Samstag, 16. April 2016

Viermal durch den Schwarzwald – Meine Lesetour in Südbaden

Eine Woche lang führte mich das Schicksal quer durch Südbaden, oder nicht das Schicksal sondern das Regierungspräsidium der Region und mein Beruf als Kinderbuchautorin. Kommt mit, wenn Ihr mögt, aber Achtung: Es wird emotional. 


Tag 1
Die Sonne scheint. Das ist schon mal gut. Ansonsten ist der erste Zug eine halbe Stunde verspätet, die vom netten Herrn hinter dem DB-Schalter herausgesuchte Alternativverbindung aber sowieso besser. Mein Koffer ist monsterschwer. Ich erinnere mich an das Bild eines winzigen Gepäckstücks, das ein geschätzter Kollege angeblich als Lesereisengepäck für eine Woche dabei gehabt haben wollte. "Na, Mama, ein Mann braucht weniger als du. Ich glaube nicht, dass der zwei Kuschelkissen und die Joggingschuhe mitnimmt", sagte meine Tochter noch zu Hause. Na gut, vielleicht nicht, also zumindest die Kuschelkissen nicht. Im Zug überarbeite ich Ferienhausaufgaben. Nicht meine. Im dritten Zug muss ich eine Stunde stehen. Macht nichts. Der Spiegel an der Rückwand der Fahrerkabine, in den ich die ganze Zeit starren muss, ist schlimmer. Die Sonne scheint aber noch. Im Gästehaus riecht es so penetrant nach altem Essen und Urin, dass mir ganz anders wird. Aber wenigstens ist schlagartig der Hunger nach der 4stündigen Fahrt weg. Das ist gut. Erstens gibt es hier nichts zu Essen um die Ecke, zweitens wollte ich diese unerwünschten Kilos mal wieder ernster angehen. Das Internet funkioniert einwandfrei. Das ist schön. Allerdings posten die Kollegen, die auch alle unterwegs zu sein scheinen, Katalogbilder von Paradiesen, die sie angeblich aus ihren Hotelfenstern geschossen haben wollen. Meine Aussicht durch das Fliegengitter hindurch direkt auf das Flachdach einer Tiefgarage ist so traurig, dass ich lieber ein Foto vom Zimmer mache. Das ist gelb und sehr sehr klein. Das ist nicht ganz so gut, weil ich groß bin.

