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Sonntag, 8. April 2018

Tischdienst – ein Tutorial für ein wunderbares gemeinsames Speisen, Plauschen und Gerichte Tauschen


Mit lauter netten Leuten Selbstzubereitetes speisen, plaudern und Köstlichkeiten tauschen – wenn Euch bei dieser Vorstellung das Herz hüpft und das Wasser im Munde zusammenläuft, dann übernehmt doch den Tischdienst und organisiert eine fröhliche Runde an einer reich gedeckten Tafel. 




Die Idee
Zwei Freundinnen und ich ackern fürs Gemüse, kochen gerne und lieben es, verschiedenste Menschen an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam zu speisen. So kam uns die Idee zum Tischdienst
Zu einem bestimmten Motto kocht jeder Teilnehmer ein Gericht, das auf die große Tafel gestellt wird. Vier kleinere Portionen desselben (oder einer selbst gemachten Zutat) werden hübsch verpackt zum Tausch mitgebracht. Als Paar kocht man natürlich entweder doppelt so viel oder zwei Gerichte. 


Grafik: Selina Willand


Beim Genießen, Rezepte Tauschen und über das Leben Plaudern lernt man nicht nur neue Gerichte und nette Menschen kennen, sondern geht auch mit dem Bauch voller Köstlichkeiten, dem Kopf voller Kochideen und einer Tüte voller Spezereien nach Hause. 

Einen Ort finden
Wer hat schon eine Tafel für etwa 20 Personen zuhause? Also macht man die Not zur Tugend und entdeckt besondere Orte, indem man mit offenen Augen durch die Stadt läuft. Gibt es eventuell offene Veranstaltungsräume oder Kantinen? Könnte man die nette Dame aus dem großzügigen Gewürzladen, den jungen Mann mit seinem Atelier oder die Frau mit der Musikschule gewinnen? Oder gibt es einen netten Ort open air?
Man braucht einen Raum für eine große Tafel, genügend Sitzmöglichkeiten drumherum, mit einem Wasseranschluss, eventuell einem Herd zum Aufwärmen und einer Toilette in der Nähe. 




Planen
Etwa 6 Wochen im Vorfeld bestimmt man einen Termin. 
Tipp: An einem Donnerstagabend von 19 bis 22 Uhr haben viele Menschen Zeit. Oder Sonntags. Dann passt das auch mit dem Kochen gut. Allerdings schauen viele Menschen gerne Tatort. :)
Dann überlegt man sich ein Motto, zu dem gekocht werden soll. Das kann etwas Saisonales wie Frühlingserwachen und Erntedank sein oder etwas Spezifisches wie 1000 Gewürze, Brotaufstriche und Alles aus Petersilie
Natürlich muss man überlegen, wie viele Leute kommen können. Wie groß ist die Tafel, die ich aus verschiedenen Tischen oder aus Böcken und alten Türen bauen kann? Wie viele Stühle kann ich besorgen? Bekomme ich genug Besteck, Gläser und Teller zusammen oder muss die jeder selbst mitbringen? 


Die Einladung
In der Einladung nennt man nicht nur Ort, Zeit und Motto, sondern beschreibt auch die Idee und bittet um Anmeldung bis zwei Wochen vor dem Termin unter der eigenen Email-Adresse. Wer Freude am Gestalten hat, findet unter thegraphicsfairy.com dekorative Vintage-Illustrationen aller Art zum kostenlosen Download. 
Will man etwas privater bleiben, verschickt man die Einladung nur an seine Freunde und Bekannte. Wer neue Menschen zusammenbringen und kennenlernen möchte, lässt die Einladung als Flyer drucken und verteilt sie in Buchläden, Cafés und im Kindergarten. Noch einfacher ist es, eine öffentliche Facebook-Veranstaltung zu erstellen. 


Grafik: Selina Willand


Die Gäste
Am Tag nach dem Anmeldeschluss fertigt man die Gästeliste an. Haben sich mehr Leute angemeldet, als um die Tafel passen, muss man leider einigen absagen. Doch vielleicht wiederholt man das Ereignis und kann darauf vertrösten? Den Gästen teilt man noch einmal genau mit, wann, wo und unter welchem Motto sie erwartet werden. Nun hat jeder Zeit, sich ein Gericht zu überlegen und ein- oder zweimal zur Probe zu kochen. Darüber freut sich die Familie zu Hause. 
Tipp: Etwa 20 Gäste sind ideal. Alle kommen miteinander ins Gespräch und die Speisen sind äußerst vielfältig, aber nicht zu viele, um eine jede zu probieren. 


Vorbereitung
Als Veranstalter hat man natürlich etwas mehr Arbeit als die Geladenen. Auf der Einkaufsliste sollten Servietten und Brot stehen. Außerdem frische Minze, Zitronen oder gefrorene Beeren, um mehrere Karaffen aromatisiertes Wasser als Getränk anzubieten. 
Etwa eine Stunde braucht man, um die Tafel vorzubereiten und einzudecken. Natürlich kann man mottogemäß dekorieren, doch das ist gar nicht nötig. Die Wasserkaraffen, ein paar frische Blumen oder Zweige auf verschiedene Vasen verteilt, und einige Kerzen runden die vielen Speisen, die auf der Tafel Platz finden werden, schön ab. 
Außerdem hält man DIN A5-Karten und einen Stift bereit. Hierauf schreibt jeder Gast, welches Gericht er mitbrachte, und stellt sie daneben. 


Das Ereignis 
In der ersten halben Stunde trudeln die Gäste ein. Jeder beschriftet sein Kärtchen und stellt sein Gericht auf die Tafel. Die vier Tauschportionen aller werden an einem zugänglichen Ort gesammelt. 
Wenn alle Platz genommen haben, begrüßt man die Gäste. In einer Vorstellungsrunde erzählt jeder etwas zu sich und seinem Gericht. Danach ist das Eis gebrochen und alle wünschen sich einen guten Appetit. 
Tipp: Wenn man einen Weinhändler mit ins Boot holt, kann dieser Weine zur Probe oder zum Selbstkostenpreis anbieten. Außerdem kann man mit einem Sekt den Abend eröffnen. 


Die Tauschrunde 
„Noch nie habe ich so lecker gegessen“, wird es unisono nach dem Essen klingen. Dann wird getauscht. Reihum darf sich jeder eine der Tauschportionen nehmen. Danach darf sich der letzte als erster nehmen. Das Ganze findet 4 Mal statt. 
Natürlich wird nach so einem netten Abend niemand den Gastgeber mit dem Abwasch alleine lassen. Während alle spülen und aufräumen, kann man schon den nächsten Tischdienst planen. 

Wer einmal bei uns vorbeischauen möchte, kann das hier tun: Tischdienst 



Freitag, 9. März 2018

Von welcher Zukunft träume ich? – Harald Welzer im Gespräch mit Schülern


Von welcher Zukunft träume ich? –

Harald Welzer, Sozialpsychologe, Gründer von „FuturZwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit“ und Mitbegründer der Initiative „Die offene Gesellschaft“, der sich für eine lebenswerte Zukunftsgestaltung einsetzt und für die zivilgesellschaftliche Verteidigung demokratischer Werte steht, diskutierte das mit Schülern am 9. März 2018 in der Centralstation.

Ich habe das zweistündige Gespräch zusammengefasst. Vorab möchte ich jedoch schreiben, dass die Eingangsfrage von den Schülern nicht beantwortet wurde. Mich schockierte das ein bisschen. Haben die 15- und 16Jährigen wirklich keine eigenen Zukunftsvisionen?




Wir haben das Glück, in einer Zeit und in einer Gesellschaft zu leben, die uns satt, gesund und frei sein lässt. (Selbst Ludwig der 14., Sonnenkönig genannt und bekannt als der europäische Monarch schlechthin, fror jämmerlich im prachtvollen Versailles, in dem es zudem mangels Toiletten aus allen Ecken stank.)
Unsere Lebensumstände ermöglichen es, die eigene Zukunft zu gestalten.

Davor steht natürlich die Frage: Wie stelle ich mir meine Zukunft vor? Und auch: Wie setze ich meine Visionen und Wünsche um?

In einer Demokratie hat jeder Mensch die Chance, das Leben, die Gesellschaft, die Zukunft mitzuformen und zu entwickeln. Eine Chance, die im gleichen Maß Verantwortung bedeutet. Zum Beispiel die Verantwortung, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, nachhaltig zu handeln und diesen Planeten den folgenden Generationen nicht als Mülleimer zu hinterlassen.

