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Freitag, 9. März 2018

Von welcher Zukunft träume ich? – Harald Welzer im Gespräch mit Schülern


Von welcher Zukunft träume ich? –

Harald Welzer, Sozialpsychologe, Gründer von „FuturZwei – Stiftung Zukunftsfähigkeit“ und Mitbegründer der Initiative „Die offene Gesellschaft“, der sich für eine lebenswerte Zukunftsgestaltung einsetzt und für die zivilgesellschaftliche Verteidigung demokratischer Werte steht, diskutierte das mit Schülern am 9. März 2018 in der Centralstation.

Ich habe das zweistündige Gespräch zusammengefasst. Vorab möchte ich jedoch schreiben, dass die Eingangsfrage von den Schülern nicht beantwortet wurde. Mich schockierte das ein bisschen. Haben die 15- und 16Jährigen wirklich keine eigenen Zukunftsvisionen?




Wir haben das Glück, in einer Zeit und in einer Gesellschaft zu leben, die uns satt, gesund und frei sein lässt. (Selbst Ludwig der 14., Sonnenkönig genannt und bekannt als der europäische Monarch schlechthin, fror jämmerlich im prachtvollen Versailles, in dem es zudem mangels Toiletten aus allen Ecken stank.)
Unsere Lebensumstände ermöglichen es, die eigene Zukunft zu gestalten.

Davor steht natürlich die Frage: Wie stelle ich mir meine Zukunft vor? Und auch: Wie setze ich meine Visionen und Wünsche um?

In einer Demokratie hat jeder Mensch die Chance, das Leben, die Gesellschaft, die Zukunft mitzuformen und zu entwickeln. Eine Chance, die im gleichen Maß Verantwortung bedeutet. Zum Beispiel die Verantwortung, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, nachhaltig zu handeln und diesen Planeten den folgenden Generationen nicht als Mülleimer zu hinterlassen.

Natürlich gibt es unfassbar viele Ablenkungen, die es einem mehr als einfach machen würden, sich rauszuhalten, träge zu werden, die Verantwortung für sein Handeln und für sein Leben abzugeben. Diese Entscheidung muss jeder für sich treffen. Mische ich mich ein, bin ich Gestalter und Bestimmer meines Lebens und meiner Zukunft? Oder versinke ich in den Ablenkungen anderer, die dann für mich entscheiden?
Glücklich werden diese Ablenkungen einen nicht machen. Da können apple, samsung oder netflix noch so viel versprechen.

In einer Welt, in der die Zahlen der absolut Armen, der Säuglingssterblichkeit und Hungertoten stetig zurückgehen, ist nicht alles schlecht und verloren. Auch wenn die dramatischen Darstellungen von Amokläufen, Präsidentenidioten, Krawallen, Unmenschlichkeit, Rechtspopulismus und Flüchtlingssituationen in den sozialen Medien das Gegenteil suggerieren wollen. Sich davon nicht kirre machen zu lassen, sondern sich bewusst zu informieren, die Informationen zu filtern, sich eine eigene Meinung zu bilden und daraus eine Position abzuleiten, sind Schritte in die eigene Richtung. Und diese eigene Richtung bestimmt man selbst. Jedenfalls darf man das.

Täglich ist man extremen Widersprüchen ausgesetzt. So versucht beispielsweise die Werbung den Einzelnen zum Ultrakonsum zu verführen, während Prognosen und Studien auf die Zerstörung der Umwelt hinweisen. Man weiß, ein weiteres Wachstum der Wirtschaft wie in den vergangenen Jahrzehnten ist nicht möglich. Der Planet ist endlich, der Regenwald licht, die Ozeane voller Plastik, der Boden voller Gifte, die Luft angereichert mit festen Partikeln. Zu einer lebenswerten Zukunft gehören aber vor allem existentielle Dinge wie sauberes Wasser, ausreichend Sauerstoff, gesunde Nahrungsmittel und Bewegungsfreiheit. Sinnfreies Habenwollen zerstört die Erde. Ein Weltretter kauft nichts, was er nicht zum Überleben braucht. Das wissen wir. Doch die Innenstädte mit ihren Auslagen, die Werbung in allen Medien und das Internet schreien uns an: Du musst konsumieren! Interessanterweise gar nicht, um zu besitzen, (die wissen selbst, dass niemand Wohnungskrimskrams, das neuste Smartphone oder sieben Hosen braucht), sondern um angeblich glücklicher zu sein. Also, nach dem Motto: Besitz macht glücklich.

Aber stimmt das? Wie lange erfreue ich mich an den neuen Nike Air Max oder am nigelnagelneuen Smartphone? Irgendwann ist es einfach ein Paar Schuhe, damit man keine kalten und nassen Füße kriegt, und eine Kommunikationsmöglichkeit mit zersplittertem Display, die aber zum Glück noch funktioniert. (Im Zweifelsfall genügte aber auch das alte Phone, das der Kumpel noch in der Schublade hat. Hauptsache ist doch, man kann seine Leute erreichen.)
Das Leben selbst würde einem also deutlich machen können, dass man eigentlich gar nicht so viel braucht oder besitzen muss, dass Besitz nicht langfristig glücklich macht und dass es ganz cool wäre, wenn der Planet noch eine Weile ausreichen würde, man im Meer baden könnte, bis zur Atemlosigkeit rennen, um dann einen tiefen Zug frischer Luft nehmen könnte, und dass Vögel, Blumen, Bäume und was die Natur sonst noch vorbringt, eigentlich auch ganz schön und vor allem lebenswichtig sind.
Aber bevor man da bewusst ankommt, hat apple schon wieder das nächste Tablett entwickelt und schaltet Werbung, die einen manipuliert: Ohne das neue Produkt bekäme man nichts geregelt, sei nicht dabei, uncool und irgendwie raus. Trotz besseren Wissens zieht man also wieder los und kauft.
Wer diesen Widerspruch zumindest wahrnimmt und ihn erkennt, ist noch normal in Hirn und Herz. Sich davon zu befreien, selbstbestimmt entscheiden zu wollen, wäre dann der erste Schritt in eine eigene Zukunft.

Es wird immer Menschen geben, denen Zukunft, selbst die eigene, egal ist. Darüber kann ich mich ärgern. Ich kann versuchen, sie aufzuklären, und sie irgendwie wachzurütteln. Aber sie dürfen nicht diejenigen sein, die mein Tun beeinflussen. Sie dürfen mich nicht so sehr frustrieren, dass ich die Lust verliere, zu gestalten und zu bestimmen. Ich entscheide über mein Tun. Die Frage „Wie gehe ich persönlich mit den Möglichkeiten, die sich mir bieten, um“, macht das Leben spannend.
Sind meine Schritte erfolgreich, werden sie belohnt, weil mir etwas gelingt, weil ich ein Ziel erreiche, macht mich das stolz und gibt mir Anerkennung. Daraus entwickle ich Vertrauen in mich selbst und meine Fähigkeiten. Ein Mensch, der daran glaubt, dass er selbstbestimmt handeln und mit seinem Tun etwas erreichen kann, entwickelt letzten Endes Zufriedenheit und Glücksgefühle. (Siehe dazu auch den Wiki-Eintrag über Selbstwirksamkeitserwartung.)

Meine eigenen Zukunftsvorstellungen werden niemals eins zu eins umgesetzt werden können. Das ist nicht frustrierend, sondern logisch und auch richtig. Wir sind keine Einzelgänger. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Meine ureigenen Gedanken und Ideen werden durch das Denken und Tun der anderen verändert. Sie inspirieren den anderen, er wird sie aber nie so verstehen oder umsetzen, wie ich das tue oder tun würde. Daraus entstehen gemeinschaftliche Modelle und Projekte.

Falsch Gedachtes kann man nicht optimieren.
Situationen, Erfindungen und Systeme, die verkehrt sind, können nicht verbessert werden. Man muss sie loswerden. Das gelingt nur über eine geänderte Fragestellung. Im Wechsel der Perspektive und der Hinwendung in eine ganz andere Richtung, sucht und findet man Ansätze und Lösungen, die Zustände und letztlich ganze Systeme komplett verändern.
Beispiel: Auto
Das Auto zerstört die Umwelt, verschwendet Ressourcen und nimmt dem Menschen Lebensraum. Egal wie sehr die Hersteller daran arbeiten, ein „grünes“ Auto zu produzieren, es wird nicht gelingen, den Fehler Auto mit einem optimierten Auto auszumerzen.
Hier muss man umdenken, also die Fragestellung ändern. Der Mensch möchte mobil sein, braucht diese Mobilität in gewissen Maßen auch. Wie kann ich diese Mobilität ohne Auto gewährleisten?

Viele Probleme dieser Welt kämen über eine geänderte Fragestellung zu einer Lösung. So wird das Thema Überbevölkerung oft problematisiert. Überbevölkerung bedeutet gemeinhin, dass es angeblich nicht genug Nahrung und andere Ressourcen für die Anzahl der Menschen auf der Erde gäbe. Das ist bei richtiger Fragestellung Unsinn. Denn niemand müsste hungern oder darben, wenn Nahrungsmittel, Medikamente, Wohnraum, Wasser, Bildung usw. gerecht verteilt wären. Doch das sind sie nicht. Zum Beispiel verbrauchen die Deutschen das 5- bis 10-fache und die Amerikaner sogar das 10- bis 20-fache an zur Verfügung stehenden materiellen und immateriellen Gütern im Verhältnis zu den meisten afrikanischen Ländern.