Tag 2
Die Nacht ist wild, ich bin jedoch nur Zeuge. Um ein Uhr beginnt ein Paar im Nachbarzimmer zu streiten. Es könnte auch direkt neben meinem Bett sein. Leider sind die beiden nicht besonders fantasievoll oder eloquent und ich kann gar nichts weiter dazu lernen. Ein wirkliches Problem gibt es jedenfalls nicht, wie das ja meistens so ist. Sie haben beide Unrecht, würden es aber bestimmt nicht goutieren, ginge ich hinüber und mischte mich ein. Gegen 5 Uhr werde ich aus einem Traum gerissen. Laut diskutierend verschieben die beiden nebenan nun die Möbel. Wahrscheinlich habe ich den spannendsten Teil verschlafen. Sie scheinen auf alle Fälle ein sehr großes Zimmer zu haben.
Später beim Frühstück schaue ich mich neugierig um. Erstaunlicherweise sitzen da nur drei ältliche Paare.
Dafür dringen laute Stimmen aus der Küche. Die alte gehbehinderte Gästehausbesitzerin und ihr junger ausländischer Angestellter palavern.
„Weißt du, du kannst nicht zu Frau sagen „Ich lade dich in Restaurant“, und dann gibt es boom, boom, boom. So ist nicht Leben.“
„Nein, so ist es nicht.“
Nach der Lesung sagt die Bibliothekarin: „Ich glaube nicht, dass sich die Kinder auch nur eine Sekunde gelangweilt haben.“
Ich lächle und bedanke mich, frage mich aber, was sie gesagt hätte, wenn es anders gewesen wäre.
„Also, Frau Herden, ich habe das mal nachgemessen, die Kinder langweilten sich insgesamt 963 Sekunden.“
Dann sitze ich ein Stündchen am Wasser. Das laute Plappplapp der schlagenden Schwanenflügel auf der Wasseroberfläche beim Starten fällt mir auf. Vielleicht werde ich das einmal in einer Geschichte benutzen. Neben mir steht ein Baum voll lärmender Krähen, ihren Schein- und Nestern. Vor mit liegt ein Schiff, ein Flussentlangfahrtschiff, Zimmer neben Zimmer alle mit Balkon. Ich träume von einer Lesereise auf einem Schiff, das jeden Tag zweimal an einem Hafen festmachte, die Kinder kämen, ich läse, wir hätten Spaß und dann tuckerte ich weiter. Abends gäbe es Fisch und Wein. Könnte mir irgendjemand bitte mal so etwas organisieren?
Einige Stunden später komme ich im nächsten Ort an. Es gibt nicht viel zu sehen, darum schlüpfe ich in die Joggingschuhe, nun, da ich sie schon dabei habe. Dann laufe ich durch den Stadtgarten, der eher ein Stadtbeet ist. Das ist einerseits toll, denn die typischen Stadtpark-Gruppen – Mütter mit kleinen Kindern, verliebte Pärchen, Jungs in tiefhängenden Hosen, die gerne böse wären, der Kreis der Tippelbrüder und -schwestern, die Opas mit den Hunden, die Schulkinder – sie haben alle so wenig Platz, dass sie eigentlich ganz nahe beieinander sind und sein könnten. Blöd ist, dass ich Runde um Runde drehe und keine Strecke bekomme. Ich befürchte, dass mich morgen nach der Lesung eventuell Kinder fragen, ob ich das gewesen sei, die da mit hochrotem Kopf ständig um den Stadtgarten geschlichen sei, und warum ich das getan hätte.
Danach entdecke ich den Wellnessbereich des Hotels. Oh, ha! Ich kämpfe eine Weile kraulend mit der Gegenstromanlage und schwitze dann in der Sauna. Allerdings nur kurz, weil das so langweilig ist. Im Ruheraum lese ich die letzten Seiten eines Krimis. Gemurmel und eine schneidende Stimme dringen von nebenan zu mir.
„Wenn euch die Nudel unter den Achseln stört, dann schiebt sie euch einfach zwischen die Beine.“
Um Gottes willen! Es findet aber nur Aquagymnastik statt. Gerne hätte ich ein wenig zugeschaut, doch ich lächele nur breit und gehe schnell.

Tag 3
Wie alle riecht auch diese Bibliothek muffig. Für jeden Scheiß gibt es Duftdesigner, sogar für den Geruch von Neuwagen und Hotelfahrstühlen. Die Kunden sollen sich wohl und glamourös fühlen. Ich glaube fest daran, dass mehr Kinder läsen, wenn Bibliotheken nicht dermaßen nach Käsesocken und diesem Hauch von sehr altem Erbrochenen riechen würden. Sorry.
„Sie machen das bestimmt öfter“, sagt die Bibliothekarin nach der Lesung. Nun ja.
Ich fahre drei Stunden mit sehr langsamen Zügen durch den Schwarzwald. Hier war ich noch nie, und im ersten Moment ist mir, als sei ich Teil einer Modelleisenbahn. Eine kleine Figur im Zug, der an winkenden Frauen voller roter Bommeln vorbeifährt. Plötzlich passiert etwas Irres. Nicht mit mir und auch nicht um mich herum, sondern in mir. Ich bin auf einmal wirklich unterwegs. Allein um die Welt. Also fast. Es fühlt sich ein bisschen wie Freiheit an, obwohl die dunklen Tannen drängen und die engen Täler schluchzen. Dieses Gefühl wird sogar noch stärker, als sich ein Obdachloser neben mich setzt. (Wer einmal in Amerika mit den Greyhound-Bussen unterwegs war, weiß, wovon ich schreibe.) Von allem unbeeindruckt pupst und rülpst er vor sich hin. Doch diese frischen Gerüche können die alten seines Körpers, seiner Klamotten und vor allem seiner filzigen Mütze nicht verbrämen. Alle anderen Sitze im Wagen sind frei. Er ahnt wohl meinen Gedanken, schaut mich finster an und ich blicke schnell wieder aus dem Fenster.
Der Zielort ist trostlos.
„Seien Sie nicht entsetzt“, sagt die Bibliothekarin. „Hier steht alles leer.“
Durch die leeren Häuser des verschatteten Tals fläzt sich eine dicke Durchgangsstraße.
Der Gasthof liegt in einer Haarnadelkurve, durch die sich Millionen Fahrzeuge und Schwerlaster drängen. Ich habe mich schon immer gefragt, wer in so etwas übernachtet. Außer mir noch drei Autos voller Soldaten, alle getarnt, vom Mützchen bis zum Laptopcover.
„Hier gibt es zwei Waffenfabriken. Darum. Das ist ja eigentlich nicht so schön“, sagt die Bibliothekarin.
Nein, das ist es nicht.
Ich habe große Lust auf eine kleine Wanderung auf die Höhen.
„Sie machen jetzt aber keine große Tour und gehen mir verloren.“
„Das hatte ich nicht vor.“
„Nicht dass wir die Bergwacht rufen müssen.“
„Nur eine kleine Runde.“
„Sie krabbeln auch nicht in irgendwelchen Höhlen rum.“
„Oh, hier gibt es Höhlen, in denen man herumkrabbeln kann?“
„Sie werden da nicht reingehen! Versprochen?“
„Versprochen.“
In manchen älteren Damen und in gewissen Männern löse ich einen enormen Beschützerinstinkt aus. Das kenne ich schon.

