Montag, 18. Juni 2018

Die Mutter-Kolumne: Gutes Benehmen. Was ist das überhaupt?

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich? Dieses Mal: Gutes Benehmen.



„Die Lehrerin sagt, gutes Benehmen ist das Wichtigste“, krähte das Söhnchen. Dann kräuselte sich seine Nase. „Was ist das?“
„Es bedeutet, dass du dich richtig verhältst“, sagte ich.
„Dass ich freundlich bin und einen guten Tag wünsche?“
„Das und noch mehr. Gutes Benehmen ist wichtig, wenn man mit vielen Leuten zusammen lebt. Damit sich niemand ärgern muss und sich alle wohl fühlen.“
„Man darf bei Tisch nicht rülpsen und auch nicht pupsen“, erklärte meine Tochter.
Meine Kinder verloren sich lachend in der Vorstellung einer barbarischen Tischrunde.
„Aber auf dem Klo darf man pupsen“, sagte mein Sohn.
„Es gibt für jeden Ort ein anderes gutes Benehmen“, wusste mein Töchterchen.
Ihr Bruder nickte nachdenklich. „Und alle machen das dann, dieses gute Benehmen?“, fragte er.
„Ja“, antwortete ich etwas zu schnell.
„Woher weiß ich, was das gute Benehmen am Ort ist?“, fragte mein Kleiner.
„Das hat uns doch Mama beigebracht“, rief seine Schwester.
Ich atmete erleichtert auf.

Die Woche verflog. Wie so oft, hatte sich einmal mehr vieles gehäuft. Wir waren im Kino und im Theater gewesen, auf einem Besuch bei den Nachbarn und hatten Stunden im Supermarkt verschwendet. Am Sonntagmorgen fanden wir uns auf dem Sofa wieder. Später hatten wir noch Karten für ein Kinderkonzert, aber gerade einen Moment der Muße.
„Ich habe alles beobachtet“, erzählte das Söhnchen.
„Was denn?“, fragte seine Schwester.
„Ich weiß nun, was gutes Benehmen ist.“ Er holte tief Luft, machte große Augen und zählte auf. „In der Schule muss man Gutentagfraufröhlich sagen, man muss das Leisezeichen machen und darf dem Tischnachbarn nicht die Buntstifte mopsen. Auch nicht den Blauen.“ Er warf mir einen Seitenblick zu, doch ich tat so, als bemerkte ich den nicht. „Im Kino muss man laut miterzählen, mit Tüten knistern oder knutschen.“
Meine Kinder ömmelten sich kurz weg, und ich glaubte, einen sehr trockenen Humor am Sohn entdeckt zu haben. Doch er fuhr fort und meinte es ernst.
„Bei den Nachbarn darf man nichts anfassen, man darf sich nicht auf das weiße Sofa setzen und man muss Kekse essen, obwohl die nicht schmecken. Im Kaufhaus muss man rempeln, man darf anderen Sachen aus dem Korb klauen, an der Kasse rummeckern und die Wagen gegen einen fahren. Im Theater muss man flüstern, zusammen husten, ein bisschen pupsen und schlafen.“
Das Töchterchen brach in helles Gelächter aus.
„Wie kommst du denn da drauf?“, fragte ich konsterniert.
„Habe ich alles gesehen“, erklärte mein Sohn stolz. „Jetzt weiß ich bescheid.“
Ich nahm ihn in den Arm und musste einmal mehr erkennen, nicht alle Erwachsenen sind ein gutes Vorbild.

Auf dem Kinderkonzert herrschte ausgelassene Stimmung. Meine Kinder strahlten um die Wette. Zwischendrin kam mein Kleiner zu mir rübergetanzt.
„Schau Mama“, brüllte er. „Gutes Benehmen ist hier wie verrückt jubeln, klatschen, tanzen und mitsingen. Aber die da“, er zeigte auf eine Gruppe Eltern, die still in einer Ecke abwarteten, bis sie ihren Nachwuchs wieder aufsammeln konnten, „die da, haben ein sehr, sehr schlechtes Benehmen.“


Montag, 23. April 2018

Die Mutter-Kolumne: Das Zauberwort


Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich? Dieses Mal: das Zauberwort.



Auf dem Marktplatz verteilt ein Clown Ballons.
„Ich möchte auch einen“, ruft das Söhnchen.
„Dann hol ihn dir“, sage ich.
„Liebe Mama, machst du das? Da sind so viele andere Kinder“, quengelt der Süße mit auf sehr niedliche Weise aufgerissenen Augen.
„Nein“, bleibe ich standhaft, schaue aber schnell woanders hin. „Ich kaufe ein paar Karotten. Wir treffen uns dann wieder hier.“

Später an selber Stelle habe ich ein Bund Möhren in der Hand, mein Sohn aber keinen Ballon. Er zieht ein Schippchen, und feuchte Spuren auf seinen Wangen erzählen von Kummer.
„Was ist los?“, frage ich. „Ist der Ballon geplatzt?“
„Nein“, knurrt der Kleine.
Ich warte. Doch vor Erregung kann er nichts weiter sagen.