Zukunft zu gestalten bedeutet eben auch immer, die richtigen Fragen zu stellen und die üblichen Pfade zu verlassen. Besonders wenn sie als Sackgassen enden.
Wir bemessen beispielsweise das Niveau unserer Gesellschaft über das Bruttosozialprodukt. Das Bruttosozialprodukt allerdings wächst auch über Zerstörung. Ein Krieg mit nachfolgendem Wiederaufbau erhöht das Bruttosozialprodukt eines Landes. In dieser Denkweise also den Wohlstand der Bevölkerung. So betrachtet muss man fragen, bemisst es tatsächlich das Wohlleben der Gesellschaft?
Wie gut geht es den Menschen, wäre doch hier die viel bessere Frage.

Natürlich kann ein Mensch im ersten Schritt eines Einzelgangs keine Gesellschaft oder ein ganzes System ändern. Aber er kann Impulse geben, die zu einer Veränderung führen können.
Gesellschaften sind keine statischen Systeme, sie sind nicht stabil und entziehen sich letztlich der Kontrolle durch den Menschen. Einzelne Impulse bringen kleine Verschiebungen. Vom Einzelnen inspiriert, können sie wachsen und zu Bewegungen werden. Dabei ist es nicht wichtig, ob der Erste das System an sich ändern wollte, oder ob er überhaupt politisch dachte oder eher persönlich inspiriert handelte. Aber aus Einzelaktionen entstandene Bewegungen erzeugen Aufmerksamkeit. Letztlich auch bei der Politik.
Die Geschichte zeigt, dass viele Handlungen eigentlich anders motiviert waren und etwas ganz anderes erreichen wollten, als sie es dann taten.
Zum Beispiel der Mauerfall. Damals gingen die Menschen in der ehemaligen DDR auf die Straße, um die Zustände im eigenen Land anzuprangern. Sicher hätte niemand von ihnen gedacht, dass nur ein Jahr später das Ende einer Diktatur zu feiern war. Und das ohne Gewalt.

Darum kann also auch der Einzelne etwas verändern. Er muss nur den ersten Schritt gehen, einen Impuls setzen. Der kann zu einer Dynamik führen, so dass aus einer Person eine Gruppe mit dem selben Anliegen entsteht, daraus wiederum eine Bewegung, die auf die Gesellschaft übergreift, die dann letztlich das System ändert.

Jeder, der in einer Demokratie lebt, ist in der Lage, seine Zukunft selbst zu gestalten. Er muss nur anfangen, etwas zu tun. Nicht darüber reden, sondern machen.

Samstag, 17. Juni 2017

Die Mutter-Kolumne – Verwöhnen tut nicht gut! Wer sagt das denn?

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wieso eigentlich.



Wir hatten nie viel Geld. Aber es gab ja Kinderflohmärkte. Von denen schleppte ich Beutel voller Bücher, CDs, Comics, kleine Spielwelten, Püppchen, Plastikroboter, Legofiguren und Ähnliches ins Zuhause. Erstens bin ich eine Schatzsucherin und zweitens, und noch viel wichtiger, gab es nichts Schöneres, als meinen Kindern eine Freude zu machen.

„Omi sagt, du verwöhnst uns“, meinte das Töchterchen eines Tages.
„Und Opo sagt das auch“, krähte das Söhnchen hinterdrein.
„Wenn Kinder zu sehr verwöhnt werden, dann können sie keine guten Menschen sein. Sie wissen nichts von wertvollen Dingen und verschwenden alles“, ergänzte das niedlich bezopfte Wesen der Kinderschar.
Mein Sohn nickte gewichtig dazu.
Himmel, wenn einem schon die eigenen Kinder sagen, dass man sie zu sehr verwöhnt, dann muss da viel Wahres dran sein. Ich selbst war auch schon etwas unsicher geworden.
Gedankenverloren stieg ich mehrfach über die Schlange aus Playmobilszenerien, Cowboy-Forts, Polly Pocket Häuschen und Legoaufbauten, die sich meterlang durch unsere Wohnung wand. Die Kinder hatten sie tagelang in versunkener Lust aneinandergereiht, glücklich über jede Station und jedes einzelne Figürchen, das sie hinzufügen konnten. Seitdem bespielten sie sie, sobald sie nach Hause kamen. Nun schien diese Spielzeugschlange der anklagende Beweis für mein pädagogisches Fehlverhalten zu sein.

Seufzend strich ich die nächsten Flohmarkttermine aus meinem Kalender. Dann leerte ich die Belohnungskiste. Dabei hatte ich die als eine ganz besonders clevere Möglichkeit des Schenkens eingeführt. Meine Lieben durften sich nämlich jedes Mal etwas herausnehmen, wenn sie etwas gut gemacht hatten. Okay, manchmal auch, wenn sie einfach etwas gemacht hatten. Ihr Zimmer aufgeräumt, zum Beispiel, oder wenigstens die dreckigen Socken neben die Waschmaschine gelegt hatten. Also gut, einen Socken.
Eigentlich wusste ich ziemlich genau, was meine Eltern meinten.

Meine Kinder allerdings nicht. Nur wenige Tage später erlauschte ich zufällig das Gespräch im gemeinsamen Bade.
„Die Belohnungskiste ist ganz leer“, raunte das Söhnchen.
„Ja, das habe ich gesehen“, meinte das Töchterchen.
„Jetzt müssen wir nicht mehr Zimmer aufräumen, wenn wir ein kleines Geschenk wollen“, hoffte mein Sohn.
„Nee. Das kann nicht sein. Ich glaube, wir kriegen keine kleinen Geschenke mehr“, vermutete meine Tochter. „Wir hätten Mama nicht das mit dem Verwöhnen sagen dürfen.“
„So was Doofes“, schimpfte das Söhnchen.
„Wir hätten lieber das andere erzählen sollen, was Omi auch gesagt hat“, überlegte das Töchterchen.
„Du meinst das mit dem Kea... Kreta... Du weißt schon, was ich meine“, fauchte das Söhnchen, wütend über den doppelten Unbill, erst sich die Geschenke vermasselt zu haben und dann das rettende Wort nicht aussprechen zu können.
„Mhm“, machte das Töchterchen. „Dass wir beide so dolle kreativ sind und immer so schön miteinander spielen.“

Mehr musste ich nicht hören. Voller Glück und Liebe hüpfte ich über die Windungen der Spielzeugschlange ins Wohnzimmer und füllte die Belohnungskiste bis zum Rand.

Freitag, 27. Januar 2017

Das Fernsehen in der Bude

Ich laufe mit konzentriert zusammengekniffenen Augen durch die Bude. 
Morgen kommt das Fernsehen. Sie wollen mich beim Arbeiten filmen. Ich arbeite zuhause. 



Was muss weg? Welche Dinge sind zu persönlich? 
Wer meine Wohnung kennt, bricht jetzt in Gelächter aus. Es gibt keinen einzigen Quadratzentimeter, der nicht zutiefst persönlich ist. Selbst unterm Sofa liegen Zeugen dieses meines Lebens herum. Jeder Winkel, jedes Eckchen, jede Fläche, jedes von irgendwelchen Objekten gebildete Räumchen schreit meine, unsere Geschichte hinaus. 



Sogar die Luft riecht danach. Vorgestern gab es zum Beispiel Ente. Die war mir angebrutzelt. Ich benutze Handcreme mit Rosmarinduft und abends brennt eine Pommegranate-Kerze. 



Hier stehen unzählige Bücher, die mich prägten. Die Wände hängen voller Illustrationen. Überall stehen kleine Dinge, Skurriles und Erinnerungen, die das Leben anspülte. Eichhörnchenschädel, Mangafiguren, Steine, Muscheln, Ozeanplastik, Fotos, Schlangehäute und Haieier, Notizen, Bonbongläser, Kerzenhalter, CDs. Ein riesiges durchgesessenes Sofa mit vielen Kissen ist Arbeitsplatz, genauso wie der Esstisch, ein wuchtiges Stilmöbel mit farbspritzerübersäten Fritz Hansen-Stühlen drumherum. Ebenso angespült, abgestellt und gefunden wie der Rest. 



Keine Chance. Wenn der Kameramann ein gutes Auge hat, dann hat er mit drei, vier kurzen Schwenks über unser Wohnzimmer den Großteil meiner Seele offenbart.


Und dann:

Einst stand ich beinahe täglich vor der Kamera. Das ist aber schon eine ganze Weile her. Ich hatte trotzdem das Gefühl, wir konnten davon noch etwas profitieren. Dennoch, haben wir 11 Stunden gedreht. Für einen 6-minütigen Beitrag. Hauptsache Kultur, Hessischer Rundfunk. 
Großen Dank an die 6. Klassen des LGG und Frau Weiler, an die Buchhandlung am Markt in Darmstadt, die Centralstation Darmstadt und an das lustige Filmteam des HR. 
Ich habe viel gelacht. 
Manchmal auch heimlich.
Hier geht es zum Beitrag.