Tag 4
Beim Frühstück geht die Saftpresse kaputt. Ich glaube mir. Die Bibliothek ist lichtdurchflutet und riecht gut. Später erzählt die nette Bibliothekarin, dass kaum noch jemand kommt. Na so was, denke ich, dabei riecht es hier so gut.
Wir rasen die 40 km zur nächsten Lesung konsequent im 2. Gang dafür mit 5000 Umdrehungen. Ich überlege, ob ich um weniger Geschwindigkeit bitten soll, oder darum, dass sie doch schalten möge. Unbekümmert erklärt sie mir die Gegend. Die älteste Stadt Baden-Württembergs heißt wie ein Hund und hat einen absurd hohen Schlot. „Darin werden Aufzüge getestet“, sagt sie und schaltet endlich. Beinahe stöhne ich vor Erleichterung auf. Dann tritt sie voll durch und mir wird ganz anders. Ich überlege, ob die Fahrstuhlabsturzsimulationen bemannt stattfinden und was es doch für besondere Berufe gibt. Wir geraten nur einmal in echte Lebensgefahr.
Nach der zweiten Lesung sitze ich am Bahnhof, der inmitten des Nirgendwos liegt und nur eine Bushaltestelle ist. Es regnet in Strömen. Ich muss aber nur 40 Minuten warten und werde fast nicht nass. Neben mir hat jemand „FUK AYRENMEN“ an die Wand geschrieben. Ich lese es mehrmals, bis ich es kapiere. Wie blöd, wenn man nicht mal ein ordentliches FUCK zustande bringt.
Zurück durch den Schwarzwald. Die Höllentalbahn ist besonders, das „Himmelreich“ nicht. Ich bin froh, im Zug zu sitzen. Draußen regnet es.
Mir gegenüber studiert ein älterer Herr die Fahrpläne der Züge des Landes. Alle. In der Hand hält er einen Stift. Er schreibt nichts auf, er murmelt die ganze Zeit. Ich wage nicht zu fragen.
Nächster Zug, dann noch einer und noch einer und noch einer.
Abends komme ich irgendwo an. Ich glaube, hier ist es schön. Ich sehe es nicht. Bindfäden ziehen sich zwischen grauem Himmel und dampfender Wiese.