„Wusstest du, dass es ein Zauberwort gibt?“, fragt er mit bebender Unterlippe, als es wieder geht.
Bitte nicht der Zauberwortquatsch, denke ich und schüttele den Kopf.
„Mit dem Zauberwort hätte mir der Clown einen Ballon gegeben“, berichtet mein Söhnchen. „Aber ich wusste es nicht! Niemand hatte es mir verraten!“
Seine Verzweiflung rührt mich an. Dabei hatte ich es bewusst vermieden, meinen Kindern irgendeinen Unsinn von einem Zauberwort zu erzählen. Ich hatte ihnen Höflichkeit näher gebracht, die Worte Bitte und Danke. Ich hatte mit ihnen darüber gesprochen, warum es wichtig ist, freundlich zu sein. Auch, wenn man mal das Gegenüber nicht nett findet. Ich hatte ihnen das vorgelebt und sachte darauf hingewiesen.
Höflichkeit ist keine Zauberei und Bitte nie ein Zauberwort gewesen.

„Warum hast du mir das nicht verraten?“, fragt mein Sohn vorwurfsvoll zuhause.
„Was denn, mein Schatz?“, flöte ich, die Unwissende spielend.
„Dass Bitte das Zauberwort ist“, flüstert er, als müsse er diese Neuigkeit vor fremden Ohren schützen.
„Das ist es doch gar nicht“, widerspreche ich. „Wenn man etwas möchte, dann bittet man darum. Das ist höflich und nicht zauberhaft. Wer hat dir das überhaupt gesagt?“
„Ich“, ruft mein Töchterchen aus ihrem Zimmer. „Es funktioniert wirklich. Wenn ich lieb bitte sage, bekomme ich immer, was ich will“, trötet sie.
Plötzlich bricht sie ab.
„Auweia“, hören wir ein Flüstern und ein leises Klatschen, als hätte sich jemand sehr Niedliches gerade die Hand vor das Schnütchen geschlagen.
„Jetzt ärgert sie sich, weil sie es verraten hat“, stellt mein Sohn fest.
Eigentlich ist er nämlich sehr klug und das schon in seinen jungen Jahren. Diesen Zauberwortunsinn hat er doch sicher nicht ernst genommen.

„Bitte, bitte, bitte“, höre ich es vor dem Schlafengehen aus seinem Zimmer raunen.
Ich linse unbemerkt durch den Türspalt. Der Kleine hockt vor einem Teller. Darauf liegt ein Gummibärchen. Vorsichtig begießt er es mit Wasser.
„Bitte, bitte, bitte“, wispert er dabei beschwörend.
Ich seufze innerlich. Jemand hatte ihm im Kindergarten verraten, wie man angeblich Gummibärchen vermehren kann. Ich weiß, dass ich es nicht übers Herz bringen werde, ihn enttäuscht zu wissen, und lege schon mal die Tüte mit den süßen Bären bereit. Später werde ich mich noch mal in sein Zimmer schleichen – auf einer zauberhaften Mission.


Sonntag, 8. April 2018

Tischdienst – ein Tutorial für ein wunderbares gemeinsames Speisen, Plauschen und Gerichte Tauschen


Mit lauter netten Leuten Selbstzubereitetes speisen, plaudern und Köstlichkeiten tauschen – wenn Euch bei dieser Vorstellung das Herz hüpft und das Wasser im Munde zusammenläuft, dann übernehmt doch den Tischdienst und organisiert eine fröhliche Runde an einer reich gedeckten Tafel. 




Die Idee
Zwei Freundinnen und ich ackern fürs Gemüse, kochen gerne und lieben es, verschiedenste Menschen an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam zu speisen. So kam uns die Idee zum Tischdienst
Zu einem bestimmten Motto kocht jeder Teilnehmer ein Gericht, das auf die große Tafel gestellt wird. Vier kleinere Portionen desselben (oder einer selbst gemachten Zutat) werden hübsch verpackt zum Tausch mitgebracht. Als Paar kocht man natürlich entweder doppelt so viel oder zwei Gerichte. 


Grafik: Selina Willand


Beim Genießen, Rezepte Tauschen und über das Leben Plaudern lernt man nicht nur neue Gerichte und nette Menschen kennen, sondern geht auch mit dem Bauch voller Köstlichkeiten, dem Kopf voller Kochideen und einer Tüte voller Spezereien nach Hause. 

Einen Ort finden
Wer hat schon eine Tafel für etwa 20 Personen zuhause? Also macht man die Not zur Tugend und entdeckt besondere Orte, indem man mit offenen Augen durch die Stadt läuft. Gibt es eventuell offene Veranstaltungsräume oder Kantinen? Könnte man die nette Dame aus dem großzügigen Gewürzladen, den jungen Mann mit seinem Atelier oder die Frau mit der Musikschule gewinnen? Oder gibt es einen netten Ort open air?
Man braucht einen Raum für eine große Tafel, genügend Sitzmöglichkeiten drumherum, mit einem Wasseranschluss, eventuell einem Herd zum Aufwärmen und einer Toilette in der Nähe. 




Planen
Etwa 6 Wochen im Vorfeld bestimmt man einen Termin. 
Tipp: An einem Donnerstagabend von 19 bis 22 Uhr haben viele Menschen Zeit. Oder Sonntags. Dann passt das auch mit dem Kochen gut. Allerdings schauen viele Menschen gerne Tatort. :)
Dann überlegt man sich ein Motto, zu dem gekocht werden soll. Das kann etwas Saisonales wie Frühlingserwachen und Erntedank sein oder etwas Spezifisches wie 1000 Gewürze, Brotaufstriche und Alles aus Petersilie
Natürlich muss man überlegen, wie viele Leute kommen können. Wie groß ist die Tafel, die ich aus verschiedenen Tischen oder aus Böcken und alten Türen bauen kann? Wie viele Stühle kann ich besorgen? Bekomme ich genug Besteck, Gläser und Teller zusammen oder muss die jeder selbst mitbringen? 


