Mittwoch, 24. September 2014

Die Zeit – Frau Herden gerät in Not



Als ich heute Morgen direkt aus einem Albraum ins Wohnzimmer getorkelt kam, rannte mein Sohn wie ein gehetzter Hahn darin herum und warf mit Schulbüchern um sich.
„Was ist denn los?“, fragte ich leichtsinnigerweise.
„Guck doch mal auf die Uhr!“, fuhr er mich an.
In dem Moment läutete die Kirchenglocke dreimal.
„Na, super!“, stöhnte er und warf mir einen vernichtenden Blick zu. „JETZT müsste ich in der Schule sein.“
Dann knallte die Tür.
„Ich wünsche dir einen schönen Tag und ich hab´ dich lieb“, sprach ich leise dagegen.
Ich musste mich zusammenreißen, weil ich mich beinahe schuldig fühlen wollte. Dabei hatte ich gar keine Schuld. Meine Kinder stehen des Morgens alleine auf und machen sich auch alleine fertig. Das erwarte ich. Immerhin darf meine Tochter schon Bier trinken und mein Sohn blickt mich mitleidig an, wenn ich abends an eine meines Erachtens gesunde Zubettgehzeit gemahne.
Schuld war die Zeit.

Über die hatte ich gerade, so ganz kurz vor dem Aufwachen, nachgedacht. Gestern waren wir nämlich in den Pilzen. Das letzte Mal ist auch noch nicht so lange her. Da liegen nur Weihnachten, Ostern und der Sommerurlaub dazwischen. Diese Erkenntnis jagte mir einen Angstschauer über den bettwarmen Rücken.
Man wird ja sein ganzes Leben ungefragt mit Sätzen über die Zeit bombardiert. Vor allem wie schnell sie vergehen würde. Je älter man werde, desto schneller rase die Zeit dahin, heißt es. Früher drehte ich ob solcher Weisheiten des Öfteren heimlich genervt die Augen nach oben. Heute würde ich das nicht mehr tun können. Denn: Sie hatten recht! Himmel und ich wollte doch noch so viel machen! Skateboardfahren lernen zum Beispiel, zehn Kilogramm überflüssiges Körpergewicht loswerden, noch einmal mit dem VW-Bus von Biarritz bis Lissabon fahren und jede Welle surfen, meine Haare tomatenrot färben und die tolle Torte auf dem letzten „Sweet Paul“-Magazin nachbacken. Wann sollte das denn noch alles passieren, bei den wenigen Momenten, die mir noch blieben? Selbst das damals sechsjährige Söhnchen hatte einst traurig festgestellt: „Seitdem ich die Uhr lesen kann, vergeht die Zeit viel schneller.“

Als endlich die Wand, in der sich unsere Wohnungstür befindet, aufhörte zu vibrieren, lief ich mit hängenden Schultern in die Küche und kochte mir einen löslichen Kaffee. Das ging schneller. Damit setzte ich mich dann auf die Couch. Eigentlich hatte ich eine Menge zu tun und wollte auch gleich loslegen, aber das hier war jetzt wichtiger. Ich schnappte mir die Kiste mit den Fotografien meines Lebens: die alten Aufnahmen aus der ehemaligen DDR, die Sommerabenteuer mit den Faltbooten durch den wilden Osten, die Jahre und Reisen als Fotomodell, die Monate in Kapstadt, Barcelona, Miami und Sydney, die Studienjahre, die drei S in Kalifornien (Surfen, Segeln, Sex), die eine Hochzeit in Vegas, die andere im Frosch- und Lurchverein, die Zeit, als die Kinder noch klein waren, die vielen Wochen unterwegs und on the road, die vielen wunderbaren Menschen, die ich bisher kennengelernt habe ... Ich hatte mich noch gar nicht so weit durch den Fotostapel gearbeitet und war noch lange nicht beim Heute angekommen, da hatte ich schon wieder gute Laune und fühlte mich entpannt: Das war ja Material aus drei Leben, mindestens.
Trotzdem werde ich mir die Tage ein Paar halbhohe Turnschuhe kaufen und mir mal heimlich das Longboard meiner Tochter schnappen.