Tag 5
Etwas fliegt gegen das Fenster. Kurz verliere ich mich in der Phantasie, der Prinz stünde unten und würfe kleine Steine. Kennt man ja. Dann packt mich der Schmerz. Tagelang schleppte ich mein Gepäck durch Südbaden, in Züge hinein, Bahnsteige herab, enge Gasthaustreppen hinauf. Meine Schultern sind verrissen. Keine Ahnung wie das heute mit dem Jubeln klappen soll und ob ich Rockstar sein können werde. Das Geräusch am Fenster reisst nicht ab. Ich lunze durch die geklöppelte Gardine. Eine Bachstelze stürzt sich wieder und wieder Brust voran vom Blumenkasten gegen die Scheibe. Himmel, wir sind wirklich viele.
Nach der zweiten Lesung reden wir über Pubertät, ich weiß nicht, wie wir darauf kommen.
„Ich will das nie kriegen“, stöhnt ein Junge. „Das ist schrecklich.“
Wir sind einer Meinung. Alle. Doch plötzlich höre ich mich sagen, wie wichtig auch diese Entwicklungsstufe sei. Trotz allem. Völlig klar, was hier passiert. Ich vermisse meine Kinder unendlich. Mit allem.
„Mein Vater hasst die Pub- … Pub- … na eben das bei meinem Bruder so sehr, dass er Pupsität dazu sagt.“
Die Kinder lachen.
„Na, ein Pups ist sie ja nicht gerade“, sage ich. „Ich würde sie eher Furzität nennen.“
Es dauert einen Moment. Dann lachen die Kinder noch lauter.
Die Bibliothekarin findet später viele Worte des Lobs.
„Danke schön“, sage ich.
Danke Gene, Eltern, Schöpfer, Schicksal. Dass ich Schreiben und Vorlesen kann. Dass ich so mein eigener Mensch sein darf. Dass mich neueste Smartphones, große Fernseher, dicke Autos, schicke Schuhe und teure Kosmetika, all diese Substitute, noch nie interessiert haben.
Von Südwesten prophezeiten sie tagelangen Regen. Ich befinde mich im äußersten südwestlichen Zipfel und sie haben leider recht. Bus, dann Zug, wieder Bus, noch einmal Zug. Scheißkoffer. Dafür erhasche ich einen kurzen Blick auf die Rheinfälle. Wunderbar, kann ich die auch abhaken.
Die Sonne bricht durch. Ich bin nicht nur in der Schulter verrissen, sondern auch in meiner Brust. Wie die durchgeknallte Bachstelze. Habe zugleich unendliche Sehnsucht nach der weiten Welt und nach Zuhause.
Meine letzten Gastgeber sind Eheleute, die privat ein Zimmer vermieteten. Dort drin wohnt allerdings schon jemand. Darum quartieren sie mich in ihr Schlafzimmer ein. Ich habe ein schlechtes Gewissen und frage mich, wo sie wohl schlafen werden. Immerhin sind sie älter als ich.
Ich verdrücke mich in das Örtchen. Es liegt auf einem Felsen und ist eine blitzeblank geputzte Mittelalter-Kulisse. Ich entdecke ein Oma-Café mit Apfelrahmtorte und Aussicht. Die kleinen Dinge eben.