Dienstag, 13. Dezember 2016

Gedanken kurz vor Ladenschluss

Gedanken kurz vor Ladenschluss: Vielleicht kann man die Welt tatsächlich nicht mehr retten. Zumindest nicht die Menschheit. Jedenfalls nicht vor sich selbst. Klar, eine Zombieapokalypse abzuwehren, das könnte man schaffen. Eine Alieninvasion auch. Ebenso wie man wahrscheinlich einen auf den Planeten zurasenden Meteoritenschwarm umlenken, eine Springflut besänftigen oder ein alles zerlegendes Virus ausmerzen könnte. Zur Not könnten wir sicher auch auswandern, irgendwohin. Das All soll ja unendlich sein. Müssten wir nur die Gravitation überwinden. Ich bin sicher, das sind alles Kleinigkeiten. Im Gegensatz zum Kampf gegen das gefährlichste, dümmste, egoistischste und brutalste Wesen, das es überhaupt gibt, dem Menschen selbst. Ich schreibe das mit tiefem Ingrimm, absoluter Überzeugung und dem heimlichen Wissen, dass ich aber nicht dazu gehöre. Wahrscheinlich wie alle, die das hier gerade lesen.
Dabei stimmt das gar nicht. Dass ich nicht dazugehöre, meine ich. Ich wüsste es nur manchmal besser. Aber bin ich das auch? Besser? Bin ich immer und absolut konsequent, in dem was ich tue, weil ich weiß, was ich weiß?
Ich erwarte nichts von mir, das Superhelden, Gremien, ethische Räte und Versammlungen weiser Menschen auch nicht hinbekommen. Das wäre albern. Ich denke auch nicht, dass ich allein deshalb ein guter Mensch wäre, wenn ich Online-Petitionen unterschriebe oder weinende Icons unter Kriegsbilder setzte. Ein wenig weiter bin ich schon. Das darf ich sagen.
Mir ist klar, wenn ich hier mehr konsumiere und verbrauche, als mir zusteht (und das ist qua Geburtsort und Lebensraum immer mindestens + 0,8 Erden – klickt Euch mal durch den FoodPrint-Rechner – http://www.fussabdruck.de/fussabdrucktest/#/start/index/ –, es ist zum Heulen), dass ich anderen woanders ihren Anteil wegnehme. Das ist nicht gerecht. Und Ungerechtigkeit führt in letzter Konsequenz zu Kriegen. Gegen die ich doch mit jeder Faser meines Herzens bin. Eine Krux. Die ich durch vorbildliches Verhalten zu lösen versuche. Ich baue mein eigenes Gemüse an, fahre mit dem Fahrrad und mit öffentlichen Verkehrsmitteln, lebe in einer Wohnung voller angespülter Lebenserinnerungen und wackliger geerbter oder gefundener Gebrauchsgegenstände, habe kein Smartphone, konsumiere so wenig wie möglich. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass mir all das leicht fällt. Ich liebe meinen Acker und die Feldarbeit, ich fahre gerne Rad und Zug, ich habe kein Geld, um letztlich Überflüssiges zu konsumieren, außerdem erlebe ich lieber etwas, als dass ich Materielles um mich häufen möchte.
Ist das also genug? Zumal es mir eben auch liegt und keine wirklichen Opfer fordert? Es fühlt sich oft nämlich nicht gut und ausreichend an.
Vielleicht schreibe ich darum Kinderbücher. Zwischen den Geschichten und Abenteuern möchte ich meine eigenen Werte formulieren und – ja, ich gebe es zu – auch weitergeben. Und natürlich freut es mich dann, wenn meine Bücher beispielsweise wegen der Vermittlung des Demokratiegedankens von Kinderrechtsorganisationen gelobt werden. Aber ist das nun genug?
Gestern zum Beispiel kaufte ich eine Weihnachtsbaumbeleuchtung. Dabei muss hier noch irgendwo eine vom vorletzten Jahr sein. Ich konnte sie nur nicht finden. Nein, stimmt nicht. Ich war zu faul, danach zu suchen. Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich öfter mal zu faul, zu kaputt, zu erschöpft. Dann gehe ich doch in den Laden. Danach habe ich zu recht ein schlechtes Gewissen. Das versuche ich dann am Schreibtisch im aktuellen Manuskript wieder abzubauen.
Und so entstehen Bücher, die letztlich meiner Wunschvorstellung des Menschseins entsprechen. Weil ich aber wahrhaftig bin, breche ich sie immer auch gleich selbst wieder, in dem ich innere Konflikte einbaue. Denn perfekte Menschen gibt es nicht. Außerdem würden die entsetzlich nerven. Von Nervenden wollen wir nichts annehmen, auch nicht das Gute.
Und so schreibe ich weiter, male mir die Welt in meinen Farben und versuche hinterher selbst danach zu leben. Es würde mich freuen, wenn ich nicht die einzige wäre.
Was wollte ich eigentlich mit all dem hier sagen? Vielleicht alles, vielleicht nichts. Gedanken kurz vor Ladenschluss eben. Und ein inniger Wunsch: Lasst uns bitte besser werden.

Donnerstag, 24. November 2016

Die Mutter-Kolumne – Sag Danke!

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wieso eigentlich.


„Du musst danke sagen“, raunte das Töchterchen ihrem Bruder zu.
Mir hatte das ebenfalls auf der Zunge gelegen, obwohl ich wusste, dass mein Sohn Hustenbonbons nicht mag. Ein solches hatte ihm aber gerade eine ältere Dame zugesteckt.
„Danke“, knurrte das Söhnchen. „Das kannst du aber behalten. Das schmeckt nicht.“
„Unverschämtheit“, zischelte die Dame beleidigt.
Das Töchterchen kicherte.
„Warum muss ich danke sagen, wenn ich was kriege, was ich gar nicht haben will?“, fragte mein Sohn.
„Man muss immer danke sagen, wenn man etwas geschenkt bekommt“, erklärte seine Schwester.
„Warum?“, fragte mein Sohn.
„So zeigt man dem anderen, dass man sich freut, weil der an einen gedacht hat“, versuchte ich mal wieder in einen Satz zu stecken, was eigentlich von rotem Wein begleitetes Philosophieren gefordert hätte.
„Wegen der guten Absicht, stimmt´s?“, meinte das Töchterchen.
„Mhm“, machte ich nachdenklich.
„Aber vielleicht mag die Frau selbst keine Hustenbonbons und hat es mir nur gegeben, damit sie es los ist“, wandte mein Sohn ein.

Diesen Gedanken hatte ich in anderen Situationen auch schon des öfteren. Auf dem Dachboden häuften sich alte Bücher, Nippes und unsinniger Küchenkram, den mir liebe Menschen geschenkt hatten, weil sie der Meinung waren, ich könnte das alles gut gebrauchen. Ich hatte immer brav danke gesagt und werde eines Tages ein ernstzunehmendes Entsorgungsproblem haben.
Dabei gab es einiges, was ich tatsächlich gerne gehabt hätte. Das hatte ich auch formuliert, diese Dinge aber nie bekommen. Wenn ich ehrlich war, traf diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit auch auf ganz anderes im Leben zu. Männer zum Beispiel.
Darum seufzte ich leise, als wir die Metzgerei betraten.
„Nehmt eine Wurst“, forderte die Fleischthekenfachkraft und wedelte bedrohlich mit einem langen Messer, an dessen Spitze zwei dünne Scheiben Wurst baumelten.
Das Töchterchen griff beherzt zu.
„Danke schön“, trompetete es genüsslich kauend.
„Hilfe“, flüsterte mein Sohn.
Er mag nur Wurst mit einem Bärchen darauf, doch die Frau stieß gnadenlos ihr Messer in seine Richtung. Ergeben nahm der Kleine die Scheibe und stopfte sie in seine Hosentasche zu den billigen Kaubonbons vom Bäcker.
„Das gibt es ja gar nicht!“, ereiferte sich die Verkäuferin. „Andere Kinder auf der Welt verhungern. Du solltest dankbar sein für die geschenkte Wurst.“
Da platzte meinem Spross der Kragen.
„Aber ich bin doch dankbar!“, schrie er. „Weil ich genug zu essen habe und das neue Lego Starwars kriege. Weil Frau Müller erlaubt, dass ich mein großes Kuschelkissen mit in den Kindergarten bringe. Weil wir nicht unter einer Brücke wohnen müssen und das Monster unterm Bett wieder ausgezogen ist.“
„Und weil Mama uns lieb hat“, quakte sein Schwesterherz dazwischen.
„Und weil Mama uns lieb hat“, rief das Söhnchen. „Aber ich will keine gelbe Wurst. Die ist eklig.“
Ich strahlte in die Runde. Solche wunderbaren Kinder, dachte ich voller Dankbarkeit.

Dienstag, 22. November 2016

Lest (das)! Bitte!