Die Einladung
In der Einladung nennt man nicht nur Ort, Zeit und Motto, sondern beschreibt auch die Idee und bittet um Anmeldung bis zwei Wochen vor dem Termin unter der eigenen Email-Adresse. Wer Freude am Gestalten hat, findet unter thegraphicsfairy.com dekorative Vintage-Illustrationen aller Art zum kostenlosen Download. 
Will man etwas privater bleiben, verschickt man die Einladung nur an seine Freunde und Bekannte. Wer neue Menschen zusammenbringen und kennenlernen möchte, lässt die Einladung als Flyer drucken und verteilt sie in Buchläden, Cafés und im Kindergarten. Noch einfacher ist es, eine öffentliche Facebook-Veranstaltung zu erstellen. 


Grafik: Selina Willand


Die Gäste
Am Tag nach dem Anmeldeschluss fertigt man die Gästeliste an. Haben sich mehr Leute angemeldet, als um die Tafel passen, muss man leider einigen absagen. Doch vielleicht wiederholt man das Ereignis und kann darauf vertrösten? Den Gästen teilt man noch einmal genau mit, wann, wo und unter welchem Motto sie erwartet werden. Nun hat jeder Zeit, sich ein Gericht zu überlegen und ein- oder zweimal zur Probe zu kochen. Darüber freut sich die Familie zu Hause. 
Tipp: Etwa 20 Gäste sind ideal. Alle kommen miteinander ins Gespräch und die Speisen sind äußerst vielfältig, aber nicht zu viele, um eine jede zu probieren. 


Vorbereitung
Als Veranstalter hat man natürlich etwas mehr Arbeit als die Geladenen. Auf der Einkaufsliste sollten Servietten und Brot stehen. Außerdem frische Minze, Zitronen oder gefrorene Beeren, um mehrere Karaffen aromatisiertes Wasser als Getränk anzubieten. 
Etwa eine Stunde braucht man, um die Tafel vorzubereiten und einzudecken. Natürlich kann man mottogemäß dekorieren, doch das ist gar nicht nötig. Die Wasserkaraffen, ein paar frische Blumen oder Zweige auf verschiedene Vasen verteilt, und einige Kerzen runden die vielen Speisen, die auf der Tafel Platz finden werden, schön ab. 
Außerdem hält man DIN A5-Karten und einen Stift bereit. Hierauf schreibt jeder Gast, welches Gericht er mitbrachte, und stellt sie daneben. 


Das Ereignis 
In der ersten halben Stunde trudeln die Gäste ein. Jeder beschriftet sein Kärtchen und stellt sein Gericht auf die Tafel. Die vier Tauschportionen aller werden an einem zugänglichen Ort gesammelt. 
Wenn alle Platz genommen haben, begrüßt man die Gäste. In einer Vorstellungsrunde erzählt jeder etwas zu sich und seinem Gericht. Danach ist das Eis gebrochen und alle wünschen sich einen guten Appetit. 
Tipp: Wenn man einen Weinhändler mit ins Boot holt, kann dieser Weine zur Probe oder zum Selbstkostenpreis anbieten. Außerdem kann man mit einem Sekt den Abend eröffnen. 


Die Tauschrunde 
„Noch nie habe ich so lecker gegessen“, wird es unisono nach dem Essen klingen. Dann wird getauscht. Reihum darf sich jeder eine der Tauschportionen nehmen. Danach darf sich der letzte als erster nehmen. Das Ganze findet 4 Mal statt. 
Natürlich wird nach so einem netten Abend niemand den Gastgeber mit dem Abwasch alleine lassen. Während alle spülen und aufräumen, kann man schon den nächsten Tischdienst planen. 

Wer einmal bei uns vorbeischauen möchte, kann das hier tun: Tischdienst 



Samstag, 24. März 2018

Die Mutter-Kolumne: Von Schatz und Spatz in der Hand und rosa Kieseln und Tauben auf dem Dach

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich? Dieses Mal: Der Spatz in der Hand und so weiter ...


Wir hüpften von Fels zu Fels das fast leere Bachbett hinauf, das nur einem murmelnden Rinnsal den Weg bergab wies. Das Töchterchen hüpfte etwas schneller als ihr Bruder und ich.
„Kommt doch mal“, rief sie ungeduldig zurück.
„Kann ich nicht“, murmelte das Söhnchen. „Meine Last ist zu schwer.“
Seine Last waren rundgeschliffene anthrazitfarbene Kiesel, die er auf seine Hosentaschen verteilt hatte. Mit beiden Händen musste er die Hose nun festhalten, damit er sie nicht verlöre. So kann man natürlich nur sehr langsam von Fels zu Fels einen Bachlauf bergan hüpfen.

Am Anfang war auch er noch flink gewesen. Dann hatte er den ersten besonderen Stein gefunden. Ziemlich bald den zweiten, den dritten.
„Schau Mama, wie schön die sind“, hatte er gerufen.
„Wolltest du nicht einen Rosafarbenen finden?“, hatte ich gefragt.