Tag 6
Die letzte Lesung der Tour endet in einer Stunde Fragerunde. Ich habe ein enormes Redebedürfnis, die Fünftklässler stört das nicht. Weil ich das darf, reden wir über blöde Lehrer und bekloppte Schulleiter, aber auch lange über Bücher. Als mir die Bibliothekarin einen Beutel mit Reiseproviant in die Hand drückt, plappere ich wie aufgezogen weiter, weil ich sonst heulen würde.
Plötzlich hämmert es an die Tür. Zwei Polizisten in voller Montur stehen davor. Ich habe solche noch nie als meine Freunde und Helfer wahrgenommen.
„Ist regulär geöffnet?“, fragt der eine.
„Nein, wir hatten gerade eine Lesung für Kinder.“
„Aha. Wann ist denn geöffnet?“
„Um drei.“
„Gut, dann kommen wir um drei wieder.“
„Was wollten die denn?“, frage ich.
„Das haben sie nicht gesagt.
„Vielleicht war ihnen langweilig.“
„Hier in Engen ist ja nichts los. Vielleicht wollten sie ein Buch ausleihen.“
„Bestimmt einen Krimi.“
Wir prusten los.
Ich komme das vierte Mal durch Villingen und muss einen hysterischen Lachanfall unterdrücken. Ich möchte für eine sehr sehr lange Zeit nicht mehr in den Schwarzwald, dessen Tannen auch nur Fichten und Kiefern sind. Zum Glück gibt es ein Klo im Zug. Es ist eine komplizierte Angelegenheit mit vielen Knöpfen. Als sich die elektrische Tür wieder öffnet, platze ich in eine völlig absurde Situation. Zwei ausländische Jugendliche stehen mit erhobenen Händen vor mir. Ein voll bewaffneter Polizist (schon wieder!) mit Einweghandschuhen angetan schaut gerade in die Unterhose des einen. Sie blicken erschreckt in meine Richtung und grinsen ertappt. Alle drei. Neben ihnen liegen einige Geldbörsen am Boden. Auf einer sumpfigen Wiese stehen 19 Störche.
Ich schleppe den Koffer die achtundachtzig Stufen in unsere Bude rauf. Schließe die Tür auf. Von Dankbarkeit erfüllt sinke ich auf die Knie. Vor mir im Teppich sind zwei riesige Brandlöcher. Die waren da vor sechs Tagen noch nicht. Zuhause, endlich zuhause!

Sonntag, 10. April 2016

Die Mutter-Kolumne – Kinder brauchen eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Ha! Der ist gut.

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wie so eigentlich?



Seit das Töchterchen nach der ersten Mörenbreizufütterung vehement nach mehr verlangte, halten mich die Folgen dieser Forderung seit mittlerweile 17 Jahren in Atem, gilt es doch, den Kindern jeden Tag gesunde Kost zu servieren. Um es vorweg zu nehmen, hätte ich keinen Sohn mehr bekommen, hätte es vielleicht auch geklappt.

Ich kochte breiige Wochenvorräte aus Möhren, Kartoffeln und Hühnchen, zerdrückte Avocados und Bananen, rieb Äpfel und verabreichte Fenchelsegmente mit Stiel als Lolliersatz. Es lief gut. Ich war stolz auf mich, ich machte es richtig.

Doch eines Tages saßen wir am Bondi Beach. Ich hatte mir eine Tüte Fish und Chips gekauft. Das Töchterchen, inzwischen zehn Monate alt, gab so lange keine Ruhe, bis ich ihr eine der dicken Schnitzen ins sandige Händchen drückte.
„Süße, daran kannst du herumsaugen, während ich in Ruhe speise.“
Ha! Erstens erpresste sie mich mit Geschrei, bis ich ihr die Hälfte von allem abgegeben hatte und zweitens konnte ich nie wieder in Ruhe essen. Hatte sie mir zuvor mit großen Augen beim Essen nur zugeschaut, verlangte sie nun lauthals ihren Anteil daran. Meist den größeren.

Zu Beginn hatte ich ein schlechtes Gewissen, versteckte mich beim Essen von Ungesundem. Doch irgendwann gewahrte ich die Vorteile. Es war so unterwegs viel unkomplizierter, keine Babaynahrung musste mitgeschleppt werden, wir waren spontan und frei. Meistens aßen wir gesund, nun auch ich, und die Kleine entwickelte sich prächtig.

Dann wurde mein Sohn geboren.
Auch er hatte den Moment, der alles veränderte. Die Möhrenbreiphase war abgeschlossen, es verlangte ihn nach einem Obstjoghurt. Ich weiß nicht mehr, was ich tat, während er in seinem Kinderstühlchen vor sich hinlöffelte. Es schien mir jedoch Stunden später, da er „Fertig!“ krähte.
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich am Boden des sauberen Bechers die völlig joghurtfreien Obststückchen liegen sah. Wie hatte er das gemacht? 
Bis heute ein Rätsel.
Bis heute zum Verrücktwerden. 
Es zeigte sich, dass der Speiseplan meines Sohnes nur zehn Variabeln entwickeln würde: Schokocremebrote, Garnelensushi, Gurke, Nudeln ohne Soße, Breaburn-Äpfel, japanische Suppen, Pizza, Putenbrust mit Pommes, Hamburger (nur Fleisch und Ketchup), Gemüsesuppe. Einmal waren es elf gewesen. Aber nur solange bis er wusste, dass Bärchenwurst Geflügelmortadella ist.
Wie soll man mit diesen Vorgaben, die Rolle als gute Mutter erfüllen?