Zurück von meiner Herbstlesetour kreuzen mir Gedanken und Eindrücke durch den Kopf, die ich gerne einmal aufschreiben möchte. Viel zu lang und unsortiert, aber wenigstens formuliert. Sorry, ich platze sonst.
Ich sprach in den letzten drei Wochen mit Hunderten von Kindern, vielen Lehrern und Bibliothekarinnen und muss sagen: Ich mache mir Sorgen. 
Egal wie oft wir Kinderbuchautoren hier über begeisterte Zuhörer jubeln, ich habe den Eindruck, kaum ein Kind liest. Natürlich gibt es noch Bücherwürmer, Leseratten und Geschichtenverschlinger. Darum ja auch das „kaum“. 
(Ich möchte hier nicht über Lesekompetenz gleich Lebenskompetenz schreiben, nicht über Sprachentwicklung, Wortschatz und Eloquenz. Weder über Allgemeinbildung noch die Ausprägung von Kreativität und das Finden von Lösungsansätzen bei allerhand Problemen. Also nicht über die unbedingte Notwendigkeit des Lesens. Unabhängig von Spaß, Spannung, Freude, Erlebnis, Langeweile besiegen und meinetwegen auch der manchmal blöden Alltagswelt entfliehen.)
Ich frage vor meinen Lesungen, wer lesen würde, unabhängig von der Schullektüre. Fast alle melden sich. Dann raune ich, dass die Lehrer mal weggucken sollen. Die Hälfte der hochgestreckten Arme senkt sich. Ich frage, wer mehr als ein Buch im Jahr lesen würde. Es verbleibt etwas mehr als das „kaum“. Dann frage ich nach den Titeln. Whatsapp (!). Greg. Harry. Manchmal Lotta. 
Punkt.
Die Bibliothekarinnen erzählen, es kommen nur noch wenige Kinder zu ihnen. Nach der vierten Klasse fast niemand mehr.
Die Buchhändler erzählen, die Bücher werden von Großeltern und Eltern gekauft, die sich wünschen, ihre Kinder läsen diese. Doch gefragt, tun die es nicht. Eine erboste Großmutter ließ sich in ihrem Ärger darüber sogar zu einem „die sind alle gengeschädigt“ hinreißen. Der Bibliothekar und ich schauten uns besorgt an. Denn mit Wut, Bestrafungen und Erpressung kann man definitiv nicht die Schönheit des Lesens vermitteln.
Viele meiner Kollegen und auch ich versuchen das mit unseren Lesungen. Ich zum Beispiel höre immer wieder, dass meine Lesungen toll seien. Es wäre falsch bescheiden und albern so zu tun, als stimmte das nicht. Ich erzähle und lese mit tausend Stimmen. Ich schreie, raune, flüstere, krächze, juchze, lache. Ich erkläre ganz nebenbei Paralleluniversum, implodieren, unsere drei Dimensionen. Aber auch heiter (ist ein tatsächlich vergessenes Wort), Gewölbe, Spickzettel und Molch. Wir jubeln und klatschen, raten und erzählen. Ich hüpfe und springe. Und lasse mir alle Geheimnisse meines Lebens aus der Nase ziehen. Ich weiß, ich bringe Leben in die Bude. „Sie sind so unglaublich mitreißend und lebendig“, höre ich immer wieder. Die Kinder rufen: „Ich kaufe mir alle Bücher von Ihnen.“ Ich weiß, dass sie das nicht tun. Im März jeden Jahres gibt es die Abrechnungen. 
Woran liegt das? Warum lesen Kinder so wenig? Selbst wenn ihnen die Bücher gefallen. Aber vor allem: Was könnte man dagegen tun, zum Beispiel als Eltern oder Großeltern?
Zuerst steht da natürlich das Vorlesen. Es wird von allen Seiten gepredigt. Ich mache das hier auch: Lest vor! Lange. Das letzte Buch habe ich meinem 13-Jährigen vorgelesen. Sucht Euch Bücher aus, die Euch auch gefallen. Fragt Buchhändler, lest Buchblogs wie die Bücherkinder oder haltet nach dem Kilifü, dem Almanach der Kinderliteratur Ausschau. Es gibt unzählige wunderbare, witzige, spannende, kluge Kinderbücher, an denen auch Eltern Freude haben. Nehmt Euch Zeit. Lest mit Lust vor. Freut Euch selbst darauf. Macht es Euch dabei gemütlich. 
Später, wenn die Kleinen alleine lesen, ist das Lesen natürlich erst einmal anstrengend. Wer sich anstrengt, kann nicht in andere Welten versinken. Lesen will gelernt und geübt sein. Dazu gehören viele, viele Bücher. Wenn ich niemanden habe, der mir Bücher schenkt, ausleiht oder mit mir in die Bibliothek geht, dann scheitert mein Lesewunsch einfach daran, dass es keine Bücher in meinem Leben gibt. 
Bücher sollten keine Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke sein müssen. Kinder, die noch nicht vom Lesen gepackt sind, werden niemals auf eines der anderen Geschenke verzichten, um dafür ein Buch zu bekommen. Bücher sollten kein Opfer voraussetzen. Bücher sollten immer zugänglich sein. Jeden Monat eines. Ein Kinderbuch kostet um die 13 Euro. 13 Euro im Monat. Wenn man eine einfache Kosten-Nutzen-Überlegung (siehe oben, über was ich alles nicht schrieb) anstellt: Ist das wirklich zu teuer? Das zu beantworten überlasse ich jedem selbst. 
Wer ja ruft, der kann in die Bibliothek gehen. Dort stehen sie alle und wollen gelesen werden. Einmal im Monat zusammen in die Bibliothek. Das ist ein schöner gemeinsamer Ausflug mit dem Kind oder den Kindern. Hat man dafür wirklich keine Zeit? Was gibt es so viel Wichtigeres zu tun?
Sind die Kinder erst einmal buchlos 12 Jahre alt geworden, hat man sie als Leser verloren. Die Zeit ist also knapp. Fangt an!
Danke, das musste einfach raus.

Donnerstag, 14. Juli 2016

Die Mutter-Kolumne – Du sollst nicht lügen!

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wie so eigentlich.


„Das war ich nicht!“, beharrte des Söhnchens Kindergartenkumpel, obwohl wir es alle besser wussten.
„Lügen sind ganz dolle hässlich. Sie haben lange Nasen und kurze Beine. Trotzdem rennen sie viel schneller als die Wahrheit, stimmt´s Mama?“, krakeelte mein Kind. 
Richtig, so ähnlich hatte ich es ihm und seiner Schwester vorgebetet. Oft. Sehr oft. Immer wieder. Du sollst nicht lügen! Niemals. In einem etwas anderen Wortlaut steht das nicht nur in der Bibel. Nicht zu lügen ist auch ehrenhaft und von edler Gesinnung, also genau das Richtige für meine Kinder.
Leider hält dieser von mir so geliebte Anspruch der Realität am wenigsten stand. Wie kommt diese Karla Kolumna da drauf?, mag die eine oder der andere nun empört rufen. Ganz einfach, weil es die Wahrheit ist.

Lügen erfordern ein hohes Maß an Intelligenz, und meine Kinder sind sehr intelligent zudem auch kreativ, einfallsreich, versponnen und phantasievoll. Es gibt viele schöne Wörter dafür. 
Ein Höhepunkt der Beweisführung dieser wunderbaren Eigenschaften war sicher der Tag, als ich den abgeschnittenen Zopf im Bad hinter der Toilette fand. Auf meine eigentlich überflüssige Nachfrage, stand meine 5jährige Tochter vor mir und schüttelte verneinend ihr links bezopftes und rechts bestummeltes Köpfchen. 
„Das ist nicht meiner.“ 
„Ach so“, sagte ich zwischen Lachen und Empörung hin und her gerissen. „Ist es dann vielleicht meiner?“ Ich hielt mir das blonde Haar vor mein eigenes dunkelbraunes. 
„Vielleicht“, sagte die Kleine. „Vielleicht ist er aber auch von Jan.“ 
Jan, mein damaliger Lebenspartner, trug Glatze.

Es sollte trotzdem noch einige Zeit dauern, bis ich begriff, dass mein Anspruch wohl zu hoch lag, und ich damit meine Kinder in große Nöte brachte.
Mein Sohn und ich begegneten eines Tages auf der Straße einer sehr beleibten und auch etwas ungepflegten Dame, die ich flüchtig kannte. Wir blieben voreinander stehen, um einige Belanglosigkeiten auszutauschen. 
„Mama, wer ist die hässliche Frau?“, unterbrach das Söhnchen die bis dahin unbeschwerte Plauderei.

„Weißt du, man darf so etwas nicht sagen“, erklärte ich kurz danach. „Es verletzt die Frau.“
„Warum?“, fragte das kluge Kind. „Sie kann das doch auch im Spiegel sehen.“
„Aber sie will es nicht von anderen hören“, sagte ich. „Sie möchte sich bestimmt wie jeder andere Mensch auch schön fühlen.“
„Und darum sagt man ihr, dass sie schön aussieht, auch wenn man es nicht findet?“
„Ja“, murmelte ich.
„Ist das dann nicht gelogen?“
„Na ja“, wandte ich mich, „ein bisschen schon. Aber manchmal muss man eben ein klitzekleines bisschen die Unwahrheit sagen.“
„Damit man anderen nicht weh tut, meinst du?“, fragte das Söhnchen.
„Genau“, sagte ich.  

Monate später fand ich den Stapel Elternbriefe wegen nicht gemachter Hausaufgaben unter seinem Schrank. Fassungslos hielt ich sie ihm vor die verdächtig lange Nase. 
„Was ist das?“, fragte ich, obwohl das Ganze keiner Frage bedurfte.
„Das ist der Versuch, dir nicht weh zu tun“, antwortete mein Sohn.

Sonntag, 15. Mai 2016

Die Mutter-Kolumne – Ab ins Bett!

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wie so eigentlich?


„Dass du noch lebst!“, staunte ein Nachbar, ob des eigenwilligen Schlafrhythmus meines 8-Monats-Töchterchens – etliche 15-Minuten-Perioden verteilt über 24 Stunden, die mir selbst keine Zeit ließen, ins Bett zu sinken. Dabei vollzog ich mit der Kleinen Schlafrituale und angelesene herzzerreissende Experimente. Nichts half. Sie wurde erst vom Jetlag gebrochen – ein Flug nach Sydney und die Sache war geritzt. Es lief eine Weile gut. 

