Sonntag, 22. Januar 2017

Die Mutter-Kolumne – Bescheidenheit ist eine Zier. Wirklich?

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wieso eigentlich.


Das Söhnchen zeichnete nicht gern. Um das allen ganz klar zu machen, fabrizierte es ausschließlich liederlich hingeschmierte Beweise dafür. Eines Tages verlangte jedoch die Lehrerin als Hausaufgabe einen gezeichneten Tiger.
„Das kann ich nicht!“, schimpfte mein Sohn und radierte wütend ein Loch in die Seite. „Guck, Mama! Jetzt ist das Heft kaputt.“ So, als sei ich schuld.
Ich durchschaute das Problem. „Mein Schatz, du kannst zeichnen. Du schaust aber nicht richtig hin.“
Wir sahen gemeinsam auf das Tigerfoto, das als Vorlage diente. Ich zeigte dem zappligen Kerlchen Verhältnisse und Perspektiven. Langsam verflog die Ungeduld, seine Augen öffneten sich und Strich für Strich entstand unter seinen kleinen Händen ein Bleistifttiger im Sachkundeheft.
„Der Tiger ist toll!“, rief ich.
Glücklich nickte der Kleine. „Das ist der tollste Tiger der Welt, stimmt´s Mama?“
„Stimmt.“

Voller Stolz rannte er damit am nächsten Tag in die Schule. Zurück nach Hause kam er am Mittag jedoch in sehr gedrückter Stimmung.
„Die Nachbarin hat gesagt, der Tiger ist gar nicht der tollste der Welt. Weil Bescheidenheit eine Zier ist“, schrie mein Kind. „Auch wenn ich gar nicht weiß, was eine Zier überhaupt ist.“ Die Tränen, die ihm die Wangen hinunterliefen, waren solche der Wut und welche der Verzweiflung.
Ich schickte der Nachbarin einen telepathischen Fluch und versuchte, meinem Kleinen die neuentdeckte Liebe zum Stift und den Stolz auf sein Werk zurückzugeben. Das gelang leider nur kläglich.
„Vielleicht ist die Nachbarin traurig, weil sie nicht so schön zeichnen kann“, murmelte ich schließlich etwas unpädagogisch. „Solche Leute muss man trösten und man muss nett zu ihnen sein.“
„Auch wenn sie gemeine Sachen sagen?“, fragte er.
„Auch dann.“

Bald darauf fand ein Straßenfest statt. Unter anderem gab es ein Buffet voller selbstgebackener Kuchen. Die Nachbarin verkaufte die süßen Teilchen und erwähnte gern, dass der Schokoladenkuchen von ihr stamme.
„Davon möchte ich ein Stück“, raunte mein Kind.
Da trat jemand heran und lobte eben jenen Kuchen als besonders lecker.
Die Nachbarin winkte ab. „Nicht doch“, juchzte sie hoch erfreut. „So gut ist er mir dieses Mal gar nicht gelungen.“
Ich verschluckte einen Kommentar, ob ihrer gespielten Bescheidenheit. Der Tiger kam mir wieder in den Sinn. Ich verschluckte auch die kleine Wut, die er mitbrachte.
Inzwischen hatte mein Kind in sein Kuchenstück gebissen und krähte krümelspuckend: „Du hast recht, Frau Nachbarin. Der Kuchen ist dir nicht gut gelungen, und besonders lecker ist er auch nicht.“
Ich, erschrocken, und die Nachbarin, empört, starrten meinen Sohn an, dem gerade ein Brocken des Kuchenstücks herunterfiel.
„Das ist aber nicht so schlimm“, meinte er tröstend zur Nachbarin. „Darüber musst du nicht traurig sein.“
In dem Moment wuselte ein Hund zwischen unseren Beinen herum, fand das heruntergefallene Kuchenstück und verspeiste es.
„Guck!“, rief das Söhnchen freudestrahlend, „dem Hund schmeckt es.“

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