Ich gab nie auf. Stehe seit Jahren in der Küche, koche, brutzle und arrangiere gesunde Speisen aller Art und scheitere täglich. Denn wer erfragt die eigentlich?
Mein Sohn nicht. Er isst Schokocremebrote, japanische Nudelsuppen und Breaburn-Äpfel und wächst trotzdem, auch an den richtigen Stellen. Er kann klar denken, hat weder Hautausschläge noch sonstiges Organversagen und auch keinerlei Intoleranz. Außer gegenüber einer gesunden und ausgewogenen Kost.

Letztens sagte er: „Mama, gib dir doch nicht immer so viel Mühe. Wenn ich mal ausziehe, esse ich sowieso nur noch Fertigkram.“
Es wird wohl Zeit, mich langsam zu entspannen.

Samstag, 2. April 2016

Weil ich ein Mädchen bin – eine kleine Buchbesprechung

Als ich 13 Jahre alt war, las ich sehr gerne Ratgeber für Mädchen und junge Frauen. Überraschenderweise solche, die für eine ganz andere Mädchengeneration geschrieben worden waren. Es gefiel mir, die morgendliche Gymnastik am offenen Fenster zu turnen, mir ein Haarband zu knoten und mein Gesicht mit einer einfachen Feuchtigkeitscreme zu verwöhnen, meine Kleidung zuhause in eine gepflegt gemütliche (Jogginghose) zu tauschen, um die gute zu schonen, sonntags einen Kuchen zu backen und die Freundinnen (die ich nicht hatte, nur eine, die aber so weit weg wohnte, dass sie sonntags nicht einfach so hätte vorbeikommen können) zu einem Plauderstündchen einzuladen. Das waren alles Tipps aus den Büchern für Mädchen der 50er Jahre. Warum gefiel mir so etwas? Vielleicht war das so etwas wie Sehnsucht nach Ruhe, Geordnetem und Normalität in einer Zeit, die bis zur totalen Erschöpfung aufregte? 

Bis kurz davor las ich wilde Abenteuerromane und Capote, zeitgleich lieh ich mir heimlich schundige Mysterie- und Denise-Heftchen von meiner Freundin aus, mit 14 versank ich dann in Francoise Sagan und Balzac und hatte meinen ersten, 6 Jahre älteren Freund. 

Dieses eine Jahr war also mein Mädchenjahr und vielleicht gab es damals keine adäquaten Mädchenbücher, die Zeitschrift Mädchen flatterte hin und wieder vorbei, ich flüchtete in Nostalgie, las Schundhefte und schrieb mir die Qual der Pubertät aus der Seele ins Tagebuch. 


Wenn man all diese Versatzstücke zusammennimmt (Tipps für die Gesund- und Schönheit / kleine Rezepte / Freundinnengeschichten / erste Liebe, erster Kuss und erster Sex / quälende Gefühle, große Fragen und wilde Gedanken), wenn man diese wunderbar aufregende Mixtur ergänzt mit den Erkenntnissen, Erfahrungen und dem Wissen, das uns heute, 32 Jahre später zur Verfügung steht, das Ganze noch abschmeckt mit Zeitgeist und Emanzipation, dann erhält man Ilona Einwohlts neuen Mädchenratgeber „Weil ich ein Mädchen bin“ (Sauerländer). 
Ein fröhlich gestaltetes Buch für den Beginn der Zeit zwischen Kind und Frau, das über vieles Bescheid weiß und erste Fragen beantwortet, das Mut und gute Laune macht, das rät und tröstet, vor allem aber zur Achtsamkeit sich selbst gegenüber gemahnt und entsprechende Übungen parat hält. Wahrscheinlich hätte ich das Buch geliebt, vielleicht schon etwas eher, etwa mit 11 bis 12 Jahren.