Doch einige Jahre später schmetterte die inzwischen auf zwei angewachsene Kinderschar: „Wie so ins Bett? Du bist auch noch wach!“
„Keine Widerrede! Ihr braucht euren Schlaf“, verkündete ich und läutete das allabendliche Procedere ein. Es wurde gespeist, gebadet, massiert und eine Geschichte serviert, eine ausgedachte wohl bemerkt. Doch wenn ich mich danach fortschlich, warfen mir die Kleinen böse Blicke nach, während ich mir vor Erschöpfung nur mehr gedanklich die Haare raufen konnte. Das lief alles verkehrt. Dabei hätte ich die Abendstunden dringend gebraucht, um Frau und Mensch zu sein oder wenigstens in Ruhe ins Bad zu gehen. Aber vor allem hätten die Kinder gesund schlafend wachsen sollen – innen und außen.

„Lass sie doch, sie werden schon alleine müde“, sagte eine kinderlose Freundin.
Was wusste sie denn schon! Eine gute Mutter muss für ausreichend Schlaf sorgen.

Einmal saß ich in Malaga auf einem Platz. Meine Kinder verbrachten die Tage bei den Großeltern mit basteln, wandern, gesundem Essen und viel Schlaf. Um mich herum tobte das Leben. Erwachsene tranken Wein, palaverten und lachten. Kinder jeden Alters rannten herum, spielten und kreischten vor Lust. Es war ein Uhr nachts.
„Meinst du, die werden alle groß und stark?“, fragte ich erschüttert meine Reisebegleitung.
Sie sah mich an, als zweifelte sie an meinem Verstand. Nun, vielleicht hatte der wirklich etwas gelitten in den Jahren des Zubettbringkampfes. Aber gab es tatsächlich eine andere Möglichkeit? Konnte es sein, dass Kinder ihren eigenen Rhythmus finden? Was wäre, wenn der gegen den des gesellschaftlichen Lebens, sprich Kindergarten- und Schulbeginn, lief?

Wie so oft kam mir der Zufall zu Hilfe. Ich musste über Nacht fortbleiben und fand keinen Babysitter. Den hätten die 12- und der 9-Jährige zwar nicht mehr gebraucht, aber ich. Alle Telefone waren auf Notruf programmiert, Großeltern und Nachbarn wussten bescheid, die Kinder hatten genaue Instruktionen.
„Pünktlich um halb acht geht ihr ins Bett“, sagte ich bestimmt das zehnte Mal.
„Mama! Das hast du hundert Mal gesagt. Wir sind doch keine Babies mehr!“, sprach der Sohn genervt.
Mit klopfenden Herzen schloss ich anderntags die Wohnungstür auf. Fröhlich begrüßten mich die Kleinen.
„Hat alles gut geklappt?“, fragte ich und sah mich unauffällig nach Spuren der Verwüstung um.
„Klar“, sagte meine Tochter. „Wir waren um sieben im Bett.“
„Warum denn so früh?“, rief ich überrascht.
„Wir waren müde“, sagte das Söhnchen. „Wenn man müde ist, geht man zu Bett.“

Ich glaube, ich begann zu weinen. Ob vor Erleichterung oder Enttäuschung kann ich heute nicht mehr sagen.

Samstag, 16. April 2016

Viermal durch den Schwarzwald – Meine Lesetour in Südbaden

Eine Woche lang führte mich das Schicksal quer durch Südbaden, oder nicht das Schicksal sondern das Regierungspräsidium der Region und mein Beruf als Kinderbuchautorin. Kommt mit, wenn Ihr mögt, aber Achtung: Es wird emotional. 


Tag 1
Die Sonne scheint. Das ist schon mal gut. Ansonsten ist der erste Zug eine halbe Stunde verspätet, die vom netten Herrn hinter dem DB-Schalter herausgesuchte Alternativverbindung aber sowieso besser. Mein Koffer ist monsterschwer. Ich erinnere mich an das Bild eines winzigen Gepäckstücks, das ein geschätzter Kollege angeblich als Lesereisengepäck für eine Woche dabei gehabt haben wollte. "Na, Mama, ein Mann braucht weniger als du. Ich glaube nicht, dass der zwei Kuschelkissen und die Joggingschuhe mitnimmt", sagte meine Tochter noch zu Hause. Na gut, vielleicht nicht, also zumindest die Kuschelkissen nicht. Im Zug überarbeite ich Ferienhausaufgaben. Nicht meine. Im dritten Zug muss ich eine Stunde stehen. Macht nichts. Der Spiegel an der Rückwand der Fahrerkabine, in den ich die ganze Zeit starren muss, ist schlimmer. Die Sonne scheint aber noch. Im Gästehaus riecht es so penetrant nach altem Essen und Urin, dass mir ganz anders wird. Aber wenigstens ist schlagartig der Hunger nach der 4stündigen Fahrt weg. Das ist gut. Erstens gibt es hier nichts zu Essen um die Ecke, zweitens wollte ich diese unerwünschten Kilos mal wieder ernster angehen. Das Internet funkioniert einwandfrei. Das ist schön. Allerdings posten die Kollegen, die auch alle unterwegs zu sein scheinen, Katalogbilder von Paradiesen, die sie angeblich aus ihren Hotelfenstern geschossen haben wollen. Meine Aussicht durch das Fliegengitter hindurch direkt auf das Flachdach einer Tiefgarage ist so traurig, dass ich lieber ein Foto vom Zimmer mache. Das ist gelb und sehr sehr klein. Das ist nicht ganz so gut, weil ich groß bin.

Tag 2
Die Nacht ist wild, ich bin jedoch nur Zeuge. Um ein Uhr beginnt ein Paar im Nachbarzimmer zu streiten. Es könnte auch direkt neben meinem Bett sein. Leider sind die beiden nicht besonders fantasievoll oder eloquent und ich kann gar nichts weiter dazu lernen. Ein wirkliches Problem gibt es jedenfalls nicht, wie das ja meistens so ist. Sie haben beide Unrecht, würden es aber bestimmt nicht goutieren, ginge ich hinüber und mischte mich ein. Gegen 5 Uhr werde ich aus einem Traum gerissen. Laut diskutierend verschieben die beiden nebenan nun die Möbel. Wahrscheinlich habe ich den spannendsten Teil verschlafen. Sie scheinen auf alle Fälle ein sehr großes Zimmer zu haben.
Später beim Frühstück schaue ich mich neugierig um. Erstaunlicherweise sitzen da nur drei ältliche Paare.
Dafür dringen laute Stimmen aus der Küche. Die alte gehbehinderte Gästehausbesitzerin und ihr junger ausländischer Angestellter palavern.
„Weißt du, du kannst nicht zu Frau sagen „Ich lade dich in Restaurant“, und dann gibt es boom, boom, boom. So ist nicht Leben.“
„Nein, so ist es nicht.“
Nach der Lesung sagt die Bibliothekarin: „Ich glaube nicht, dass sich die Kinder auch nur eine Sekunde gelangweilt haben.“
Ich lächle und bedanke mich, frage mich aber, was sie gesagt hätte, wenn es anders gewesen wäre.
„Also, Frau Herden, ich habe das mal nachgemessen, die Kinder langweilten sich insgesamt 963 Sekunden.“
Dann sitze ich ein Stündchen am Wasser. Das laute Plappplapp der schlagenden Schwanenflügel auf der Wasseroberfläche beim Starten fällt mir auf. Vielleicht werde ich das einmal in einer Geschichte benutzen. Neben mir steht ein Baum voll lärmender Krähen, ihren Schein- und Nestern. Vor mit liegt ein Schiff, ein Flussentlangfahrtschiff, Zimmer neben Zimmer alle mit Balkon. Ich träume von einer Lesereise auf einem Schiff, das jeden Tag zweimal an einem Hafen festmachte, die Kinder kämen, ich läse, wir hätten Spaß und dann tuckerte ich weiter. Abends gäbe es Fisch und Wein. Könnte mir irgendjemand bitte mal so etwas organisieren?
Einige Stunden später komme ich im nächsten Ort an. Es gibt nicht viel zu sehen, darum schlüpfe ich in die Joggingschuhe, nun, da ich sie schon dabei habe. Dann laufe ich durch den Stadtgarten, der eher ein Stadtbeet ist. Das ist einerseits toll, denn die typischen Stadtpark-Gruppen – Mütter mit kleinen Kindern, verliebte Pärchen, Jungs in tiefhängenden Hosen, die gerne böse wären, der Kreis der Tippelbrüder und -schwestern, die Opas mit den Hunden, die Schulkinder – sie haben alle so wenig Platz, dass sie eigentlich ganz nahe beieinander sind und sein könnten. Blöd ist, dass ich Runde um Runde drehe und keine Strecke bekomme. Ich befürchte, dass mich morgen nach der Lesung eventuell Kinder fragen, ob ich das gewesen sei, die da mit hochrotem Kopf ständig um den Stadtgarten geschlichen sei, und warum ich das getan hätte.
Danach entdecke ich den Wellnessbereich des Hotels. Oh, ha! Ich kämpfe eine Weile kraulend mit der Gegenstromanlage und schwitze dann in der Sauna. Allerdings nur kurz, weil das so langweilig ist. Im Ruheraum lese ich die letzten Seiten eines Krimis. Gemurmel und eine schneidende Stimme dringen von nebenan zu mir.
„Wenn euch die Nudel unter den Achseln stört, dann schiebt sie euch einfach zwischen die Beine.“
Um Gottes willen! Es findet aber nur Aquagymnastik statt. Gerne hätte ich ein wenig zugeschaut, doch ich lächele nur breit und gehe schnell.