Von den rosafarbenen Steinen hatte uns der alte Mann im Dorf erzählt. Wir hatten in einem Restaurant zu Mittag gegessen, und er saß am Nebentisch. Er hatte uns einen glatten, sanft schimmernden, perfekt runden Kiesel gezeigt.
„Die kann man im Bachbett hinterm Restaurant finden. Weit oben und wenn man großes Glück hat“, erzählte er.
Nach dem Essen waren wir zur Schatzsuche aufgebrochen.

„Die Rosanen liegen weiter oben“, rief das Töchterchen ungeduldig. „Lass doch deine Steine fallen, dann kannst du schneller klettern.“
„Niemals. Das sind meine Schätze!“, antwortete ihr Bruder.
„Das sind keine echten Schätze. Die echten sind die Schimmernden“, sagte meine Tochter.
„Gar nicht. Meine sind auch Schätze. Vielleicht sind sie nicht so schatzig wie die Rosanen, aber sie sind trotzdem kostbar. Erst recht, weil ich sie schon habe“, brummte der kleine Kerl und schleppte sich weiter.
Weit voran stürmte seine Schwester, hopste von Stein zu Stein, bückte sich immer mal wieder, hatte aber noch keines der mineralischen Stücke gefunden.

„Stimmt´s, Mama, meine Steine sind echte Schätze. Sogar noch echter als die Rosanen. Denn die sind ja gar nicht da“, meinte das Söhnchen. „Und ein echter Schatz ist doch viel besser als einer, der gar nicht da ist.“
„Aber Mama, mein rosa Stein ist doch viel wertvoller, auch wenn ich ihn noch nicht gefunden habe“, widersprach das Töchterchen. „Außerdem kann ich schon mal davon träumen.“
Die beiden schauten mich mit großen Augen an. Ich sollte entscheiden. War der Spatz in der Hand der größere Schatz als die stolze Taube auf dem Dach? Ich wusste es nicht.
„Vielleicht ist das für jeden anders?“, schlug das Töchterchen vor.
Mein Sohn hielt sich die schwere Hose fest und nickte gewichtig. „Ja. Die einen finden einen Stein schön, den sie haben, der aber vielleicht nur grau ist–“
„Und die anderen wollen keinen grauen Schatz, sondern träumen lieber von einem der rosa ist“, beendete seine Schwester den Satz.
Besser hätte es wahrscheinlich niemand sagen können.
Nicht einmal ihre kluge Mutter, die eine Träne der Rührung aus den Augen wischte und sich dann nach zwei rosafarbenen Kieselchen bückte, die sich unter einem der Felsen verklemmt hatten.

Freitag, 9. März 2018

Von welcher Zukunft träume ich? – Harald Welzer im Gespräch mit Schülern


Von welcher Zukunft träume ich? –

Harald Welzer, Sozialpsychologe, Gründer von „FuturZwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit“ und Mitbegründer der Initiative „Die offene Gesellschaft“, der sich für eine lebenswerte Zukunftsgestaltung einsetzt und für die zivilgesellschaftliche Verteidigung demokratischer Werte steht, diskutierte das mit Schülern am 9. März 2018 in der Centralstation.

Ich habe das zweistündige Gespräch zusammengefasst. Vorab möchte ich jedoch schreiben, dass die Eingangsfrage von den Schülern nicht beantwortet wurde. Mich schockierte das ein bisschen. Haben die 15- und 16Jährigen wirklich keine eigenen Zukunftsvisionen?




Wir haben das Glück, in einer Zeit und in einer Gesellschaft zu leben, die uns satt, gesund und frei sein lässt. (Selbst Ludwig der 14., Sonnenkönig genannt und bekannt als der europäische Monarch schlechthin, fror jämmerlich im prachtvollen Versailles, in dem es zudem mangels Toiletten aus allen Ecken stank.)
Unsere Lebensumstände ermöglichen es, die eigene Zukunft zu gestalten.

Davor steht natürlich die Frage: Wie stelle ich mir meine Zukunft vor? Und auch: Wie setze ich meine Visionen und Wünsche um?

In einer Demokratie hat jeder Mensch die Chance, das Leben, die Gesellschaft, die Zukunft mitzuformen und zu entwickeln. Eine Chance, die im gleichen Maß Verantwortung bedeutet. Zum Beispiel die Verantwortung, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, nachhaltig zu handeln und diesen Planeten den folgenden Generationen nicht als Mülleimer zu hinterlassen.

Natürlich gibt es unfassbar viele Ablenkungen, die es einem mehr als einfach machen würden, sich rauszuhalten, träge zu werden, die Verantwortung für sein Handeln und für sein Leben abzugeben. Diese Entscheidung muss jeder für sich treffen. Mische ich mich ein, bin ich Gestalter und Bestimmer meines Lebens und meiner Zukunft? Oder versinke ich in den Ablenkungen anderer, die dann für mich entscheiden?
Glücklich werden diese Ablenkungen einen nicht machen. Da können apple, samsung oder netflix noch so viel versprechen.