Natürlich gibt es unfassbar viele Ablenkungen, die es einem mehr als einfach machen würden, sich rauszuhalten, träge zu werden, die Verantwortung für sein Handeln und für sein Leben abzugeben. Diese Entscheidung muss jeder für sich treffen. Mische ich mich ein, bin ich Gestalter und Bestimmer meines Lebens und meiner Zukunft? Oder versinke ich in den Ablenkungen anderer, die dann für mich entscheiden?
Glücklich werden diese Ablenkungen einen nicht machen. Da können apple, samsung oder netflix noch so viel versprechen.

In einer Welt, in der die Zahlen der absolut Armen, der Säuglingssterblichkeit und Hungertoten stetig zurückgehen, ist nicht alles schlecht und verloren. Auch wenn die dramatischen Darstellungen von Amokläufen, Präsidentenidioten, Krawallen, Unmenschlichkeit, Rechtspopulismus und Flüchtlingssituationen in den sozialen Medien das Gegenteil suggerieren wollen. Sich davon nicht kirre machen zu lassen, sondern sich bewusst zu informieren, die Informationen zu filtern, sich eine eigene Meinung zu bilden und daraus eine Position abzuleiten, sind Schritte in die eigene Richtung. Und diese eigene Richtung bestimmt man selbst. Jedenfalls darf man das.

Täglich ist man extremen Widersprüchen ausgesetzt. So versucht beispielsweise die Werbung den Einzelnen zum Ultrakonsum zu verführen, während Prognosen und Studien auf die Zerstörung der Umwelt hinweisen. Man weiß, ein weiteres Wachstum der Wirtschaft wie in den vergangenen Jahrzehnten ist nicht möglich. Der Planet ist endlich, der Regenwald licht, die Ozeane voller Plastik, der Boden voller Gifte, die Luft angereichert mit festen Partikeln. Zu einer lebenswerten Zukunft gehören aber vor allem existentielle Dinge wie sauberes Wasser, ausreichend Sauerstoff, gesunde Nahrungsmittel und Bewegungsfreiheit. Sinnfreies Habenwollen zerstört die Erde. Ein Weltretter kauft nichts, was er nicht zum Überleben braucht. Das wissen wir. Doch die Innenstädte mit ihren Auslagen, die Werbung in allen Medien und das Internet schreien uns an: Du musst konsumieren! Interessanterweise gar nicht, um zu besitzen, (die wissen selbst, dass niemand Wohnungskrimskrams, das neuste Smartphone oder sieben Hosen braucht), sondern um angeblich glücklicher zu sein. Also, nach dem Motto: Besitz macht glücklich.

Aber stimmt das? Wie lange erfreue ich mich an den neuen Nike Air Max oder am nigelnagelneuen Smartphone? Irgendwann ist es einfach ein Paar Schuhe, damit man keine kalten und nassen Füße kriegt, und eine Kommunikationsmöglichkeit mit zersplittertem Display, die aber zum Glück noch funktioniert. (Im Zweifelsfall genügte aber auch das alte Phone, das der Kumpel noch in der Schublade hat. Hauptsache ist doch, man kann seine Leute erreichen.)
Das Leben selbst würde einem also deutlich machen können, dass man eigentlich gar nicht so viel braucht oder besitzen muss, dass Besitz nicht langfristig glücklich macht und dass es ganz cool wäre, wenn der Planet noch eine Weile ausreichen würde, man im Meer baden könnte, bis zur Atemlosigkeit rennen, um dann einen tiefen Zug frischer Luft nehmen könnte, und dass Vögel, Blumen, Bäume und was die Natur sonst noch vorbringt, eigentlich auch ganz schön und vor allem lebenswichtig sind.
Aber bevor man da bewusst ankommt, hat apple schon wieder das nächste Tablett entwickelt und schaltet Werbung, die einen manipuliert: Ohne das neue Produkt bekäme man nichts geregelt, sei nicht dabei, uncool und irgendwie raus. Trotz besseren Wissens zieht man also wieder los und kauft.
Wer diesen Widerspruch zumindest wahrnimmt und ihn erkennt, ist noch normal in Hirn und Herz. Sich davon zu befreien, selbstbestimmt entscheiden zu wollen, wäre dann der erste Schritt in eine eigene Zukunft.

Es wird immer Menschen geben, denen Zukunft, selbst die eigene, egal ist. Darüber kann ich mich ärgern. Ich kann versuchen, sie aufzuklären, und sie irgendwie wachzurütteln. Aber sie dürfen nicht diejenigen sein, die mein Tun beeinflussen. Sie dürfen mich nicht so sehr frustrieren, dass ich die Lust verliere, zu gestalten und zu bestimmen. Ich entscheide über mein Tun. Die Frage „Wie gehe ich persönlich mit den Möglichkeiten, die sich mir bieten, um“, macht das Leben spannend.
Sind meine Schritte erfolgreich, werden sie belohnt, weil mir etwas gelingt, weil ich ein Ziel erreiche, macht mich das stolz und gibt mir Anerkennung. Daraus entwickle ich Vertrauen in mich selbst und meine Fähigkeiten. Ein Mensch, der daran glaubt, dass er selbstbestimmt handeln und mit seinem Tun etwas erreichen kann, entwickelt letzten Endes Zufriedenheit und Glücksgefühle. (Siehe dazu auch den Wiki-Eintrag über Selbstwirksamkeitserwartung.)

Meine eigenen Zukunftsvorstellungen werden niemals eins zu eins umgesetzt werden können. Das ist nicht frustrierend, sondern logisch und auch richtig. Wir sind keine Einzelgänger. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Meine ureigenen Gedanken und Ideen werden durch das Denken und Tun der anderen verändert. Sie inspirieren den anderen, er wird sie aber nie so verstehen oder umsetzen, wie ich das tue oder tun würde. Daraus entstehen gemeinschaftliche Modelle und Projekte.

Falsch Gedachtes kann man nicht optimieren.
Situationen, Erfindungen und Systeme, die verkehrt sind, können nicht verbessert werden. Man muss sie loswerden. Das gelingt nur über eine geänderte Fragestellung. Im Wechsel der Perspektive und der Hinwendung in eine ganz andere Richtung, sucht und findet man Ansätze und Lösungen, die Zustände und letztlich ganze Systeme komplett verändern.
Beispiel: Auto
Das Auto zerstört die Umwelt, verschwendet Ressourcen und nimmt dem Menschen Lebensraum. Egal wie sehr die Hersteller daran arbeiten, ein „grünes“ Auto zu produzieren, es wird nicht gelingen, den Fehler Auto mit einem optimierten Auto auszumerzen.
Hier muss man umdenken, also die Fragestellung ändern. Der Mensch möchte mobil sein, braucht diese Mobilität in gewissen Maßen auch. Wie kann ich diese Mobilität ohne Auto gewährleisten?

Viele Probleme dieser Welt kämen über eine geänderte Fragestellung zu einer Lösung. So wird das Thema Überbevölkerung oft problematisiert. Überbevölkerung bedeutet gemeinhin, dass es angeblich nicht genug Nahrung und andere Ressourcen für die Anzahl der Menschen auf der Erde gäbe. Das ist bei richtiger Fragestellung Unsinn. Denn niemand müsste hungern oder darben, wenn Nahrungsmittel, Medikamente, Wohnraum, Wasser, Bildung usw. gerecht verteilt wären. Doch das sind sie nicht. Zum Beispiel verbrauchen die Deutschen das 5- bis 10-fache und die Amerikaner sogar das 10- bis 20-fache an zur Verfügung stehenden materiellen und immateriellen Gütern im Verhältnis zu den meisten afrikanischen Ländern.

Zukunft zu gestalten bedeutet eben auch immer, die richtigen Fragen zu stellen und die üblichen Pfade zu verlassen. Besonders wenn sie als Sackgassen enden.
Wir bemessen beispielsweise das Niveau unserer Gesellschaft über das Bruttosozialprodukt. Das Bruttosozialprodukt allerdings wächst auch über Zerstörung. Ein Krieg mit nachfolgendem Wiederaufbau erhöht das Bruttosozialprodukt eines Landes. In dieser Denkweise also den Wohlstand der Bevölkerung. So betrachtet muss man fragen, bemisst es tatsächlich das Wohlleben der Gesellschaft?
Wie gut geht es den Menschen, wäre doch hier die viel bessere Frage.