Tag 3
Wie alle riecht auch diese Bibliothek muffig. Für jeden Scheiß gibt es Duftdesigner, sogar für den Geruch von Neuwagen und Hotelfahrstühlen. Die Kunden sollen sich wohl und glamourös fühlen. Ich glaube fest daran, dass mehr Kinder läsen, wenn Bibliotheken nicht dermaßen nach Käsesocken und diesem Hauch von sehr altem Erbrochenen riechen würden. Sorry.
„Sie machen das bestimmt öfter“, sagt die Bibliothekarin nach der Lesung. Nun ja.
Ich fahre drei Stunden mit sehr langsamen Zügen durch den Schwarzwald. Hier war ich noch nie, und im ersten Moment ist mir, als sei ich Teil einer Modelleisenbahn. Eine kleine Figur im Zug, der an winkenden Frauen voller roter Bommeln vorbeifährt. Plötzlich passiert etwas Irres. Nicht mit mir und auch nicht um mich herum, sondern in mir. Ich bin auf einmal wirklich unterwegs. Allein um die Welt. Also fast. Es fühlt sich ein bisschen wie Freiheit an, obwohl die dunklen Tannen drängen und die engen Täler schluchzen. Dieses Gefühl wird sogar noch stärker, als sich ein Obdachloser neben mich setzt. (Wer einmal in Amerika mit den Greyhound-Bussen unterwegs war, weiß, wovon ich schreibe.) Von allem unbeeindruckt pupst und rülpst er vor sich hin. Doch diese frischen Gerüche können die alten seines Körpers, seiner Klamotten und vor allem seiner filzigen Mütze nicht verbrämen. Alle anderen Sitze im Wagen sind frei. Er ahnt wohl meinen Gedanken, schaut mich finster an und ich blicke schnell wieder aus dem Fenster.
Der Zielort ist trostlos.
„Seien Sie nicht entsetzt“, sagt die Bibliothekarin. „Hier steht alles leer.“
Durch die leeren Häuser des verschatteten Tals fläzt sich eine dicke Durchgangsstraße.
Der Gasthof liegt in einer Haarnadelkurve, durch die sich Millionen Fahrzeuge und Schwerlaster drängen. Ich habe mich schon immer gefragt, wer in so etwas übernachtet. Außer mir noch drei Autos voller Soldaten, alle getarnt, vom Mützchen bis zum Laptopcover.
„Hier gibt es zwei Waffenfabriken. Darum. Das ist ja eigentlich nicht so schön“, sagt die Bibliothekarin.
Nein, das ist es nicht.
Ich habe große Lust auf eine kleine Wanderung auf die Höhen.
„Sie machen jetzt aber keine große Tour und gehen mir verloren.“
„Das hatte ich nicht vor.“
„Nicht dass wir die Bergwacht rufen müssen.“
„Nur eine kleine Runde.“
„Sie krabbeln auch nicht in irgendwelchen Höhlen rum.“
„Oh, hier gibt es Höhlen, in denen man herumkrabbeln kann?“
„Sie werden da nicht reingehen! Versprochen?“
„Versprochen.“
In manchen älteren Damen und in gewissen Männern löse ich einen enormen Beschützerinstinkt aus. Das kenne ich schon.

Tag 4
Beim Frühstück geht die Saftpresse kaputt. Ich glaube mir. Die Bibliothek ist lichtdurchflutet und riecht gut. Später erzählt die nette Bibliothekarin, dass kaum noch jemand kommt. Na so was, denke ich, dabei riecht es hier so gut.
Wir rasen die 40 km zur nächsten Lesung konsequent im 2. Gang dafür mit 5000 Umdrehungen. Ich überlege, ob ich um weniger Geschwindigkeit bitten soll, oder darum, dass sie doch schalten möge. Unbekümmert erklärt sie mir die Gegend. Die älteste Stadt Baden-Württembergs heißt wie ein Hund und hat einen absurd hohen Schlot. „Darin werden Aufzüge getestet“, sagt sie und schaltet endlich. Beinahe stöhne ich vor Erleichterung auf. Dann tritt sie voll durch und mir wird ganz anders. Ich überlege, ob die Fahrstuhlabsturzsimulationen bemannt stattfinden und was es doch für besondere Berufe gibt. Wir geraten nur einmal in echte Lebensgefahr.
Nach der zweiten Lesung sitze ich am Bahnhof, der inmitten des Nirgendwos liegt und nur eine Bushaltestelle ist. Es regnet in Strömen. Ich muss aber nur 40 Minuten warten und werde fast nicht nass. Neben mir hat jemand „FUK AYRENMEN“ an die Wand geschrieben. Ich lese es mehrmals, bis ich es kapiere. Wie blöd, wenn man nicht mal ein ordentliches FUCK zustande bringt.
Zurück durch den Schwarzwald. Die Höllentalbahn ist besonders, das „Himmelreich“ nicht. Ich bin froh, im Zug zu sitzen. Draußen regnet es.
Mir gegenüber studiert ein älterer Herr die Fahrpläne der Züge des Landes. Alle. In der Hand hält er einen Stift. Er schreibt nichts auf, er murmelt die ganze Zeit. Ich wage nicht zu fragen.
Nächster Zug, dann noch einer und noch einer und noch einer.
Abends komme ich irgendwo an. Ich glaube, hier ist es schön. Ich sehe es nicht. Bindfäden ziehen sich zwischen grauem Himmel und dampfender Wiese.

Tag 5
Etwas fliegt gegen das Fenster. Kurz verliere ich mich in der Phantasie, der Prinz stünde unten und würfe kleine Steine. Kennt man ja. Dann packt mich der Schmerz. Tagelang schleppte ich mein Gepäck durch Südbaden, in Züge hinein, Bahnsteige herab, enge Gasthaustreppen hinauf. Meine Schultern sind verrissen. Keine Ahnung wie das heute mit dem Jubeln klappen soll und ob ich Rockstar sein können werde. Das Geräusch am Fenster reisst nicht ab. Ich lunze durch die geklöppelte Gardine. Eine Bachstelze stürzt sich wieder und wieder Brust voran vom Blumenkasten gegen die Scheibe. Himmel, wir sind wirklich viele.
Nach der zweiten Lesung reden wir über Pubertät, ich weiß nicht, wie wir darauf kommen.
„Ich will das nie kriegen“, stöhnt ein Junge. „Das ist schrecklich.“
Wir sind einer Meinung. Alle. Doch plötzlich höre ich mich sagen, wie wichtig auch diese Entwicklungsstufe sei. Trotz allem. Völlig klar, was hier passiert. Ich vermisse meine Kinder unendlich. Mit allem.
„Mein Vater hasst die Pub- … Pub- … na eben das bei meinem Bruder so sehr, dass er Pupsität dazu sagt.“
Die Kinder lachen.
„Na, ein Pups ist sie ja nicht gerade“, sage ich. „Ich würde sie eher Furzität nennen.“
Es dauert einen Moment. Dann lachen die Kinder noch lauter.
Die Bibliothekarin findet später viele Worte des Lobs.
„Danke schön“, sage ich.
Danke Gene, Eltern, Schöpfer, Schicksal. Dass ich Schreiben und Vorlesen kann. Dass ich so mein eigener Mensch sein darf. Dass mich neueste Smartphones, große Fernseher, dicke Autos, schicke Schuhe und teure Kosmetika, all diese Substitute, noch nie interessiert haben.
Von Südwesten prophezeiten sie tagelangen Regen. Ich befinde mich im äußersten südwestlichen Zipfel und sie haben leider recht. Bus, dann Zug, wieder Bus, noch einmal Zug. Scheißkoffer. Dafür erhasche ich einen kurzen Blick auf die Rheinfälle. Wunderbar, kann ich die auch abhaken.
Die Sonne bricht durch. Ich bin nicht nur in der Schulter verrissen, sondern auch in meiner Brust. Wie die durchgeknallte Bachstelze. Habe zugleich unendliche Sehnsucht nach der weiten Welt und nach Zuhause.
Meine letzten Gastgeber sind Eheleute, die privat ein Zimmer vermieteten. Dort drin wohnt allerdings schon jemand. Darum quartieren sie mich in ihr Schlafzimmer ein. Ich habe ein schlechtes Gewissen und frage mich, wo sie wohl schlafen werden. Immerhin sind sie älter als ich.
Ich verdrücke mich in das Örtchen. Es liegt auf einem Felsen und ist eine blitzeblank geputzte Mittelalter-Kulisse. Ich entdecke ein Oma-Café mit Apfelrahmtorte und Aussicht. Die kleinen Dinge eben.

