst vielleicht mal besser machen? Da frag ich mich wie, wenn es nie etwas anderes gelernt hat und es somit als "normal" erachtet.

    Es freut mich umso mehr, dass Du durchgehalten hast.... und wie man sieht, hat es sich gelohnt... es hat vielleicht nicht ihr Leben verändert, aber zumindest für einen Moment positiv erhellt! Viele kleine Momente bewirken schließlich auch viel....

    Hör bitte niemals damit auf die Kinder wenigstens kurz zu beglücken... denn sonst erfahren sie es nie! Und ich finde schon, dass man so etwas an sich heranlassen darf!

    Liebe Grüße
    Pamy

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  6. ein wunderbares geschenk, dass du den kindern gemacht hast/machst! ich kenne ähnliches und bin jedesmal wieder erschüttert und gehe trotzdem mit jedesmal neuer euphorie und enthusiasmus wieder in solche schulen. und bin stolz, noch illusionen zu haben - denn ohne die wäre die welt ganz schön traurig...
    lieben gruß
    dania

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  7. Ich selbst bin Lehrerin an einer "schwierigen" Schule. In der die Kinder zum großen Teil einen Text nur entziffern können und dessen Inhalt vor lauter Mühe am Entziffern nicht mehr verstehen. Ich bin in der glücklichen Lage, auch das Fach "Ethik" zu unterrichten. Und habe es erstmals gewagt, meine Unterrichtseinheit über "Freundschaft" nur anhand eines Buches, welches ich der 6. Klasse vorlese, aufzubauen. Ich lese den Schülern das Buch vor, sie besitzen es nicht. Sie hängen an meinen Lippen. Manchmal besprechen wir einzelne Sätze, einzelne Aussagen der Personen im Text. Beobachten, überlegen die Gefühle der Personen. Wie die Geschichte weitergehen könnte... Noch nie waren die Kinder so lange so aufmerksam und redselig. Schüler, die ansonsten kaum ruhig sein und kaum still sitzen können... Sie begegnen mir auf dem Flur und sagen, sie seien gespannt auf das nächste Kapitel... Schüler, die zu Hause kaum ein Buch besitzen... Was will man mehr?

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  8. ....ein bisschen spät habe ich deinen Blog samt dem Post entdeckt. Aber besser spät als nie. Warum ich mich dazu äußern möchte? Ich bin Mutter & Autorin, halte ebenfalls Lesungen an Grundschulen. (www.barbara-rath.de)
    Die Stiftung Lesen hat schon vor 7 Jahren ermittelt, dass mehr als 63 % aller Eltern NIE mit ihren Kindern lesen. Inzwischen dürfte die Zahl deutlich gestiegen sein.
    Keine noch so gut geleitete Kindergartengruppe, keine noch so engagiert geführte OGATA ersetzt einem Kind die eigene Familie. DAS halte ich für das zentrale Problem. Kinder in die Welt zu setzen, gehört zur aktuellen Glücksideologie der Gesellschaft, aber wenn sie dann da sind, ist die Bereitschaft der Eltern, wirklich mit ihrem Nachwuchs zu leben minimal. Politisch gewollt ist, dass möglichst beide Elternteile arbeiten. Dass Kinder dabei die Zeche zahlen, welchen unglaublichen emotionalen Belastungen sie in der familienfernen Gruppenerziehung ausgesetzt sind, werden Soziologen uns in 10 bis 20 Jahren erklären, wenn viele Schicksale bereits unumkehrbar und schwer belastet sind. Ich habe Angst vor dieser Generation, die ich bei Lesungen oft so erschütternd dankbar für "mein bisschen Zuwendung" erlebe, dass es mir nicht schwerfällt, mir vorzustellen wie einsam und verlassen diese Kinder in ihrem Alltagt sein müssen, dass bereits ein wenig Vorlesen sie völlig distanzlos macht, sodass sie am Ende der Veranstaltung buchstäblich klammern - wie Ertrinkende. DAS macht mich immer wieder völlig fertig.
    Meine Erfahrungen an Schulen reichen von nachtschattenschwarz bis höchstbeglückend. Gefährlich, was ich jetzt feststelle, aber die ganz scheußlichen Lesungen scheitern an Lehrern, nicht an Kindern. Eine Lehrkraft, die es normal findet, mich unbegrüßt wie ein Möbelstück auf dem Flur stehen zu lassen bei meiner Ankunft nachdem ich mich artig vorgestellt habe, was will die Kindern vermitteln? Andererseits werde oft so herzlich aufgenommen, dass es mich fast schon befangen macht.
    Immer wieder rausgehen und sich diesen Kindern stellen, das ist alles, was mir im Zusammenhang mit meinen Erlebnissen einfällt. An meinen schwarzen Lesetagen frage ich mich, ob es nicht besonders grausam ist, im Rahmen der Veranstaltung den Schülern ein wohlig-warmes "So-schön-könnte-es-sein-Gefühl" zu vermitteln, um sie danach wieder zu verlassen, allein zu lassen. Ich hoffe halt, dass diese jungen Menschen viel stärker sind als ich sie mir vorstellen kann und dass ihre Fähigkeit zu Offenheit, sozialem Verhalten und Liebe sich - trotz allem - positiv entwickeln.

    LG und dir weiterhin viel Erfolg und möglichst viel Spaß bei deinen Lesungen!
    Barbara

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