Natürlich kann ein Mensch im ersten Schritt eines Einzelgangs keine Gesellschaft oder ein ganzes System ändern. Aber er kann Impulse geben, die zu einer Veränderung führen können.
Gesellschaften sind keine statischen Systeme, sie sind nicht stabil und entziehen sich letztlich der Kontrolle durch den Menschen. Einzelne Impulse bringen kleine Verschiebungen. Vom Einzelnen inspiriert, können sie wachsen und zu Bewegungen werden. Dabei ist es nicht wichtig, ob der Erste das System an sich ändern wollte, oder ob er überhaupt politisch dachte oder eher persönlich inspiriert handelte. Aber aus Einzelaktionen entstandene Bewegungen erzeugen Aufmerksamkeit. Letztlich auch bei der Politik.
Die Geschichte zeigt, dass viele Handlungen eigentlich anders motiviert waren und etwas ganz anderes erreichen wollten, als sie es dann taten.
Zum Beispiel der Mauerfall. Damals gingen die Menschen in der ehemaligen DDR auf die Straße, um die Zustände im eigenen Land anzuprangern. Sicher hätte niemand von ihnen gedacht, dass nur ein Jahr später das Ende einer Diktatur zu feiern war. Und das ohne Gewalt.

Darum kann also auch der Einzelne etwas verändern. Er muss nur den ersten Schritt gehen, einen Impuls setzen. Der kann zu einer Dynamik führen, so dass aus einer Person eine Gruppe mit dem selben Anliegen entsteht, daraus wiederum eine Bewegung, die auf die Gesellschaft übergreift, die dann letztlich das System ändert.

Jeder, der in einer Demokratie lebt, ist in der Lage, seine Zukunft selbst zu gestalten. Er muss nur anfangen, etwas zu tun. Nicht darüber reden, sondern machen.

Sonntag, 28. Mai 2017

Alltagsgeschichten #1 – Im Waldsee darf man nicht wellenreiten

„Surfen ist hier nicht erlaubt“, erklärt mir der Junge in der orangenen DLRG-Uniform.
Warum das unfassbar absurd ist, bedarf einer genaueren Ortsanalyse.
Da der Sommerurlaub näher rückt, wollten wir die dafür benötigten Muskelpartien trainieren, und hatten unsere Surfbretter an den Waldsee gekarrt. Die Idee war, mehrmals quer über den See zu paddeln. Zweimal war mir das gelungen. Nun steht also dieser Junge mit seiner zitternden Unterlippe und den unsteten Augen vor mir. Ich beschließe, ihn trotzdem zu siezen.
„Surfen?“, frage ich verblüfft.
Er deutet auf mein Wellenreit-Brett.
„Ach, Sie meinen meine Schwimmhilfe?“, frage ich leider nicht, weil mir so etwas immer erst hinterher einfällt.
„Das da geht nicht“, sagt er.
„Sie haben aber schon gesehen, dass es hier im Waldsee keine Welle gibt, die man surfen kann, und dass das da ...“, ich deute ebenfalls auf mein Board, „... kein Windsurfbrett ist, denn die haben ja Segel und sind auch viel größer.“
„Es steht auf dem Schild. Das darf man nicht“, wiederholt er.
Ich mag diesen See eigentlich nicht. Er ist belagert von grölenden Jugendlichen und anderen Menschen, die gerne laut sind und dabei auch nicht gut aussehen. Jeder mit eigener plärrender Musik, überall rauchende Grills und kleine Feuerchen. Auf dem Weg ins Wasser muss man achtgeben, nicht in zerbrochene Bierflaschen oder Kronkorken zu treten. Über das Wasser jagen sie sich mit riesigen Lufttieren und Matratzen. Schräg gegenüber sitzen die Angler. Als ich ankam hatten sie gerade wieder einmal den großen, uralten Karpfen an der vernarbten Unterlippe an Land gezerrt. Für das hundertste Karpfen-Selfie. Armer Kerl. Doch was soll er tun? Er ist eben ein Fisch und lernt nichts aus seinen Erfahrungen.
„Warum nicht?“, frage ich.
„Es steht auf dem Schild“, zittert der Junge heraus.
Ich schaue ihn nur an. Er guckt beinahe panisch überallhin, nur nicht zu mir.
„Vielleicht weil es gefährlich ist?“, fragt er mich dann.
Wir blicken über den See. Am schmutzigen Badestrand brüllen und tunken sie sich bis kurz vor knapp. Auf unserer Paddelstrecke ganz am Rand ist keine Menschenseele. Allerdings schaukelt dort eine einsame Ente.
„Mhm“, mache ich. „Für die Ente?“, sage ich allerdings wieder nicht.
Irgendwie tut er mir leid. Noch kann ich nicht glauben, dass das hier ernst sein soll. Schon immer sind wir hier gepaddelt. Da war das Kerlchen noch nicht mal geboren.
„Ist das nicht ein öffentliches Gewässer?“, frage ich. „Vielleicht gilt das nur für den Badebereich?“ Das wäre kein Problem. Von dem sind wir sehr weit entfernt.
„Es steht auf dem Schild.“
Ich habe Sorge, dass er gleich zu weinen beginnt.
„Kann ich dieses Schild mal sehen?“
Wir laufen durch herumliegende Flaschen, Dosen, Tüten , Feuerstelln und Lumpen zur Regeltafel. Dort steht etwas von Freizeitgelände, Selbstverantwortlichkeit und zeitweiliger Betreuung durch den DLRG.
„Da steht es“, sagt er und deutet auf einen der Sätze.
„Feuermachen verboten“, lese ich laut.
„Dann da“, flüstert er und zeigt auf einen anderen Satz.
„Müll ist zu vermeiden“, lese ich wieder laut. „Aber vielleicht meinen Sie diesen Satz hier“, helfe ich ihm, „motorbetriebene Boote, Segeln und Surfen sind nicht erlaubt.“
„Ja, genau“, atmet er erleichtert auf.
„Sie wissen aber schon, dass die Windsurfen meinen?“, frage ich ihn.
„Jedes Surfen“, beharrt er.
Inzwischen bin ich doch etwas fassungslos, erkläre es ihm aber trotzdem. „Man könnte hier nur Windsurfen. Zum Wellenreiten braucht man Wellen. Das hier ist ein Waldsee.“
„Es steht auf dem Schild.“
Der Chef des Dreimann-DLRG-Teams beobachtet uns grimmig. Er ist beinahe zahnlos, voller schlechter Tätowierungen, Bierwampe. Ich bin mir etwas unsicher, ob in Seenot geratene Nichtschwimmer hier tatsächlich gerettet werden würden. Leider bin ich mir aber sehr sicher, dass er, hier quasi auf letzter Station mit Macht in seinem Leben, auf keinen Fall vernünftigen Argumenten lauschen würde. Vielleicht hat er auch selbst längst begriffen, dass auf dem Schild nichts davon steht, dass wir uns irgendwie verboten verhalten hatten. Aber das würde er niemals zugeben. Er musste sein orangefarbenes Shirt, seine Ehre und Männlichkeit verteidigen. Vielleicht auch ein bisschen den IQ seiner Truppe. Obwohl ich bezweifle, dass er so weit dachte.
Ich wende mich trotzdem an den ihn, trage vor, was Sache ist.
„Ist verboten“, knurrt er.
„Woher weiß man das?“, frage ich.
„Es steht nicht auf dem Schild.“
Er starrt einem Mädchen im Bikini nach. Leckt sich über die Lippen. Mir wird ein bisschen schlecht.
„Feststoff“, kräht hinter mir der dritte und wippt mit stolzgeschwellter Brust auf und ab. „Alles aus Holz ist verboten.“
„Holz?“, entschlüpft es mir.
Ich hätte sehr gerne ein echtes, altes Board aus hawaiianischen Holz, besitze aber eines aus Resin mit Schaumstoffkern. Meine Tochter paddelte auf ihrer modernen Epoxi-Planke. Beide Bretter hatte ich zuvor einen Kilometer durch den Wald getragen. Eins rechts unterm Arm, eins links. Nur mal so, wegen der Feststoffe.
Ich weiß längst, dass hier nichts mehr hilft. Keine Nachhilfe in Lesen und in das Gelesene Verstehen. Da stehen drei Männer, die stolz ihren Dienst tun. Fertig.
Ich drehe um. Schlängele mich zurück, durch die Massen, die alle Regeln brechen, aber das auf eine sehr verständliche Art und Weise. Ein Surfboard ist wohl einfach zu obskur.
Hilfe, in was für einer Welt leben wir eigentlich, denke ich und hüpfe auf einem Bein weiter, weil ich in eine noch brennende Zigarette getreten war. Na, zum Glück ist die nun aus. Waldbrandgefahr und so. Aber egal.


