Ich könnte immer wieder vor mich hinlachen, wenn ich an die
Episode einer Lesenacht denke, die mir mein Sohn einst erzählte.
Alle Kinder der damals Vierten hatten es sich in ihren
Schlafsäcken auf dem Boden des Klassenzimmers gemütlich gemacht. Wir Eltern
hatten für ein leckeres Büffet gesorgt und jedes Kind sollte sein Lieblingsbuch
vorstellen. Schließlich war ein pfiffiges Kerlchen an der Reihe, das gemeinhin
nur tolle Noten schrieb. Der Kleine las allerdings nicht so gerne. Trotzdem
hatte er ein buntes Buch dabei und die Kinder erwarteten gespannt seine Lesung.
„Zack! Bum! Bäm! Wusch! Zaperlap! Zaperlip!“ Dazwischen
etwas Dialog.
Die Zuhörer konnten es sich nicht verkneifen, in Gelächter
auszubrechen, obwohl das streng verboten war. Schließlich warf der kleine Vorleser
das LTB Taschenbuch wütend in die Ecke.
Dabei finde ich die Lustigen Taschenbücher wunderbar. Sie
haben zwar wenig Worte dafür jedoch eine gehobene Ausdrucksweise. Mein Sohn
verschlang sie, sobald er lesen konnte. Darum aß er auch nicht, sondern speiste,
und er erfragte immer wieder geschichtliche Details unserer Wirklichkeit, die
er in ähnlicher Form schon durch die Vorfahren Entenhausens erfahren hatte.
Allerdings kann man LTBs tatsächlich nicht vorlesen. Andere Bücher hatte der
Junge aber nicht. Er laß eben einfach nicht gerne.
Nach hunderten Lesungen, die ich Kindern gab, kann ich
sagen, er ist damit nicht alleine. Irgendwo hörte ich einmal, etwa 10 % der
10jährigen Jungs würden lesen. (Im Gegenzug zu 90% lesender Mädchen.) Ob diese
Zahlen stimmen, weiß ich nicht, aber meine Erfahrung zeigt ganz deutlich: Spätestens
bei Lesungen ab der 5. Klasse trennen sich die Geister. Man spürt, dass das
Buch längst durch Handys, Playstations und Computer ersetzt wurde. Die
Fähigkeit bei einer Lesung stille zu sitzen oder gar aufmerksam zuzuhören,
nimmt rapide ab. Versuchen sich die Kinder der Gymnasien noch vorbildlich und
wohlerzogen zu benehmen, pfeffern einem die Hauptschüler ehrlich ihre Meinung um
die Ohren.
Ich finde das nicht schlimm. Viele Kinder lesen nicht gerne
und finden es langweilig, vorgelesen zu bekommen. Punkt. Da ändert auch die
sogenannte Leseförderung nicht zwangsläufig etwas dran.
Ich versuche darum, die Kids mit wilden Grimassen, extra
lustigen (nicht zu langen) Stellen, mit verstellter Stimme, mit einem
anschließenden Quiz mit kleinen Preisen und lautem Jubeln aus der Reserve zu
locken. Das klappt zu 99% auch supergut. Dafür knallt das eine Prozent dann extra hart rein. Denn
obwohl ich es toll finde, wenn die Kids ehrlich sind, obwohl ich es akzeptiere,
wenn Bücher für manche überhaupt keine Rolle spielen, bedauere ich es doch
sehr, wenn man sie schon mit 10 Jahren für das Buch verloren hat oder gar niemals
hatte. Lesungen vor solchen Kindern strengen mich psychisch und stimmlich sehr
an. Denn ich versuche es natürlich trotzdem. Gerade dort.
Ich kann mir jedoch noch so viel Mühe geben und einem
Derwisch gleich tanzend und jubelnd das Leseerlebnis feiern, Kinder, denen nie
gesagt wurde, wie wunderbar Bücher sind und dass es lohnt, sich durch die
schwiergen Anfänge des Lesens (ja, manchmal auch) zu quälen, werden mich immer
nur mit offenem Munde anstarren, mich für bekloppt halten und sich dann wieder
ihrem Nachbarn oder irgendeiner Sache in ihrer Tasche oder vor dem Fenster zuwenden.
Das Wort bildungsfern klingt ganz, ganz schlimm, aber es
bezeichnet vielleicht am diplomatischsten eine Tatsache. Kindern aus solchen
Familien wird weniger vorgelesen und es werden ihnen auch viel seltener Bücher
gekauft. Dass sie eine Liebe dazu entwicklen sollen, scheint ohne etwas Aktion
und Jubel beinahe unmöglich.
Und dann sind da eben noch jene, die einfach nicht gerne
lesen und vom Buch per se nichts halten. Die vermag sicher auch ich nur zu
einem Bruchteil vom Gegenteil zu überzeugen. Aber ich bin zumindest ein
Versuch. Ein Versuch der unter die Rubrik Leseförderung fällt und zumeist von
Sponsorengeldern bezahlt wird.
Doch die können völlig verschwendet sein, und das vielleicht
an Orten, wo sie gerade hätten nutzen können, wenn man einer völlig unvorbereiteten
Klasse einfach einen Autoren vor die Nase setzt. Der ist dann schlicht und
nix anderes als die Freistunde.