Tag 6
Die letzte Lesung der Tour endet in einer Stunde Fragerunde. Ich habe ein enormes Redebedürfnis, die Fünftklässler stört das nicht. Weil ich das darf, reden wir über blöde Lehrer und bekloppte Schulleiter, aber auch lange über Bücher. Als mir die Bibliothekarin einen Beutel mit Reiseproviant in die Hand drückt, plappere ich wie aufgezogen weiter, weil ich sonst heulen würde.
Plötzlich hämmert es an die Tür. Zwei Polizisten in voller Montur stehen davor. Ich habe solche noch nie als meine Freunde und Helfer wahrgenommen.
„Ist regulär geöffnet?“, fragt der eine.
„Nein, wir hatten gerade eine Lesung für Kinder.“
„Aha. Wann ist denn geöffnet?“
„Um drei.“
„Gut, dann kommen wir um drei wieder.“
„Was wollten die denn?“, frage ich.
„Das haben sie nicht gesagt.
„Vielleicht war ihnen langweilig.“
„Hier in Engen ist ja nichts los. Vielleicht wollten sie ein Buch ausleihen.“
„Bestimmt einen Krimi.“
Wir prusten los.
Ich komme das vierte Mal durch Villingen und muss einen hysterischen Lachanfall unterdrücken. Ich möchte für eine sehr sehr lange Zeit nicht mehr in den Schwarzwald, dessen Tannen auch nur Fichten und Kiefern sind. Zum Glück gibt es ein Klo im Zug. Es ist eine komplizierte Angelegenheit mit vielen Knöpfen. Als sich die elektrische Tür wieder öffnet, platze ich in eine völlig absurde Situation. Zwei ausländische Jugendliche stehen mit erhobenen Händen vor mir. Ein voll bewaffneter Polizist (schon wieder!) mit Einweghandschuhen angetan schaut gerade in die Unterhose des einen. Sie blicken erschreckt in meine Richtung und grinsen ertappt. Alle drei. Neben ihnen liegen einige Geldbörsen am Boden. Auf einer sumpfigen Wiese stehen 19 Störche.
Ich schleppe den Koffer die achtundachtzig Stufen in unsere Bude rauf. Schließe die Tür auf. Von Dankbarkeit erfüllt sinke ich auf die Knie. Vor mir im Teppich sind zwei riesige Brandlöcher. Die waren da vor sechs Tagen noch nicht. Zuhause, endlich zuhause!

Mittwoch, 9. März 2016

Tourtagebuch – 5 Tage vorlesend in Oberbaden unterwegs


Immer wieder werde ich gefragt, wie meine Lesereisen so seien. Nun denn, während der der letzten Woche schrieb ich Tagebuch.

Erster Tag –
Der Koffer ist gepackt. Unbedingt hinein gehörten die warmen Socken, das Bild der Kinder, das Kuschelkissen, ein Regenschirm, der Ordner der Bibliotheksstelle, in dem meine Reise wunderbar aufbereitet ist, der Rechner natürlich und Leselektüre für mich. Am besten ein Lieblingsbuch, dieses Mal sogar zwei: Die Landkarte des Chaos und Flavias siebter Fall. Schwer wird der Koffer von den Büchern, aus denen ich vorlesen werde, den 600 Autogrammkarten, die entweder zu viele oder zu wenige sein werden. Noch schwerer wird er durch die Einsamkeit, die mit mir reisen wird.
„Machs gut“, sagt mein Sohn mit einem Schmunzeln in den Augen. Er freut sich auf vier Tage sturmfrei. Der Preis ist eine blitzblank geputzte Bude, wenn ich zurück komme. Das klappt wunderbar, das weiß ich schon.
Es regnet nicht nur, es beginnt überraschend zu schneien.
Zugfahren im Dunkeln mag ich nicht.
In Heidelberg weht es mich fast vom Bahnsteig. Ich bin viel zu dünn angezogen, schaue mich nervös um. Hier wird doch wohl keiner niesen müssen? Herumfliegende Bakterien, gar Vieren könnte ich jetzt nicht bekämpfen. Neben mir niest es tatsächlich. Hilfe, bin in extremer Gefahr!
Eineinhalb Stunden mit der S-Bahn. Wohin, kann ich nicht sehen. Plötzlich ein Ortsname, den ich kenne, aber nicht von hier. Hatte ich eigentlich je geprüft, ob es eventuell mehrere Seckbachs gibt? Vielleicht verteilt über ganz Deutschland? Ich kann niemanden fragen, denn außer mir unternimmt niemand sonst diese Fahrt. Den Zugführer will ich nicht stören, der muss sich konzentrieren, damit er durch das Schneetreiben etwas sieht. Nun habe ich etwas zum Gruseln. Mitten in der Nacht im Irgendwo ankommen, wo einen keiner erwartet, wo nichts ist. So beginnen Geschichten.
Um 20 Uhr am Bahnsteig erwartet mich Frau Link, die nette Dame von der Bibliothek, und bringt mich ins zehn Kilometer entfernte Hotel in Buchen. Ich bitte um Wärme und drehe das Heißgebläse voll auf. Sie hat nichts dagegen. Zum Dank umarme ich sie, obwohl wir uns erst seit fünfzehn Minuten kennen. Ich entschuldige mich, aber sie sagt, das mache doch nichts. Wie schön.
Man empfängt mich nett im Gästehaus. Obwohl das Hotel Zum Reichsadler heißt und von außen auch so aussieht, hat sich im Zimmer jemand gestalterisch ausgetobt, jemand der vielleicht lieber Innenarchitektur oder Design studiert hätte, aber dann eben doch das elterliche Hotel übernahm. Ich freue mich darüber.
Draußen schneit es noch immer, dabei wäre, wäre nicht ein Schaltjahr, meteorologischer Frühlingsanfang. Hunger habe ich zum Glück fast keinen. Die Heizungen bleiben eiskalt, das Internet ist zu langsam, um irgendetwas darin zu finden. Ich krieche unter zwei weiche Decken, lese eine Stunde lang, nehme eine Schlaftablette. Ich schaffe es, nicht zuhause anzurufen. Beinahe kann ich schlafen.

Zweiter Tag –
Ich wache panisch auf, zum Glück vor dem Wecker. Ich mag das Geräusch nicht, das er macht. Ich schalte sofort den Fernseher an. In der Fremde bin ich in der Stille zu sehr allein.
Zum Frühstück ist alles da, lag vorher aber wohl beim Discounter im Regal. Sogar der Saft ist keiner. Ich höre mich selbst schlucken. Dann wird mir ein bisschen übel. Dabei wäre das Brötchen ohne etwas drauf lecker gewesen. Dorfbrötchen, obwohl ich mich, glaube ich, in einer kleinen Stadt befinde.
Die Bibliothek liegt romantisch im alten Kern, dieser liegt in einer morgendlichen Wintersonne.
Der junge Reporter der ortsansässigen Zeitung schaut mir beim Interview nicht in die Augen, dafür fotografiert er von der Seite, während ich lese. Ich sage ihm nicht, dass man so etwas mit einer 45-Jährigen nicht tun sollte.
Die zwei Lesungen sind spaßig. Zum Glück hört das nicht auf. Was wäre, falls das mal passieren sollte?
Die 160 Drittklässler sind fröhlich und stellen viele Fragen. Ein Junge faltet gerne Origami. Er kann auch den Kranich, mein ewiges Scheitern. „Oh, wie toll!“, rufe ich. „Denn wusstet ihr, dass man einen Wunsch vom Universum erfüllt bekommt, wenn man 1000 Kraniche gefaltet hat?“ Alle nicken, so etwas weiß man hier. Ein ganz besonderer Ort scheint das zu sein. Wir lachen zusammen und es gehen nur zwei Stühle kaputt.
Ich trinke zu viel Kaffee und sitze wieder eineinhalb Stunden in der S-Bahn. Dieses Mal schaue ich hinaus. Hübsch ist es da. Die Sonne scheint immer noch. Dann muss ich zur Toilette und weiß, dass ich erst in einer Stunde im IC nach Karlsruhe gehen können werde.
Ich schaffe es. Auf dem Nebengleis fährt der IC zurück ins Heimatstädchen.
In Karlsruhe empfängt mich Frau Hess, der ich diese Reise zu verdanken habe, mit weinrotem Schal, wie sie mir zuvor auch schrieb. Wir plaudern und lachen sogleich, als kennten wir uns schon lange. Dann essen wir Torte. Menschen, die mit mir Torte essen, sind mir grundsympathisch. Das Hotel liegt zwischen Bahnhof und rosa Flamingos. Es wirkt beruhigend nostalgisch.
Ich suche etwas Gesellschaft im Facebook, bin glücklich, als mir meine Tochter antwortet. Alles okay. Ich muss schlucken. Himmel, wann hört dieses Vermissen mal auf? Bald werden sie doch ausziehen. Bis dahin muss das besser laufen in meinem Herzen.
Später gehe ich noch einmal hinüber in den Bahnhof, esse asiatisch mit zu viel Glutamat und artifiziellen Geschmacksstoffen. Die Blicke der Menschen taxieren mich. Ich bin eine in einem alten Mantel ohne irgendeine Tasche an einem Ort, von dem man abfährt, an dem man ankommt, aber nicht verweilt. Schon gar nicht ohne Tasche. Plötzlich habe ich das Bedürfnis mir die Haare zu waschen. Wie schnell das geht.
Im Zimmer schalte ich sofort die Glotze an. Die Flüchtlinge an der mazedonischen Grenze leiden furchtbaren Durst. Ich gehe noch einmal hinunter und hole mir im Hotelflur eine Flasche Wasser am Automaten.
In der Dusche sitzt ein Käfer. Vor Schreck spüle ich ihn mit dem Wasserstrahl in den Abfluss. Das schlechte Gewissen treibt mich tropfend aus dem Bad. Etwas Furcht ist auch dabei. Davor dass er zurückkommt, wütend aus dem schwarzen Loch krabbelt, wächst und wächst, um schließlich Rache zu nehmen. Ich kann so etwas nicht vermeiden. Wenigstens verdiene ich unser Geld damit.
Vielleicht schreibe ich noch, vielleicht lese ich oder schaue zu viel Fernsehen. In Moskau hat ein Kindermädchen ein Kind enthauptet.
Dann ruft wunderbarerweise eine Freundin an und ich bin beinahe zuhause.