Freitag, 27. Januar 2017

Warum zerstört ihr meine Welt?, fragt euer Kind

Stellt euch vor: euer Kind säße in seinem Zimmer und spielte vor sich hin. Da öffnete sich die Tür. Eine Horde grölender Erwachsener käme herein. Mit dreckigen Schuhen, tropfenden Fast Food-Behältnissen und brennenden Zigaretten. Sie lagerten in der Kuschelecke und beschmutzten das kleine gemütliche Bettchen. Sie zerknickten Bücher und hinterließen überall Fettflecken. Sie zerträten das Spielzeug. Rissen die aufgehängten Bilder von den Wänden und machten sich über sie lustig. Sie zerbrächen Stifte und zerknäulten das Bastelpapier. Sie köpften die Teddies und Puppen. Zum Schluß pinkelten sie noch in die Ecken, einer kackte gar auf den Teppich mit dem Einhorn. Und ihr wärt mitten unter ihnen.
Das Kind stünde, aus schreckgeweiteten Augen weinend, im Chaos. „Warum?“, fragte es. „Warum zerstört ihr mein Zimmer?“
Dieses Szenario ist nicht zu verstehen, sagt ihr. So etwas würdet ihr doch niemals tun.
Aber verlagern wir den Fokus, erweitern ihn und ändern die Frage: „Warum?“, fragte das Kind dann. „Warum zerstört ihr meine Welt?“
Und schon schlägt das schlechte Gewissen zu. Diese Frage verstehen wir, nicht wahr? Denn während wir im kleinen Maßstab alles für sie tun, zerstören wir gleichzeitig im Großen ihre Zukunft.
Ich weiß, das klingt sehr, sehr pathetisch. Aber wir leben in Zeiten des Pathos´. An dem muss man erst einmal vorbei, bis man zum Verstand vorgedrungen ist.
Pah, was masst die Herden sich da an?, mögt Ihr fragen. Und ich antworte euch: Ich bin ein denkender Mensch, Teil einer Gesellschaft, wohne in einer polis. Als dieser habe ich die Verantwortung, politisch zu handeln und der Gesellschaft zurückzugeben, was ich am besten kann. So wie jeder.
Bei mir ist es das Schreiben. Meistens für Kinder. Immer mit geheimer Mission. Ja, ich glaube tatsächlich, wem meine Bücher zu Herzen gehen, der ist ein guter Mensch.
Heute nun aber auch das. Worte an euch, an uns. Gedankenfetzen, die nicht gesagt zu haben, mich zerreißen würden. Passiert mir ja manchmal.
Wer hätte das vor einem (vor zwei, vor drei – mehr sind es nicht) Jahren gedacht? Diese Frage wird in letzter Zeit bis zum Erbrechen bemüßigt. Wir müssen sofort aufhören, sie zu stellen. Wir müssen akzeptieren, dass Dinge möglich sind, auch wenn wir sie nicht für möglich hielten. Denn niemand von uns ist ein Maß der Dinge. Wir sind alle nur Teil.
Neben uns und denen mit denen wir verkehren, gibt es unzählige andere. Viele von ihnen denken anders als wir. Vor allem fühlen sie anders als wir. Manchmal sind das die meisten.
Jeder empfindet sich selbst als den wichtigsten Menschen der Welt. Möchte gehört und ernst genommen werden. Alle haben eine Stimme. Wer am Rande steht oder in der Ecke, muss lauter sein, damit man ihn hört. Wer die Hand eines vom Rande nimmt, wird von dem geliebt werden. Rechte Parteien in Deutschland und Europa haben das getan, der wichtigste Präsident der westlichen Welt ebenfalls.
Leider sind das lügende Menschen, die widerwärtige, bösartige, an den Wahnsinn grenzende Ideen vertreten. Und inzwischen auch umsetzen können.
Diese Menschen sind nicht dumm, sie sind keine Idioten. Sie sind sehr klug. Sie haben den Dummen, den Ungebildeten, den Schwachen und Ängstlichen, den Rückwärtsgewandten, den Gierigen, den Geizigen, den Neidern, Egomanen und Verantwortungslosen die Hand gereicht.
Nun drückt der grölende Pöbel gegen die Zimmertür unserer Kinder. Es wird nicht genügen, von innen dagegen zu drücken.
Aber das ist nur ein Beispiel.
Verändern wir noch einmal den Fokus. Fliegen wir hoch ins All und schauen zurück. Auf diesen wunderbaren Planeten, den wir unsere Heimat nennen.
Und den wir mit aller Macht zerstören. Jeder von uns, jeden Tag.
Ob wir morgens das Wasser beim Zähneputzen laufen lassen oder länger als 3 Minuten duschen, obwohl wir längst sauber sind, und mit dem Auto fahren, weil´s bequemer ist; ob wir schnell noch einen Kaffee to go holen, etwas Sinnloses ausdrucken, etwas wegwerfen, das man noch hätte benutzen können; ob wir im Laden ein Schweinefilet nehmen, weil´s ein so günstiges Angebot ist, doch die Plastiktüte kaufen, weil man viel zu viel gekauft hat, zum Beispiel den Wein aus Südafrika und diesen Eine-Tasse-Kaffee-Automaten für Kapseln aus dem Angebotsdisplay, und dann später kam man noch an diesem hübschen Kleid vorbei und nein, man bräuchte es eigentlich nicht, aber es ist doch so schön und so preisgünstig.
Unzählige tägliche kleine Verstöße gegen die Welt, die wir uns verzeihen, die in der Hektik des Alltags auch eigentlich kaum auffallen.
Aber verzeiht die Welt sie auch?
Auch das ist nur ein Beispiel.
Es erscheint so unendlich groß, so unfassbar schwer, dieses Weltretten. Dabei stimmt das gar nicht. Da sind so viele kleine tägliche Schritte, die man gehen kann.
Und der erste wäre: nachdenken. Mal wirklich innehalten, einen Tag frei nehmen und ihn einfach mit Denken verplempern.
Was könnte ich tun?
Worauf sollte ich verzichten?
Was kann ich ändern?
Wo muss ich besser zuhören?
Und wann sollte ich den Mund aufmachen?

Montag, 26. Dezember 2016

Good bye, George Michael

Als ich 12-jährig Anfang der 80er mit meinen Eltern aus dem Osten kam, hatte ich keine Musik.
Wir besaßen in Magdeburg zwar einen Plattenspieler, doch auf dem liefen klassische Konzerte, Peter Maffay, Märchenplatten und „Komm wir malen eine Sonne“ von Frank Schöbel. Als meine Eltern sich ein neues Radio kauften, stellten sie das alte in unser Zimmer. Sonntagsabends, wenn wir eigentlich nur noch etwas lesen sollten, lauschte ich heimlich der NDR 2 Hitparade. Das wars. Irgendwann schleppte mein Vater einen kleinen Kassettenrecorder an. Für den besaß meine Familie genau 2 Kassetten. Englisch 1 und Englisch 2. Wir wollten ja in den Westen und mussten vorbereitet werden. Also kauerten wir jeden Abend zu viert drumherum und lernten.
Hier im sagenumwobenen Westen war eine Steroanlage nicht das erste, was meine Eltern kauften. Aber nette Menschen schenkten meiner Schwester und mir einen kleinen braunen Kassettenrekorder. Musik hatten wir jedoch noch immer keine.
Als ich das erste Mal auf eine Klassenparty eingeladen wurde, hörte ich Wake me up before you go go. Das gefiel mir gut.
„Wenn du magst, kann ich dir die Platte auf Kassette aufnehmen“, bot mir ein Klassenkamerad an.
Am nächsten Tag brachte er mir tatsächlich eine Kassette mit. Vor Dankbarkeit war ich völlig erschüttert. Wie einen wohlgehüteten Schatz brachte ich sie nach Hause, nahm den kleinen braunen Kassettenrekorder, erlitt einen kleinen Panikanfall, weil ich die Kassette erst einmal falsch einlegte und befürchtete, sie zerstört zu haben, und dann drückte ich schließlich auf Play. Ich bekam kaum Luft vor Spannung, vor Aufregung, vor Glück. Diesen Moment, als die ersten Töne meiner ersten eigenen Musik erklangen, werde ich nie vergessen. Wham! Mitten ins Herz.