In leseunwilligen und buchfernen Klassen würden nur die Kids,
die sowieso schon lesen, sich nach einer Autorenlesung ein weiteres Buch aus
der Bibliothek holen. Vielleicht noch zwei drei mehr, wenn ich total heiser,
völlig erschöpft und am Ende meiner Kräfte nach Erzählen, schauspielerischer Darstellung
der spannensten Buchpassage, Quiz und ausführlicher Fragerunde voll sprühenden
Witzes aus dem Klassenzimmer wanke.
Nein, so geht es nicht! Gewisse Dinge benötigen der
Vorbereitung. Zum Beispiel durch einen selbst begeisterten Lehrer. Wenn ich vor
oder zwischen den Lesungen unbemerkt im Lehrerzimmer sitze und Zeuge von
ärgerlichen Ausrufen werde wie „Jetzt haben wir heute auch noch die blöde
Autorenlesung! Wie sollen wir denn da den Lernstoff schaffen! Nächste Woche
schreiben wir die Arbeit!“, dann möchte ich am liebsten schreien und weinen
zugleich. Himmel, die haben unsere Kinder unter ihren Fittichen!
Wie sollen sich Kinder denn über etwas freuen, von dem sie
gar nicht wissen, dass es erstens passieren wird und zweitens, dass es schön sein
kann?
Dabei wäre eine Vorbereitung so einfach:
Man könnte sich zusammen auf die Lesung als etwas Schönes
und Besonderes freuen.
Der Autor könnte im Unterricht zuvor vorgestellt werden. Die
Kinder könnten vielleicht kleine Steckbriefe anlegen und gemeinsam spannende
Fragen vorbereiten.
Das Buch könnte vorgestellt werden, vielleicht sogar schon
etwas angelesen werden. Auf alle Fälle muss es (zumindest nach der Lesung) in
der Klassen- oder Schulbücherei zur Verfügung stehen.
Sonderpunkte (die mir jedes Mal die Tränen in die Augen
treiben) sind:
Alle Kinder würden gemeinsam den Leseplatz mit Stuhl und
Tisch, Wasser, vielleicht einigen Blumen oder Keksen vorbereiten.
Die Kinder könnten zum Dank ihr Klassenlied singen oder selbst
ein kleines Gedicht vortragen oder auch ein kleines gemaltes Bild schenken.
Ich bin der festen Überzeugung (und ich habe es unzählige
wunderbare Male erlebt), wenn Kinder in die Vorbereitung integriert werden (überhaupt,
wenn die Lesungen vorbereitet werden) und wenn Vorfreude vermittelt wird, dann
wird eine Lesung immer ein Erfolg. Ganz bestimmt die meinen (das kann ich ohne
eingebildet zu sein sagen), denn ich gebe mir (so wie die meisten meiner
Kollegen) sehr viel Mühe und habe einen guten Draht zu den Kids. Sicher werden
danach nicht alle freudig zum Buch greifen. Manche Kinder lesen eben einfach
nicht gerne. Punkt. Aber sie werden sich an ein schönes Erlebnis erinnern.
Wahre, richtige Worte. Nur ein Gedanke kam mir dabei, vielleicht liege ich ja auch falsch. Wenn die Lesung mit Schauspiel, Quiz und Preisen einhergeht, wird sie ja zum Event. Zu viel davon, verdrängt doch das Lesen dann, oder? Also kommt man nur mit dem Eventcharakter bei den Unwilligen weiter? Brauchen es die Kinder wirklich oder glauben wir nur, daß sie es brauchen? Definitiv stimme ich den letzten Gedankengängen zu. Es hängt auch an den Lehrern, Lesungen vorzubereiten und dabei den Kindern auch mal etwas zuzumuten anstatt vorzusetzen. Dafür sind sie meist dankbar.
AntwortenLöschenLiebe Frau B., herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Es ist bestimmt richtig, dass man den Fokus einer Sache nicht verlieren darf. Trotzdem ist Lesen erst einmal anstrengend und etwas sperriger zu konsumieren. Es muss ein wenig schmackhaft gemacht werden. Viele Kinder wissen gar nicht mehr, dass Lesen ein echtes Abenteuer ist, das ent- und verführt und Spaß macht. Mein Quiz bezieht sich auf das Vorgelesene. Wenn ich die Fragen stelle, erzähle ich noch einmal, was ich gerade vorlas und entführe die Kids so noch einmal in die Geschichte. Die Preise sind kleine Weltretter-Anstecker mit Illustrationen des Buches. Einen Weltretter-Button tragen natürlich Weltretter, eine wunderbare Gelegenheit, kurz über Nachhaltigkeit zu sprechen. Ein Buch zu lesen ist mehr, als sich an den Worten entlang bis auf die letzte Seite zu hangeln. Ein Buch kann glücklich, nachdenklich und sogar einen besseren Menschen aus uns machen. Das versuche ich den Kindern zu zeigen, in dem ich etwas weitergehe und sie mit dem eben Gehörten nicht einfach zurück lasse. Gemeinsam fangen wir damit noch etwas an. Dass das wunderbar funktioniert, sehe ich daran, dass die Kids strahlend und aufgeregt aus meinen Lesungen gehen (es gibt Zeugen, ;-)) und vielleicht tatsächlich einen Lehrer fragen, ob sie mal eine Weltretter-Stunde machen könnten.
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