In einer Welt, in der die Zahlen der absolut Armen, der Säuglingssterblichkeit und Hungertoten stetig zurückgehen, ist nicht alles schlecht und verloren. Auch wenn die dramatischen Darstellungen von Amokläufen, Präsidentenidioten, Krawallen, Unmenschlichkeit, Rechtspopulismus und Flüchtlingssituationen in den sozialen Medien das Gegenteil suggerieren wollen. Sich davon nicht kirre machen zu lassen, sondern sich bewusst zu informieren, die Informationen zu filtern, sich eine eigene Meinung zu bilden und daraus eine Position abzuleiten, sind Schritte in die eigene Richtung. Und diese eigene Richtung bestimmt man selbst. Jedenfalls darf man das.

Täglich ist man extremen Widersprüchen ausgesetzt. So versucht beispielsweise die Werbung den Einzelnen zum Ultrakonsum zu verführen, während Prognosen und Studien auf die Zerstörung der Umwelt hinweisen. Man weiß, ein weiteres Wachstum der Wirtschaft wie in den vergangenen Jahrzehnten ist nicht möglich. Der Planet ist endlich, der Regenwald licht, die Ozeane voller Plastik, der Boden voller Gifte, die Luft angereichert mit festen Partikeln. Zu einer lebenswerten Zukunft gehören aber vor allem existentielle Dinge wie sauberes Wasser, ausreichend Sauerstoff, gesunde Nahrungsmittel und Bewegungsfreiheit. Sinnfreies Habenwollen zerstört die Erde. Ein Weltretter kauft nichts, was er nicht zum Überleben braucht. Das wissen wir. Doch die Innenstädte mit ihren Auslagen, die Werbung in allen Medien und das Internet schreien uns an: Du musst konsumieren! Interessanterweise gar nicht, um zu besitzen, (die wissen selbst, dass niemand Wohnungskrimskrams, das neuste Smartphone oder sieben Hosen braucht), sondern um angeblich glücklicher zu sein. Also, nach dem Motto: Besitz macht glücklich.

Aber stimmt das? Wie lange erfreue ich mich an den neuen Nike Air Max oder am nigelnagelneuen Smartphone? Irgendwann ist es einfach ein Paar Schuhe, damit man keine kalten und nassen Füße kriegt, und eine Kommunikationsmöglichkeit mit zersplittertem Display, die aber zum Glück noch funktioniert. (Im Zweifelsfall genügte aber auch das alte Phone, das der Kumpel noch in der Schublade hat. Hauptsache ist doch, man kann seine Leute erreichen.)
Das Leben selbst würde einem also deutlich machen können, dass man eigentlich gar nicht so viel braucht oder besitzen muss, dass Besitz nicht langfristig glücklich macht und dass es ganz cool wäre, wenn der Planet noch eine Weile ausreichen würde, man im Meer baden könnte, bis zur Atemlosigkeit rennen, um dann einen tiefen Zug frischer Luft nehmen könnte, und dass Vögel, Blumen, Bäume und was die Natur sonst noch vorbringt, eigentlich auch ganz schön und vor allem lebenswichtig sind.
Aber bevor man da bewusst ankommt, hat apple schon wieder das nächste Tablett entwickelt und schaltet Werbung, die einen manipuliert: Ohne das neue Produkt bekäme man nichts geregelt, sei nicht dabei, uncool und irgendwie raus. Trotz besseren Wissens zieht man also wieder los und kauft.
Wer diesen Widerspruch zumindest wahrnimmt und ihn erkennt, ist noch normal in Hirn und Herz. Sich davon zu befreien, selbstbestimmt entscheiden zu wollen, wäre dann der erste Schritt in eine eigene Zukunft.

Es wird immer Menschen geben, denen Zukunft, selbst die eigene, egal ist. Darüber kann ich mich ärgern. Ich kann versuchen, sie aufzuklären, und sie irgendwie wachzurütteln. Aber sie dürfen nicht diejenigen sein, die mein Tun beeinflussen. Sie dürfen mich nicht so sehr frustrieren, dass ich die Lust verliere, zu gestalten und zu bestimmen. Ich entscheide über mein Tun. Die Frage „Wie gehe ich persönlich mit den Möglichkeiten, die sich mir bieten, um“, macht das Leben spannend.
Sind meine Schritte erfolgreich, werden sie belohnt, weil mir etwas gelingt, weil ich ein Ziel erreiche, macht mich das stolz und gibt mir Anerkennung. Daraus entwickle ich Vertrauen in mich selbst und meine Fähigkeiten. Ein Mensch, der daran glaubt, dass er selbstbestimmt handeln und mit seinem Tun etwas erreichen kann, entwickelt letzten Endes Zufriedenheit und Glücksgefühle. (Siehe dazu auch den Wiki-Eintrag über Selbstwirksamkeitserwartung.)

Meine eigenen Zukunftsvorstellungen werden niemals eins zu eins umgesetzt werden können. Das ist nicht frustrierend, sondern logisch und auch richtig. Wir sind keine Einzelgänger. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Meine ureigenen Gedanken und Ideen werden durch das Denken und Tun der anderen verändert. Sie inspirieren den anderen, er wird sie aber nie so verstehen oder umsetzen, wie ich das tue oder tun würde. Daraus entstehen gemeinschaftliche Modelle und Projekte.