Dienstag, 13. Dezember 2016

Gedanken kurz vor Ladenschluss

Gedanken kurz vor Ladenschluss: Vielleicht kann man die Welt tatsächlich nicht mehr retten. Zumindest nicht die Menschheit. Jedenfalls nicht vor sich selbst. Klar, eine Zombieapokalypse abzuwehren, das könnte man schaffen. Eine Alieninvasion auch. Ebenso wie man wahrscheinlich einen auf den Planeten zurasenden Meteoritenschwarm umlenken, eine Springflut besänftigen oder ein alles zerlegendes Virus ausmerzen könnte. Zur Not könnten wir sicher auch auswandern, irgendwohin. Das All soll ja unendlich sein. Müssten wir nur die Gravitation überwinden. Ich bin sicher, das sind alles Kleinigkeiten. Im Gegensatz zum Kampf gegen das gefährlichste, dümmste, egoistischste und brutalste Wesen, das es überhaupt gibt, dem Menschen selbst. Ich schreibe das mit tiefem Ingrimm, absoluter Überzeugung und dem heimlichen Wissen, dass ich aber nicht dazu gehöre. Wahrscheinlich wie alle, die das hier gerade lesen.
Dabei stimmt das gar nicht. Dass ich nicht dazugehöre, meine ich. Ich wüsste es nur manchmal besser. Aber bin ich das auch? Besser? Bin ich immer und absolut konsequent, in dem was ich tue, weil ich weiß, was ich weiß?
Ich erwarte nichts von mir, das Superhelden, Gremien, ethische Räte und Versammlungen weiser Menschen auch nicht hinbekommen. Das wäre albern. Ich denke auch nicht, dass ich allein deshalb ein guter Mensch wäre, wenn ich Online-Petitionen unterschriebe oder weinende Icons unter Kriegsbilder setzte. Ein wenig weiter bin ich schon. Das darf ich sagen.
Mir ist klar, wenn ich hier mehr konsumiere und verbrauche, als mir zusteht (und das ist qua Geburtsort und Lebensraum immer mindestens + 0,8 Erden – klickt Euch mal durch den FoodPrint-Rechner – http://www.fussabdruck.de/fussabdrucktest/#/start/index/ –, es ist zum Heulen), dass ich anderen woanders ihren Anteil wegnehme. Das ist nicht gerecht. Und Ungerechtigkeit führt in letzter Konsequenz zu Kriegen. Gegen die ich doch mit jeder Faser meines Herzens bin. Eine Krux. Die ich durch vorbildliches Verhalten zu lösen versuche. Ich baue mein eigenes Gemüse an, fahre mit dem Fahrrad und mit öffentlichen Verkehrsmitteln, lebe in einer Wohnung voller angespülter Lebenserinnerungen und wackliger geerbter oder gefundener Gebrauchsgegenstände, habe kein Smartphone, konsumiere so wenig wie möglich. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass mir all das leicht fällt. Ich liebe meinen Acker und die Feldarbeit, ich fahre gerne Rad und Zug, ich habe kein Geld, um letztlich Überflüssiges zu konsumieren, außerdem erlebe ich lieber etwas, als dass ich Materielles um mich häufen möchte.
Ist das also genug? Zumal es mir eben auch liegt und keine wirklichen Opfer fordert? Es fühlt sich oft nämlich nicht gut und ausreichend an.
Vielleicht schreibe ich darum Kinderbücher. Zwischen den Geschichten und Abenteuern möchte ich meine eigenen Werte formulieren und – ja, ich gebe es zu – auch weitergeben. Und natürlich freut es mich dann, wenn meine Bücher beispielsweise wegen der Vermittlung des Demokratiegedankens von Kinderrechtsorganisationen gelobt werden. Aber ist das nun genug?
Gestern zum Beispiel kaufte ich eine Weihnachtsbaumbeleuchtung. Dabei muss hier noch irgendwo eine vom vorletzten Jahr sein. Ich konnte sie nur nicht finden. Nein, stimmt nicht. Ich war zu faul, danach zu suchen. Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich öfter mal zu faul, zu kaputt, zu erschöpft. Dann gehe ich doch in den Laden. Danach habe ich zu recht ein schlechtes Gewissen. Das versuche ich dann am Schreibtisch im aktuellen Manuskript wieder abzubauen.
Und so entstehen Bücher, die letztlich meiner Wunschvorstellung des Menschseins entsprechen. Weil ich aber wahrhaftig bin, breche ich sie immer auch gleich selbst wieder, in dem ich innere Konflikte einbaue. Denn perfekte Menschen gibt es nicht. Außerdem würden die entsetzlich nerven. Von Nervenden wollen wir nichts annehmen, auch nicht das Gute.
Und so schreibe ich weiter, male mir die Welt in meinen Farben und versuche hinterher selbst danach zu leben. Es würde mich freuen, wenn ich nicht die einzige wäre.
Was wollte ich eigentlich mit all dem hier sagen? Vielleicht alles, vielleicht nichts. Gedanken kurz vor Ladenschluss eben. Und ein inniger Wunsch: Lasst uns bitte besser werden.

Dienstag, 22. November 2016

Lest (das)! Bitte!

Zurück von meiner Herbstlesetour kreuzen mir Gedanken und Eindrücke durch den Kopf, die ich gerne einmal aufschreiben möchte. Viel zu lang und unsortiert, aber wenigstens formuliert. Sorry, ich platze sonst.
Ich sprach in den letzten drei Wochen mit Hunderten von Kindern, vielen Lehrern und Bibliothekarinnen und muss sagen: Ich mache mir Sorgen. 
Egal wie oft wir Kinderbuchautoren hier über begeisterte Zuhörer jubeln, ich habe den Eindruck, kaum ein Kind liest. Natürlich gibt es noch Bücherwürmer, Leseratten und Geschichtenverschlinger. Darum ja auch das „kaum“. 
(Ich möchte hier nicht über Lesekompetenz gleich Lebenskompetenz schreiben, nicht über Sprachentwicklung, Wortschatz und Eloquenz. Weder über Allgemeinbildung noch die Ausprägung von Kreativität und das Finden von Lösungsansätzen bei allerhand Problemen. Also nicht über die unbedingte Notwendigkeit des Lesens. Unabhängig von Spaß, Spannung, Freude, Erlebnis, Langeweile besiegen und meinetwegen auch der manchmal blöden Alltagswelt entfliehen.)
Ich frage vor meinen Lesungen, wer lesen würde, unabhängig von der Schullektüre. Fast alle melden sich. Dann raune ich, dass die Lehrer mal weggucken sollen. Die Hälfte der hochgestreckten Arme senkt sich. Ich frage, wer mehr als ein Buch im Jahr lesen würde. Es verbleibt etwas mehr als das „kaum“. Dann frage ich nach den Titeln. Whatsapp (!). Greg. Harry. Manchmal Lotta. 
Punkt.
Die Bibliothekarinnen erzählen, es kommen nur noch wenige Kinder zu ihnen. Nach der vierten Klasse fast niemand mehr.
Die Buchhändler erzählen, die Bücher werden von Großeltern und Eltern gekauft, die sich wünschen, ihre Kinder läsen diese. Doch gefragt, tun die es nicht. Eine erboste Großmutter ließ sich in ihrem Ärger darüber sogar zu einem „die sind alle gengeschädigt“ hinreißen. Der Bibliothekar und ich schauten uns besorgt an. Denn mit Wut, Bestrafungen und Erpressung kann man definitiv nicht die Schönheit des Lesens vermitteln.
Viele meiner Kollegen und auch ich versuchen das mit unseren Lesungen. Ich zum Beispiel höre immer wieder, dass meine Lesungen toll seien. Es wäre falsch bescheiden und albern so zu tun, als stimmte das nicht. Ich erzähle und lese mit tausend Stimmen. Ich schreie, raune, flüstere, krächze, juchze, lache. Ich erkläre ganz nebenbei Paralleluniversum, implodieren, unsere drei Dimensionen. Aber auch heiter (ist ein tatsächlich vergessenes Wort), Gewölbe, Spickzettel und Molch. Wir jubeln und klatschen, raten und erzählen. Ich hüpfe und springe. Und lasse mir alle Geheimnisse meines Lebens aus der Nase ziehen. Ich weiß, ich bringe Leben in die Bude. „Sie sind so unglaublich mitreißend und lebendig“, höre ich immer wieder. Die Kinder rufen: „Ich kaufe mir alle Bücher von Ihnen.“ Ich weiß, dass sie das nicht tun. Im März jeden Jahres gibt es die Abrechnungen. 
Woran liegt das? Warum lesen Kinder so wenig? Selbst wenn ihnen die Bücher gefallen. Aber vor allem: Was könnte man dagegen tun, zum Beispiel als Eltern oder Großeltern?
Zuerst steht da natürlich das Vorlesen. Es wird von allen Seiten gepredigt. Ich mache das hier auch: Lest vor! Lange. Das letzte Buch habe ich meinem 13-Jährigen vorgelesen. Sucht Euch Bücher aus, die Euch auch gefallen. Fragt Buchhändler, lest Buchblogs wie die Bücherkinder oder haltet nach dem Kilifü, dem Almanach der Kinderliteratur Ausschau. Es gibt unzählige wunderbare, witzige, spannende, kluge Kinderbücher, an denen auch Eltern Freude haben. Nehmt Euch Zeit. Lest mit Lust vor. Freut Euch selbst darauf. Macht es Euch dabei gemütlich. 
Später, wenn die Kleinen alleine lesen, ist das Lesen natürlich erst einmal anstrengend. Wer sich anstrengt, kann nicht in andere Welten versinken. Lesen will gelernt und geübt sein. Dazu gehören viele, viele Bücher. Wenn ich niemanden habe, der mir Bücher schenkt, ausleiht oder mit mir in die Bibliothek geht, dann scheitert mein Lesewunsch einfach daran, dass es keine Bücher in meinem Leben gibt. 
Bücher sollten keine Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke sein müssen. Kinder, die noch nicht vom Lesen gepackt sind, werden niemals auf eines der anderen Geschenke verzichten, um dafür ein Buch zu bekommen. Bücher sollten kein Opfer voraussetzen. Bücher sollten immer zugänglich sein. Jeden Monat eines. Ein Kinderbuch kostet um die 13 Euro. 13 Euro im Monat. Wenn man eine einfache Kosten-Nutzen-Überlegung (siehe oben, über was ich alles nicht schrieb) anstellt: Ist das wirklich zu teuer? Das zu beantworten überlasse ich jedem selbst. 
Wer ja ruft, der kann in die Bibliothek gehen. Dort stehen sie alle und wollen gelesen werden. Einmal im Monat zusammen in die Bibliothek. Das ist ein schöner gemeinsamer Ausflug mit dem Kind oder den Kindern. Hat man dafür wirklich keine Zeit? Was gibt es so viel Wichtigeres zu tun?
Sind die Kinder erst einmal buchlos 12 Jahre alt geworden, hat man sie als Leser verloren. Die Zeit ist also knapp. Fangt an!
Danke, das musste einfach raus.