Mittwoch, 10. September 2014

Mit Gleichaltrigen unterwegs – Frau Herdens Familien-Surf-Campingurlaub am Atlantik kann nicht mithalten



„Ferienlaaager, Ferienlaaager – wie wunderbaaaaaar ...“, sangen meine Schwester und ich lautstark und mit Inbrunst. Weil wir uns darauf freuten. Denn das DDR-typische Ferienlager war klasse. Wir fuhren jedes Jahr für 17 einmalige Tage der langen Ost-Sommerferien nach Westerhausen in den Harz. Lagen diese 17 Tage am Anfang des Sommers, war auch gegen unseren sehnsüchtig-fröhlichen Gesang nichts einzuwenden. Lagen sie jedoch am Ende der Ferien, bedeutete das, mein Schwesterherz und ich ließen unsere Hymne vom Rücksitz des Trabis erschallen, der uns durch das bulgarische Rila-Gebirge oder die hohe Tatra kutschierte, aus unserem kleinen roten Zelt, das in einer einsamen polnischen Flussaue stand, oder aus den Paddelbooten, die uns die Moldau hinuntertrugen – in einer Zeit also, die meine Eltern ihren Sommerurlaub nannten und den sie lange und liebevoll für die Familie geplant hatten. Aua!

Daran dachte ich, als ich irgendwann in den letzten Wochen eine Tasche für meinen Sohn packte, der in ein Jugendzeltlager an die Ostsee fahren wollte. Ich dachte auch daran, was für ein Vergnügen es für mich gewesen war, meinen Koffer für das Ferienlager selbst zu packen. Oh, welch köstliche Vorfreude! Meine liebe Frau Mama hatte eine Packliste in den Kofferdeckel geklebt, der ich Punkt für Punkt folgte. Der Koffer selbst war aus Echt Vulkanfieber. Das stand auf einem kleinen Schild. Ich wusste nicht, was Vulkanfieber ist, stellte mir aber etwas Unglaubliches vor, das unter größter Gefahr und in mörderischer Hitze auf einer einsamen Ozeaninsel ans Tageslicht gebracht wurde.


Die praktische Reisetasche meines Sohnes packte ich, weil er selbst einfach zuviel Programm hatte. Nach dem Verwandtenbesuch in Dänemark war er sogleich am nächsten Morgen nach Köln zum Videoday, der überraschenderweise zwei Tage und eine halbe Nacht dauerte, aufgebrochen. Davon zurückgekommen bliebe keine Zeit zum Sachenpacken, denn schon am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe ging es an die Ostsee.

Vielleicht waren das fehlende Taschepacken, die fehlende Muße zur Vorfreude oder auch die Übermüdung daran Schuld, dass mich am ersten Abend des Camps dann verzweifelte Einsatz-Hilferufe per SMS erreichten. Insgesamt waren es zehn. Einer davon lautete: Ich will nach Hause! Ein anderer: Mama????? Mein liebendes Mutterherz machte einen nervösen Satz, Unruhe erfasste mich, die sich in der folgenden Nacht ins Unermessliche steigerte. Himmel, das Kind litt in der kalten Fremde! Am nächsten Tag setzte ich eine mittelgroße Maschinerie in Gang, die viele Leute involviert und sehr viel gekostet haben würde, um meinen Sohn zu retten. Nur seinen abendlichen Telefonanruf wollte ich noch abwarten. Als der nicht kam, rief ich ihn an.
„Wie geht es dir, mein Schatz?“, schrie ich panisch ins Telefon.
„Gut“, antwortete der Sproß knapp. „Aber du kannst mich hier nicht anrufen. Wir haben Nachtruhe.“ Klick.

Ich hörte dann erst wieder etwas von ihm, als er sechs Tage später mit dem Zug aus Hamburg auf dem Heimweg war. Es ging darum, wer ihn vom Bahnhof abholen könnte. Und schließlich – erst tröpfelnd, dann immer ausführlicher –erzählte er vom Jugendlager im nachfolgenden atlantischen Familien-Surf-Campingurlaub. Irgendwann fragte ich mich sogar etwas ärgerlich, wie all diese ultracoolen und superlustigen Erlebnisse in sieben Tage gepasst haben sollen. Dann musste ich grinsen. Ferienlager, eben.