Falsch Gedachtes kann man nicht optimieren.
Situationen, Erfindungen und Systeme, die verkehrt sind, können nicht verbessert werden. Man muss sie loswerden. Das gelingt nur über eine geänderte Fragestellung. Im Wechsel der Perspektive und der Hinwendung in eine ganz andere Richtung, sucht und findet man Ansätze und Lösungen, die Zustände und letztlich ganze Systeme komplett verändern.
Beispiel: Auto
Das Auto zerstört die Umwelt, verschwendet Ressourcen und nimmt dem Menschen Lebensraum. Egal wie sehr die Hersteller daran arbeiten, ein „grünes“ Auto zu produzieren, es wird nicht gelingen, den Fehler Auto mit einem optimierten Auto auszumerzen.
Hier muss man umdenken, also die Fragestellung ändern. Der Mensch möchte mobil sein, braucht diese Mobilität in gewissen Maßen auch. Wie kann ich diese Mobilität ohne Auto gewährleisten?

Viele Probleme dieser Welt kämen über eine geänderte Fragestellung zu einer Lösung. So wird das Thema Überbevölkerung oft problematisiert. Überbevölkerung bedeutet gemeinhin, dass es angeblich nicht genug Nahrung und andere Ressourcen für die Anzahl der Menschen auf der Erde gäbe. Das ist bei richtiger Fragestellung Unsinn. Denn niemand müsste hungern oder darben, wenn Nahrungsmittel, Medikamente, Wohnraum, Wasser, Bildung usw. gerecht verteilt wären. Doch das sind sie nicht. Zum Beispiel verbrauchen die Deutschen das 5- bis 10-fache und die Amerikaner sogar das 10- bis 20-fache an zur Verfügung stehenden materiellen und immateriellen Gütern im Verhältnis zu den meisten afrikanischen Ländern.

Zukunft zu gestalten bedeutet eben auch immer, die richtigen Fragen zu stellen und die üblichen Pfade zu verlassen. Besonders wenn sie als Sackgassen enden.
Wir bemessen beispielsweise das Niveau unserer Gesellschaft über das Bruttosozialprodukt. Das Bruttosozialprodukt allerdings wächst auch über Zerstörung. Ein Krieg mit nachfolgendem Wiederaufbau erhöht das Bruttosozialprodukt eines Landes. In dieser Denkweise also den Wohlstand der Bevölkerung. So betrachtet muss man fragen, bemisst es tatsächlich das Wohlleben der Gesellschaft?
Wie gut geht es den Menschen, wäre doch hier die viel bessere Frage.

Natürlich kann ein Mensch im ersten Schritt eines Einzelgangs keine Gesellschaft oder ein ganzes System ändern. Aber er kann Impulse geben, die zu einer Veränderung führen können.
Gesellschaften sind keine statischen Systeme, sie sind nicht stabil und entziehen sich letztlich der Kontrolle durch den Menschen. Einzelne Impulse bringen kleine Verschiebungen. Vom Einzelnen inspiriert, können sie wachsen und zu Bewegungen werden. Dabei ist es nicht wichtig, ob der Erste das System an sich ändern wollte, oder ob er überhaupt politisch dachte oder eher persönlich inspiriert handelte. Aber aus Einzelaktionen entstandene Bewegungen erzeugen Aufmerksamkeit. Letztlich auch bei der Politik.
Die Geschichte zeigt, dass viele Handlungen eigentlich anders motiviert waren und etwas ganz anderes erreichen wollten, als sie es dann taten.
Zum Beispiel der Mauerfall. Damals gingen die Menschen in der ehemaligen DDR auf die Straße, um die Zustände im eigenen Land anzuprangern. Sicher hätte niemand von ihnen gedacht, dass nur ein Jahr später das Ende einer Diktatur zu feiern war. Und das ohne Gewalt.

Darum kann also auch der Einzelne etwas verändern. Er muss nur den ersten Schritt gehen, einen Impuls setzen. Der kann zu einer Dynamik führen, so dass aus einer Person eine Gruppe mit dem selben Anliegen entsteht, daraus wiederum eine Bewegung, die auf die Gesellschaft übergreift, die dann letztlich das System ändert.

Jeder, der in einer Demokratie lebt, ist in der Lage, seine Zukunft selbst zu gestalten. Er muss nur anfangen, etwas zu tun. Nicht darüber reden, sondern machen.

Mittwoch, 14. Februar 2018

Die Mutter-Kolumne: Wer petzt ist doof! Wirklich?

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich?


„Kim hat gesagt, man darf sich ein Bonbon aus Frau Fröhlichs Schreibtischschublade nehmen, und als ich das gemacht habe, hat er mich verpetzt, und ich habe Ärger gekriegt!“
Meine Tochter war weinend aus der Schule gekommen, hatte sich in meine Arme geworfen und geschluchzt.
„Mein Süß, das war gemein von Kim. Petzen ist doof“, sagte ich. Verschwieg jedoch, wie gemein und doof ich Kims Verhalten tatsächlich fand.
„Blöde Petze!“, krähte das Söhnchen.
„Kim ist ein Junge“, schnuffelte meine Tochter.
„Blöder Petzer!“, rief ihr Bruder. „Petzen kann keiner leiden.“

Dann verschwanden nach und nach der Salzstreuer, das Stövchen und die Kaminhölzer, der getrocknete Oregano, eine Zitrone, der letzte Rest Mehl, der lange Kaffeelöffel und die gläserne Teekanne.
„Habt ihr diese Sachen?“, fragte ich die kleine Schar.
Sie verneinte unisono und vehement.
„Seltsam“, dachte ich. „Habe ich diese Sachen verlegt?“
Wo hatte ich nur meinen Kopf?