Mittwoch, 28. Oktober 2015

Der superbesondere Ort – Völklinger Hütte mit Urban Art

Vorgestern kam ich ganz ergriffen aus dem Kino. Wir hatten den "Marsianer" gesehen und ich wollte mal wieder sofort los, Welten entdecken oder meinetwegen auch Orte auf der unseren. Mir liegt das im Blut, in den Genen, im Herzen oder wo auch immer so etwas herkommt. (Einst dachte ich ja, das wäre etwas sehr menschliches, in uns allen verankertes, heute habe ich verstanden, dass die meisten lieber Fernsehen gucken oder am Computer sitzen. Das ist sehr sehr seltsam). Lesen ist ein wunderbarer Weg, neue Orte zu entdecken, Reisen der noch bessere. Manchmal genügt sogar ein Tag.

Wir besuchten das Unesco Weltkulturerbe Völklingler Hütte. Das ist sowieso eine Reise wert, ach, was sage ich, es ist einer der magischsten Orte, die ich je sah. Momentan und noch bis zum 15. November findet dort die Urban Art Biennale 2015 statt. Besser geht es nicht.

Die Hütte wurde 1873 als Stahlwerk errichtet und gute 110 Jahre später wieder stillgelegt, heute ist sie zum Glück für uns alle Museum mit 7 km langen Wegen durch rostigen Stahl und unheimliche Hallen, zwischen Industrieruinen hindurch, unter und auf Eisenbasiliken entlang und hinauf und mitten ins Paradies hinein. Durch einen unglaublich tollen Zufall (vielleicht der Zeitpunkt am Vormittag unter der Woche?) waren wir ganz allein dort und tiefe Nebel hingen zwischen den Hochöfen. Ich lief den ganzen Weg quasi auf Zehenspitzen vor atemloser Ergriffenheit. Dazwischen dann die Kunst. Mehr geht nicht.

Doch. Mein 14-jähriger Sohn, der sich in diesem Alter befindet, da man ihn schwer begeistern kann, meinte, der Ort sei sehr sehr cool. Noch cooler wäre er allerdings gewesen, wenn wir ihn zufällig mitten im Wald gefunden hätten. Nun ja ...

















Mittwoch, 30. September 2015

Die Zeichnungen von Kindern

Kinder hinterlassen an Orten Spuren ihres Aufenthalts, oft sind es Zeichnungen. Auch wenn uns das leider im Alter abhanden kommt, Kinder greifen in ruhigen Minuten gern zum Buntstift und illustrieren ihre Welt, ihre Gedanken, Träume und Sorgen. Solche ruhigen Momente sind oft Wartezeiten. Beim Arzt, im Restaurant, auf langen Autofahrten – oder in momentanen Zeiten in Flüchtlingsheimen. In den letzten Tagen gingen viele Kinderzeichnungen durch die Medien, die Kinder dort zurückgelassen haben, und viele von uns haben sich von diesen Zeichnungen berühren lassen und darüber nachgedacht. Ich auch.


Mein Sohn behauptete immer, er würde nicht gerne zeichnen. Doch einst musste ich mich (mal wieder) auf einem winzig kleinen Stuhl zum Elterngespräch einfinden. Wortlos aber vor Empörung beinahe vibrierend legte mir die Lehrerin ein Heft vor die Nase.
"Was ist das?", fragte ich und blätterte. "Oh, ein Heft meines Sohnes", erkannte ich dann freudig. "Mit so vielen Zeichnungen. Wie toll!"
"Toll! Frau Herden? Toll!", krächzte die Lehrerin entsetzt. "Das ist das Religionsheft! Was ist denn nur mit ihrem Kind los! Da stimmt doch was nicht!"
Ich betrachtete die detailverliebten Strichzeichnungen etwas genauer. Nun gut, es sah ein wenig so aus, als hätte Martin seinen halben Mantel nicht ganz freiwillig hergegeben, anders konnte ich mir das Schwert in seinem Rücken nicht erklären. An Wikinger, die von unendlich vielen Steinkugeln getroffen, zwar noch immer standen, aber kein Lächeln, sondern einen zittrigen Strich als Mund trugen, konnte ich mich religionsgeschichtlich nicht wirklich erinnern. Auch das gezeichnete Gebet zeigte nicht nur einen glücklich lächelnden Jungen (meinen Sohn?) im Vordergrund, sondern dahinter eine brennende Schule und … ähm … irgendjemanden an einen Marterpfahl gefesselten … Um nur einiges zu nennen.
"Er hat sehr viel Phantasie", musste ich zugeben, mühsam ein Grinsen verkneifend.
"Phantasie! Das nennen Sie Phantasie?", ereiferte sich die Lehrerin.
"Ja, Jungsphantasie", sagte ich.

Dieses Heft haben wir noch immer, und noch immer ist es ein großer Spaß für uns, es Seite für Seite zu betrachten. Denn mein Sohn hatte eine schöne Kindheit.

Statt eines Lachens stiegen mir beim Betrachten der Kinderbilder, die Flüchtlingskinder in den Unterkünften zurücklassen, Tränen in die Augen. Wie hoffentlich jedem Menschen, der sie sah. Und hoffentlich weiß auch jeder, dass Tränen nichts nutzen. Genauso wenig wie Klatschen.

Freitag, 20. März 2015

Solar eclipse of my heart



Wisst Ihr noch, wie es vor 16 Jahren war?
Wir sind extra ins Elsaß gefahren, denn dort hatte man den besten Blick, hieß es. Wir, das waren vier vollgestopfte Autos. Das nigelnagelneue Töchterchen und ich saßen mit zwei anderen auf dem Rücksatz. Ausgestattet waren wir mit Folienbrillen, warmen Jacken, Decken und Picknickkörben. Ich war eigentlich nur mitgefahren, weil alle fuhren. Zwei Stunden Autofahrt hin und zwei zurück, dachte ich, das ist doch etwas übertrieben. Es wurden dann sogar insgesamt sieben Stunden, weil wir natürlich nicht die einzigen gewesen waren, die diese Idee gehabt hatten.