Vielleicht beim Söhnchen. Denn das gefiel mir nicht. Es schien bekümmert. Schlich tagelang herum, wie von Sorgen erdrückt.
„Hast du Kummer, mein Schatz?“, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
„Ist alles okay?“, fragte ich wieder.
„Alles gut“, knurrte der Kleine und schlich weiter.
Besorgt schaute ich ihm nach.

Es war ein Sonntagmorgen. Seit einigen Wochen durfte ich den gemütlich in meinem Bett verbringen. Die Kinder nahmen sich ein Müsli, und später kochte ich zu Mittag. Da hörte ich das Getrampel rennender nackter Kinderfüße. Dann wurde meine Zimmertür aufgestoßen. Atemlos und mit schreckgeweiteten Augen stand mein Sohn auf der Schwelle.
„Mama!“
„Was ist los?“, krächzte ich, innerlich zu Blitzeis erstarrt.
„Ich bin kein blöder Petzer!“, schrie der Kleine, und schiere Qual stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Nein, das bist du nicht“, beruhigte ich ihn. „Aber was ist los!“
„Das Labor brennt!“
„Das Labor?“, rief ich.
Alarmiert sprang ich aus dem Bett, verhedderte mich in der Decke, fiel auf die Knie und unterdrückte ein Aufstöhnen. Das fiel mir nicht schwer, denn ich musste ja sowieso schreien.
„Sag mir sofort von welchem Labor du sprichst?“
„Das Chemielabor in unserem Zimmer“, presste mein Söhnchen hervor.
Doch da war ich schon vorausgestürmt, griff ein Handtuch, riss die Kinderzimmertür auf, kämpfte mich durch seltsam wohlduftende Rauchschwaden und warf mich mutig dem kleinen Schwelbrand in der verschwundenen gläsernen Teekanne entgegen.

„Ich wollte doch ein großer Chemiker sein und Gold erfinden“, wisperte das Töchterchen, nachdem ich die Flamme ausgepustet hatte.
„Aus Salz, Oregano, Zitrone und Mehl?“, fragte ich.
Das süße Wesen nickte. Langsam beruhigten sich meine zitternden Beine.
„Ich habe das lange geplant“, murmelte die Kleine.
„Und ich wollte kein blöder Petzer sein“, sagte der Sohn von der Tür her.
Genau erkennen konnte ich ihn nicht, zu viele Rauchschwaden lagen zwischen uns.

Aber in einem sah ich klar. Das Thema Petzen war ein vielschichtiges. Darüber zu reden erforderte Kekse und heißen Tee. Zum Glück war die Kanne wieder da.

Sonntag, 28. Januar 2018

Die Mutter-Kolumne: Wer trödelt verpasst das halbe Leben. Echt jetzt?

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich?



„Der frühe Vogel fängt den dicksten Wurm!“, rief ich.
„Ihhhh! Würmer“, schallte es aus der Wohnung zurück.
Sonst passierte nichts.
Kein Wunder, das war ein denkbar unappetitlicher Spruch gewesen. Doch alles andere hatte ich schon versucht. Ich hatte geflötet, gelockt, gemahnt, erpresst und gedroht. In dieser Reihenfolge. Mindestens dreimal hintereinander.
Nun stand ich gesattelt und gespornt, besser gesagt, bejackt und beschuht, außerdem mit der Mülltüte und dem Altglas beladen – wir wohnen im Dachgeschoß, da will jeder Treppengang wohl durchdacht sein – seit einer Viertelstunde im Treppenhaus und schwitzte vor mich hin. Der Satz vor dem wurmlastigen war nämlich „Ich gehe jetzt los!“ gewesen. Vielleicht sollte ich das nun auch wirklich tun.
„Ich gehe jetzt los!“, rief ich zur Wohnungstür hinein.
„Das hast du schon gesagt“, antworteten mir zwei abwesende Stimmchen.

Wütend stapfte ich die Treppe hinunter.

Dabei hatte ich heute gar nicht raus gewollt, sondern gemütlich lesend den grauen Tag auf dem Sofa verbringen wollen. Es waren meine Kinder, die doch noch das Theaterstück sehen wollten.

Wütend knallte ich den Mülltonnendeckel zu.

Es war stets das Gleiche. Obwohl ich rechtzeitig zum Aufbruch blies, wohlweislich jedes Mal ein wenig früher, kamen die zwei nicht zu Potte und wir ständig völlig abgehetzt und ein wenig zu spät irgendwo an.

Wütend warf ich das Glas in den Container. 
Flasche für Flasche. Die kleine, gummibeschürzte Öffnung ließ nichts anderes zu.

Mir ist Pünktlichkeit wichtig. Ich beeile mich, wenn ich einen Termin oder eine Verabredung habe.

Für die weißen Flaschen gab es ein anderes Loch als für die grünen oder die braunen.

Meistens bin ich sogar zu früh und warte. Oft auch länger.

Ich lauschte dem Geräusch einer jeden Flasche nach. Zersprang sie in tausend Stücke oder blieb sie heil? Ich schloss innere Wetten ab.

Manchmal warte ich auch zu lang auf die anderen. Öfter sogar. Das ist eigentlich auch nicht schön.

Endlich kam meine kleine Schar angehüpft.
„Was habt ihr denn noch so lange gemacht?“, fragte ich.
Einiges, erfuhr ich. Die Zähne nach der neuen Anleitung – der Zahnarzt war gestern in der Schule – geputzt, das Arrangement verschiedener Fundsachen auf dem Schreibtisch neu sortiert, mit fünf blöden Socken gekämpft, etwas Verlorenes unterm Bett gefunden, drei Seiten im LTB angeschaut, dieses eine bestimmte Kleid gesucht und eine Kette dazu gefädelt, etwas Kleines gegessen, noch einmal auf dem Klo–
Der Glockenschlag der Kirchenuhr unterbrach die Aufzählungen.
„Auweia! Wir müssen uns beeilen!“, rief das Töchterchen, und die beiden flitzten los.
Erstaunt sah ich der Staubwolke dabei zu, wie sie sich langsam wieder legte. Es war also möglich. 

Da begriff ich etwas. Es ging im Leben meiner Rabaukelchen nicht ums Verplempern von Zeit, sondern schlicht um Prioritäten, die sie sich selbst setzten. Etwas, das ich nicht mehr so oft tun konnte, und viele in meinem Alter gar nicht mehr.
„Möge ihnen das noch sehr lange gelingen“, wünschte ich und rannte ihnen nach.

Dienstag, 16. Januar 2018

Die Mutter-Kolumne: Carpe Diem! – Aber was bedeutet das?

Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, viele machen oder sagen das, aber wieso eigentlich?


„Kapert die M.!“, rief das Söhnchen.
„Wer ist die M.?“, fragte seine Schwester.
„Weiß nicht. Hat die Lehrerin gesagt“, knurrte der Sproß.
„Unsere Nachbarin Frau Müller?“, fragte meine Tochter.
„Ihhh! Die will keiner kapern.“
„Vielleicht Malzbonbons“, sagte ich. „Kapert die Malzbonbons!“
„Was ist das denn?“, fragte mein Sohn.
„Wir können welche machen“, schlug ich vor.
„Au ja!“, riefen die Kinder und folgten mir in die Küche.

Die Malzbonbons schmeckten nicht wirklich, aber wir hatten eine Pfanne zerstört, uns alle etwas verbrannt, und wir hatten Mühe hineingesteckt. Also saßen wir auf dem Sofa und lutschten die bitteren Brocken.
„Die M. könnte ein Schiff sein“, überlegte meine Süße.
„Das Piratenschiff Die Mäusebraut“, sagte der Sohn kichernd.
„Das gefährlichste Schiff jenseits der Polargewässer“, meinte das Töchterchen. „Lasst sie uns mit den neuen Buntstiften malen.“
Die neuen Buntstifte waren prächtig, noch prächtiger war Die Mäusebraut, die mit ihrer Hilfe und vier kleinen Händen entstand. Es würde nicht einfach sein, sie zu kapern.

„Oder die M. sind die Murkelliesen“, überlegte die Schwester, nachdem wir das Werk an unsere Gemäldewand gehängt hatten. „Kapert die Murkelliesen.“
„Wer sind die Murkelliesen?“, wollte der Bruder wissen.
„Oh, die kenne ich“, begann ich raunend zu erzählen. Ich erzähle sehr gern Geschichten. Wir kuschelten uns wieder auf das Sofa. Obendrauf legten wir die gemütliche Decke. „Die Murkelliesen kommen nur in schwarzen Nächten aus dem Moor, greinend wabern sie die dunklen Straßen entlang. Murkelt uns, ihr Leute, rufen sie mit ihren schrecklichen Stimmen. Murkelt uns, denn uns ist so kalt im öden Moor.“
„Und dann?“, fragte das Söhnchen aufgeregt.
„Und dann–“, hob ich an.
„Und dann–“, unterbrach meine Tochter.
Flink übernahm sie die Geschichte der gekaperten, grausligen Murkelliesen. Es herrschte eine lustvolle Konkurrenz zwischen den familiären Bänkelsängern. Wir lutschten noch ein paar Malzbonbons.
„Die Leute haben Angst, dabei wollen die Murkelliesen nur eine Umarmung. Aber wenn man eine Murkelliese berührt, wird man ganz nass und kalt und auch ein bisschen schleimig.“
„Brrr“, machte mein Sohn und schüttelte sich wohlig.

Am Ende der Geschichte, war auch der Nachmittag zu Ende. Wir hatten alles verpasst. Ballett und Hapkido, die Hausis waren nicht gemacht und das Abendbrot hatte ich nicht zubereitet. Dabei sollte es doch einen besonderen Getreideauflauf geben. Einen den ich nicht ganz so schlimm fand und der äußerst gesund zu sein schien.
„Wir haben nicht die M. gekapert“, stellte das Söhnchen fest. „Wenn man die M. kapert wird man klug und schön und ein guter Mensch. Man nutzt den Tag.“
„Auweia, wir haben ja nicht mal Ballet und Hausis gemacht und nur Bonbons gegessen“, sagte die Schwester.
„Hat aber mehr Spaß gemacht, als eine blöde M. zu kapern, oder?“, meinte der Bruder, und die beiden grinsten sich an.

Ich lächelte vor mich hin. Carpe Diem heißt Genieße den Tag, nicht Nutze den Tag. Ob man davon klug, schön und gut wird, weiß ich nicht. Aber wir waren glücklich.