Total Eclips of the heart, sangen wir mit Bonnie Tylor.
Es war nahezu unmöglich noch ein schönes Plätzchen zu finden. Vielleicht wenigstens eines zum Stehen, hoffte ich und ließ meinen Blick traurig zwischen unseren Picknickdecken  im Kofferraum und den mit tausenden Campingstühlen gesäumten Straßen hin und her wandern. Einen Truck müsste man haben, dann hätten wir es uns auf der Ladefläche bequem machen können, dachte ich.

Endlich, endlich fanden wir einen Parkplatz, wenigstens das. Irgendwo in zehnter Reihe auf einem Feld. Wir packten unseren Bims und Babel und zogen Vertriebenen gleich los, verfolgt von den mitleidigen Blicken derer, die schon am Abend zuvor ein Plätzchen okkupiert hatten. Das Töchterchen zappelte unruhig im Tragetuch herum und krähte laut seinen Unmut heraus. Es hätte seit Stunden eine neue Windel gebraucht.
Doch dann, oh Wunder, fanden wir hinter einem Wäldchen einen grünen Weidenrand mit Kühen und freien Blick in den Himmel Richtung Sonne! Dort lagerten wir und alles wurde gut, ja geradezu magisch.

Wir bauten im lautstarken Jubilieren der Vögel, die die Dämmerung begrüssten, unser Picknick auf, wir zogen unsere Jacken über, als sich die Kühe zur Ruhe legten, wir aßen und schauten dabei durch die Brillen in den Himmel und als der kalte Wind aufkam, der die Dunkelheit vor sich herscheuchte wie einen schwarzen Mantel, der sich über alles legte, fasste etwas nach meinem Herzen und ich begann haltlos zu weinen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Und wenn ich sage, das Tremdeum hatte mich erfasst, dann ist das die Wahrheit.

Heute habe ich keine Brille. Sie waren ausverkauft, weil das Schulamt unvorsichtigerweise dermaßen vor den Netzhautschäden warnte, dass daraufhin die Schulen in Panik gerieten. Manche sagten sogar den heutigen Unterricht ab. Meine Kinder hoffen, dass die dritte und vierte Stunde ausfällt oder sie wenigstens mal kurz in den Pausenhof dürfen, um die Sonnensichel mit dem Handy zu filmen. Ich werde in den Park gehen und den Vögeln zuhören und wünsche uns allen einen magischen Moment.

Samstag, 18. Januar 2014

Schreiben und Kinder sollen unvereinbar sein? Gedanken zu Julia Franks Kolumne in der Welt


Julia Frank schreibt in der Welt, dass Mama Sein und Schreiben für sie unvereinbar seien. Denn beides liebe sie innig, beides bereite ihr größte Probleme. So ist das Schreiben für sie schon immer gleichermaßen „Liebe und Krankheit“. Und die gemeinsame Zeit mit den Kindern möchte sie intensiv wahrnehmen und sich davon beglücken lassen. Wohingegen deren Krankheiten sie bis an den Rand der Erschöpfung drängen. Ein dazwischen hin und her Hüpfen überfordere sie masslos. So der erste Teil des Artikels.

Natürlich dachte ich sofort an mein Leben. Geht es mir genauso? Nein, dachte ich im ersten Moment. Aber das liegt vielleicht am unterschiedlichen Genre. Denn ich schreibe Kinderbücher. Wenn ich mich in eine meiner Geschichten versenke, dann ist es nicht dramatisch, wenn eines der Kinder ob meines geistesabwesenden Gesichtsausdrucks irritiert fragt: „Hey, Mama, alles okay mit dir?“. Ich kann meine Kinder einfach in meine Abenteuer im Kopf mitnehmen (wenn sie das möchten). Wenn ich ihnen zuhöre, wenn ich sie beobachte, dann inspiriert mich das. Außerdem verfüge ich über ein nettes Talent: Ich kann mich egal wo und in welchen Umständen innerlich zurückziehen, mich an den Schreibtisch setzen und einige Sätze schreiben. Da ich im Kopf sowieso ständig fabuliere und formuliere, genügt diese Form manchmal für ein halbes Buch. Die andere Hälfte schreibe ich, wenn die Kids in der Schule oder mit ihren Freunden unterwegs sind.

Das heißt aber nicht, dass ich die Stunden mit meinen Kindern gemeinhin oberflächlich, geistesabwesend, gedanken- und anteilslos verbringe. Nein. Ich liebe das Zusammensein mit ihnen. Ganz platt: Sie sind mein Ein und Alles. Mein Schreibtisch steht allerdings mitten im Wohnzimmer. Das bedeutet: Ich bin im Mittelpunkt, sobald irgendjemand sonst außer mir zu Hause ist. Dafür brauche ich dieses Talent.

Die Tage passierte allerdings folgendes: Meine Agentin war an einem Roman (für Erwachsene), den ich vor einigen Jahren (als die Kinder klein waren) schrieb, interessiert. Er ist nicht leicht und locker, sehr ambivalent, er ist gleichermaßen traurig und lustig, es geht um Einsamkeit, um Angst vor Nähe. Und natürlich findet dort auch Sex statt. Ich überarbeitete gerade so eine Stelle, als das Söhnchen (12 Jahre) neben mir auftauchte und über meine Schulter mitlas. Schnell verdeckte ich den Bildschirm und fuhr meinen Sohn an: „Was willst du denn?“ „Hey, hey, entspann dich mal. Ich habe dir gar nichts getan“, sagte er und hatte recht. Das war eine völlig neue Situation. Und ich dachte so bei mir: Falls dieses Buch erscheinen soll, vielleicht benutze ich dann ein Psydonym.

Julia Frank schreibt nicht für Kinder und die Liste der Preise, die sie für ihre Bücher erhielt, ist mannigfaltig. Die Art und Weise, wie jemand arbeitet, wie viel Ruhe und Konzentration er benötigt, ist individuell. Auch die Schnelligkeit in der man zwischen der Wirklichkeit und den inneren Welten zu wechseln vermag, ist sehr unterschiedlich. Ich kenne Menschen, die sind nie wirklich da. Man könnte sie Tagträumer nennen. Ich kenne genauso viele Menschen, die wissen nicht mehr, wie man träumt oder sich versenkt.
Ich denke, das es sich hier um ein individuelles Phänomen oder Thema handelt. Als große Kolumne in der Welt veröffentlicht, bekommt Julia Franks Aussage jedoch eine Allgemeingültigkeit, auf die sich eventuell gar Verleger berufen könnten, die mich etwas irritierte.

Der zweite Teil des Artikels nahm dann eine ganz andere Richtung. Julia Frank ist genau so wie ich alleinerziehend. Sie kommt immer wieder in die Bredoullie, wenn sie mehrtägige Leseanfragen oder auch nur soche mit einer Übernachtung bekommt. Wie soll sie das mit den Kindern organisieren? Und das ist genau mein Thema. Denn hier hat sie meine Not sehr schön formuliert.
Wenn ich auf Lesereise gehe, dann vermisse ich meine Kinder. Während ich da vor den anderen Jungen und Mädchen stehe, ihnen eine schöne Zeit schenken möchte, kann ich das nicht für meine beiden tun. Abends allein im Hotelzimmer fühle ich mich dann sehr einsam und frage mich, ob ich eine gute Mutter bin. Dann rufe ich zu Hause an: Wie geht es euch? Was macht ihr? Vergesst nicht Zähne zu putzen. Habt ihr die Hausaufgaben gemacht? Wenn alle Fragen positiv oder eventuell sogar mit einem „Mama, du nervst“ beantwortet werden, dann ist alles gut. Wenn nicht, bin ich viele, viele Kilometer zu weit weg.
Wenn ich die Lesungen und Reisen ablehne, verdiene ich kein Geld. 
Zu diesem Thema wird es übrigens bald mehr geben. Mein Post Bist du reich? Ha! ich bin Kinderbuchautorin hat mediale Folgen.

Freitag, 1. November 2013

Der Eintagsladen 8 naht – ein paar Gedanken dazu und sehr viel Dank

Manchmal kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass böse oder zumindest seltsame Mächte am Werke sind. Beispielsweise in Bezug auf meinen Eintagsladen.
Als ich damals – die seitdem vergangenen Jahre spielen hier keine Rolle, ;-) – aus Californien zurück kam, war ich von der ganz neuen Handmade-Szene begeistert. Ich begann amerikanische Blogs zu verfolgen und selbst Schönes mit den Händen zu produzieren. Irgendwann dachte ich, so ein Craft-Market müsste doch auch in Deutschland möglich sein, es gibt doch so viele wie mich. Der erste Dreitageladen öffnete im November 2009 seine Türen. Dann sprach mich die Centralstation an und im Frühjahr darauf war der Eintagsladen für einen Tag geöffnet. Am kommenden Sonntag geschieht dies zum 8. Mal. Yeah!
Ich habe den Eintagsladen in den letzten 4 Jahre zu einem tatsächlichen Event im Heimatstädtchen erhoben und dennoch wird er von der Presse (also von der einzigen Tageszeitung Darmstadts, sowie von zwei etablierten Stadtmagazinen) einfach nicht wahrgenommen. Ja, in Anbetracht der begeisterten Artikel über andere Handarbeits- und sonstige Märkte, gar stoisch ignoriert. Ich frage mich seit nunmehr drei Jahren: Wieso?


Natürlich kommt man dann als Geschichtenausdenker sofort auf krude Verschwörungstheorien. Was ist da los? Wer hat die Fäden in der Hand? Kann derjenige mich nicht leiden? Warum? Sinnt er auf Rache? Wo für? Was habe ich ihm angetan? So etwas in der Art.
Obwohl es mich doch immer wieder erstaunt, habe ich mich inzwischen daran gewöhnt. Der Eintagsladen brummt und flirrt jedes Mal, wenn sich die etwa 1500 Besucher um die jeweils 40 Bühnenelemente mit zirka 60 ausstellenden Labels sammeln – ein wunderbares Bild. Manchmal bin ich dann total stolz und denke: Die sind alle hier, weil ich das organisiert habe.

Natürlich gibt es Menschen, die mir helfen. Darum heute mal einen dicken fetten Dank an all jene:
* Meike von der Centralstation: Sie hat mich da reingeholt, sie ist für mich da und sie ist meine Freundin.
* Wanja Olten: Er hat von Anfang an die tollen Flyer entwickelt.
* das P Magazin: Es spendierte mal eine Anzeige, brachte immer einige nette Worte zur rechten Zeit und einmal sogar einen ganzen Artikel über den Eintagsladen.
* FRIZZ und Fratz: auch diese beiden Stadtmagazine fanden Worte, über den Eintagsladen zu berichten
* Rufus Meyer: Ein wunderbarer Freund, der immer mit anpackt.
* Suse,


Katinka


und Katja:


drei tolle Freundinnen, die sich nicht entblödeten, meinen Stand in den einzelnen Eintagsläden zu übernehmen, damit ich herumlaufen und alles zum Guten und Schönen richten konnte
* alle Aussteller und Teilnehmer: Die jeden Eintagsladen zu dem bunten Markttreiben machen, das sie waren und sind.
Danke auch den Besuchern, die vorbeikommen, sich bezaubern lassen und ihr Geld lieber für liebevolle Dinge ausgeben, als es irgendwelchen Megakonzernen in den aufgerissenen Rachen zu klimpern.
Kommt vorbei am kommenden Sonntag! Es wird wieder schön.

Donnerstag, 31. Oktober 2013

Halloween

Heute Nacht wandert Jack o´ Lantern also wieder suchend über die stoppligen Felder, in der Hand die Rübe mit dem leuchtenden Stück Kohle. Damit es nicht gar so dunkel sei. Beides gab ihm der Teufel, der ihn in seiner Hölle nicht hatte haben wollen. Jack hatte ihn nämlich dareinst furchtbar hereingelegt. So lautet die alte irische Legende um die Nacht vor Allerheiligen, die sie mit nach Amerika brachten. Weil es dort keine Rüben gab, wurde daraus kurzerhand der große Kürbis gemacht.
Doch das Fest hat noch viel weiter zurückliegende Ursprünge. Schon die Kelten feierten die Nacht vor dem 1. November als Beginn der kalten Winterszeit und damit als Beginn des neuen Jahres. In dem sie sich grauslich verkleideten, wollten sie dem kommenden Kargen und Harten Mores lehren.
Heute laufen kleine Hexen, Zombies und Vampire durch die Straßen und verlangen mit dem Spruch "Süßes oder Saures" nach Bonbons. Wer die Tür nicht öffnet, bekommt eventuell ein faules Ei dagegen geworfen. Obwohl, wahrscheinlich ehr nicht, denn kaum eines der Kinder weiß, was Saures eigentlich bedeuten soll. Wer spielt heute noch Streiche? Oder?


Ich liebte unsere alljährliche Halloween-Party. Bei den Freunden des Söhnchens galt sie gar als legendär. Heute ist sie eine wunderschöne Erinnerung. Allein dafür hat sich der ganze Aufwand gelohnt. Sie machte aber auch riesigen Spaß!
Die Wohnung schmückte ich mit Geistern (eine Papierkugel in ein Tempo gebunden, Augen darauf gemalt und von der Decke gehängt, x 20), Spinnennetz und Knochen.
Es gab schauriges Essen, das niemand anrührte vor Grausen. Niemals werde ich die "toten Hände" vergessen: rosa Himbeerpudding in Einmalhandschuhe füllen, 3 Stunden im Kühlschrank liegen lassen, die Hände auf eine Platte legen und die Finger der Handschuhe etwas aufreißen – boah, sieht aus, wie tote Haut, super eklig!


In einem dunklen Zimmer hatte ich Kürbisse und Kerzen aufgestellt und erzählte den ängstlich zusammengerückten Kindern die Legende von Jack.
Dann spielten wir einige Spiele: Mumienwickeln, eklige Gegenstände ertasten, furchtbare Speisen kosten (man kann so viel Ekel mit Lebensmittelfarben hervorrufen, ;-))
Schließlich zogen alle um die Häuser und sammelten die Süßigkeiten humorvoller netter Menschen ein. Wenn einer nicht öffnete, veranstalteten die Kids ein lautes Konzert mit Rasseln und Tröten und Klappern vor dessen Tür. Natürlich waren alle gräulich verkleidet.


Ich entzündete derweil ein Feuer im Hinterhof und wartete als Hexe verkleidet auf die Nachbarskinder, um sie zu erschrecken und mit Bonbons zu trösten. Gleiches Recht für alle.
Später aßen noch alle eine Kürbissuppe, auch die abholenden Eltern, wir tranken einen Sekt und hatten einen schönen Abend. Am Abend war ich zwar total erschöpft, aber sehr glücklich.


Den letzteren Part werde ich heute auch machen: also, als Hexe am Feuerchen sitzen, Bonbons verteilen und mit meinen Kids Marshmallows rösten.

Montag, 7. Oktober 2013

Im Salamanderwald

Wenn es regnet, grau, diesig und kühl ist, bleiben wir gerne zu Hause im Gemütlichen. Blöderweise bekommt man dann manchmal eine schlimme Melancholie. Darum ist es besser, sich in etwas Wasserfestes zu werfen und in den tropfenden Wald zu gehen. Dort kann man Wundersames entdecken. Und ganz plötzlich ist man mitten in einem Märchen. Das kann man sich dann später zuhause bei Kakao und Kuchen erzählen.





Gestern entdeckten wir den Salamanderwald. Er war voller Moos und Nadelbäumen und heisere Hexenstimmen wisperten unter den Hüten der Pilze. Ein Wald, in dem Feuersalamander normalerweise nicht leben. Trotzdem schlichen fünf Gesellen durch das regentriefende Moos und leuchteten grell aus dem Totholz. Sie waren dick gefressen von den unzähligen Schnecken, die selbst wiederum dick gefressen waren von den unzähligen Steinpilzen.





Todesmutig beugte ich mich über die glänzenden Lurche. Ganz nahe wollte ich sie mit der Kamera bannen. Ich hatte großes Glück, denn sie bedienten sich nicht ihrer Sekretdrüsen. Hier heraus können sie nämlich bis zu einem Meter weit ihr Gift spritzen. Es hätte mir in den Augen und auf der Haut gebrannt (so, wie es Kurt zwischen den Riesenlurchen in der Kanalisation im "Letzten Donnerstag" passiert). Vielleicht hätte es mich auch auf dämonische Art und Weise verwandelt. Man munkelt seit vielen Jahrhunderten so etwas.
Feuer löschen können Feuersalamder damit übrigens nicht. Darum macht es auch keinen Sinn, sie ins Feuer zu werfen.