Dritter Tag –
Vielleicht ist der Restaurantchef ein Scherzkeks, vielleicht kann er nicht lesen oder er ist gar nicht da. Die kleinen Metallschildchen, auf denen die Speisen des Frühstücksbuffets ausgewiesen sind, stehen alle falsch. Das Buffet selbst hat etwas von einer mittelalterlichen Wunderkammer: In verschiedenen Glasgefäßen gibt es von Mandelkaramellbruch bis eingelegten Pilzen so allerlei Merkwürdiges. Ich nehme mir ein Brötchen, etwas Pflaumenmus, ein Ei, beobachte die Flamingos beim Flamingosein. Ein Mann setzt sich neben mich; zahnlos, zitternd bestellt er ein Hefeweizen. Mir ist das so früh am Morgen etwas zu viel Leben.
Im Treppenhaus kommt mir ein unglaublich schöner Mann entgegen, so einer, der bestimmt nach Einhorn riecht. Ich überlege, was ich Spektakuläres tun könnte, um bemerkt zu werden. Doch dann fällt mir ein, wie ich morgens um sieben aussehe. Verknorkelt UND tattrig ist wahrlich nicht der Eindruck, den ich gerne vermitteln möchte.
Die S-Bahnfahrt dauert nicht lang. Der Tag ist so grau, dass er zum Klischee gereicht. Der stetige Regen tut der Stadt Pforzheim nicht gut. Wir fahren durch hässlich anmutende Straßen verwahrloster Nachkriegs-Bauten. Wo ist das Gold, wo sind die Diamanten?
Ich habe Bammel vor der ersten Lesung. Die Gruppen einer Sonderschule mit geistig behinderten Kindern haben sich angemeldet. Ich möchte ihnen so sehr gerne etwas Schönes geben, dass ich beinahe anfange zu weinen, als sie dann tatsächlich lachen und sich an der Lesung erfreuen. Himmel, ich wäre die unbrauchbarste Sozialarbeiterin der Welt.
Mit den ersten Klassen im Anschluss rede ich über Schlangen, Blindschleichen, Spinnen und Zwerge. Offiziell lese ich aus meinem ersten Kinderbuch: Herr Klopstock, Emma und ich. Außerdem erfahre ich, dass viele der Papas einen Frack trügen; einer, ein Wirtschaftsprüfer, verübe darin sogar täglich seinen Beruf. Wir sprechen auch ein bisschen russisch. Das liegt am Viertel. Hier liegt Schönes neben Schrecklichem. Nebenan verteidigen gerade ein paar Russlanddeutsche ihre neugegründete Bürgerwehr, während ich mit ihren Kindern noch schnell die Waldtiere aufzähle. Die Cobra lasse ich nicht gelten.
Ich bin früh zurück in Karlsruhe.
Es regnet immer noch. Meinen Schirm habe ich vergessen. Trotzdem laufe ich die zwei Kilometer zum ZKM. Anders bekomme ich meine der Gesundheit förderlichen 6000 Schritte nicht zusammen. Ich weiß nicht, warum ich unterwegs wieder ein Chinarestaurant betrete. Wahrscheinlich ist es Hunger und die Sorge, vor dem Museum nichts anderes mehr zu finden. Ich esse schlecht, dafür zu viel. Buffet eben. Buffet mit Hunger.
Ich gehe gern in Museen. Das ZKM kenne und mag ich. Ein paar Studenten der angegliederten HFG tanzen Ballett in einem der Lichthöfe. Ich schaue ihnen zu. Einige Projektgruppen haben sich auf den Galerien verteilt und erarbeiten Kunst, erinnern mich an meine Zeit als Architekturstudentin. Außerdem roch es bei uns damals ganz ähnlich – nach Ideen und zu süßem Parfum, nach sauren Weinresten und möglichen Küssen, nach heimlich gerauchten Zigaretten und wilden Träumen, nach altem Staub und zu großen Versprechen.
Die Ausstellung jagt mir eine Gänsehaut über den Nacken: Globale Überwachung und Zensur. Aufregend und bedrückend. Ich hinterlasse trotzdem einen Fingerabdruck und mein Konterfei. Das Büro, das das ZKM für Edward Snowden eingerichtet hat, blieb bisher leer.
Für den Rest des Tages spreche ich kein Wort mehr.
Stimmt nicht. Ich rufe zuhause an. Mama, wir sind doch schon groß; hör mal auf, dir so viele Sorgen zu machen. Ich wachse da rein. Versprochen.


Vierter Tag –
Ich bin gänzlich im Unterwegsmodus angekommen. Am Frühstücksbuffet erscheint mir alles dermaßen normal, dass ich überlege, heimlich die Schildchen umzustellen.
Vielleicht bin ich müde, der Wecker klingelte bereits um 6 Uhr, davor klapperten die ganze Nacht die vier Meter hohen Rollläden im Wind, aber bevor ich es richtig begreife, ist die erste Lesung in Iffezheim schon wieder vorbei. Sie war bestimmt sehr nett. Ich würde mich daran erinnern, wäre sie es nicht gewesen.
In die zweite in Gaggenau schleicht sich dann etwas Magie. Manchmal ist das so, auch wenn ein Außenstehender es wohl gar nicht bemerken würde. Ich lese, als hätte ich noch nicht viele viele viele Male diese Stellen gelesen, ich erzähle begeistert, die Kinder fragen neugierig, wir lachen zusammen. Vielleicht war er nur in mir, aber da war so ein Moment, in dem alles alles stimmte. Am Ende habe ich gerötete Wangen, wirres Haar und bin völlig erschöpft.
Zurück in Karlsruhe laufe ich vom Bahnhof zum Schloss. Die Stadt scheint eine einzige lärmende Baustelle zu sein. Ein einsamer Republikaner zetert unerhört im doppelten Sinne durch ein Megafon. Es regnet in Strömen, der Wind weht eisig. Tapfer laufe ich durch den Matsch um die Barockresidenz herum. Das gehört sich so. Außer mir tut das aber niemand. Zum Glück habe ich meinen Schirm dabei. Schade, dass der Wind ihn zerstört. Er war jedoch von Anbeginn seltsam wackelig und auch aufgespannt etwas zu platzsparend. Ich selbst bin mit 1.80m-Körpergröße ja nicht besonders platzsparend. Wir hatten also insgesamt nicht so gut zusammengepasst.
Plötzlich bin ich von schwarzen Männern umringt. GSG 9. Um Gottes willen, was wollen die von mir?, denke ich, denn außer denen bin nur noch ich im Park. In mir breitet sich dieses kribbelig unangenehme Gefühl aus, das man hat, wenn man aus Versehen eine Bühne betritt, obwohl man gar nicht zum Ensemble gehört. Dann sehe ich die Übertragungswagen. Klar, hier geht es um das Verbot der NPD. Da öffnen sich die Türen des Bundesverfassungsgerichts und ich werde von einer Wolke aus schwarzen Anzügen eingesaugt. Wir stehen alle gemeinsam an der Ampel. Ich überlege kurz, ob ich jemanden am Ärmel zupfe und mal nachfrage. Traue mich aber nicht.
Ich laufe noch ein wenig herum. Ehrlich gesagt, verlaufe ich mich ein bisschen. Die Kamera lasse ich wohlgeborgen im Rucksack.
Plötzlich stehe ich vor dem Ring Café. Ein nostalgisch-schöner 50er Jahre-Bau voller alter Damen mit Frisuren und Hüten, mit Schmuck, Rüschen und räudigen Pelzen. Sogar einige verzierte mobile Taschenhaken, um damit die Tasche am Tisch aufzuhängen, entdecke ich. Begeistert bestelle ich mir Rhabarber-Baiser-Torte. Sie schmeckt wie früher bei Omi im Garten.
Weil ich mir in einem Schokoladenladen auch noch eine Tüte Trüffel kaufe, rücke ich später die Möbel im Zimmer etwas zur Seite und lege eine Gymnastikrunde ein. Ich stoße mich nur einmal an einem kleinen Tischchen.
Während Frau Klum großgewachsene kleine Mädchen ver- und zerstört, esse ich erst eine Tüte Chips und danach die mit den Schokoladentrüffeln auf.

Letzter Tag –
Der Schlafmangel macht sich bemerkbarer. Jede Nacht nur durch die flachen Phasen zu wandeln, sieht irgendwann einfach nicht mehr gut aus. Ich versuche, meine Augenringe wegzuschminken. Das ist ähnlich erfolgreich wie ein Gebirge azurblau anzumalen, damit man es nicht mehr sähe. Irgendeine Perspektive bleibt immer verräterisch.
Im Frühstücksraum steht plötzlich ein Mann in geflochtenen Lederhausschuhen neben meinem Tisch. Weiter oben sieht er gut aus. Einen Moment bin ich erstaunt, doch dann erkenne ich das Geniale. Er ist ein wahrer Kosmopolit. Er weiß, zuhause ist dort, wo man seine Hausschuhe trägt. Das nächste Mal, werde ich auch welche mitnehmen. Ich möchte ihm gerne verstehend zulächeln. Leider komme ich nicht mehr dazu, denn ich stoße aus Versehen meine volle Kaffeetasse um. Schade.
Später in der S-Bahn erschrecke ich wieder, ob meines gräulich-faltigen Gesichts. Himmel, wie kann das ich sein? Doch als ich mich etwas weiter umschaue, schäme ich mich stattdessen, denn diese Gedanken sind abscheuliches Jammern auf hohem Niveau.
Ich bin ein bisschen neben mir. Das ist bestimmt auch dem Schlafmangel geschuldet. Daran ändert die erste Lesung leider nicht viel, obwohl die wirklich sehr nett ist und voller lieber Kinder. Doch mir ist, als erwache ich zur Lesung, glänze, lese, erzähle, lächle, juble eine Stunde lang und erlösche dann wieder. Muss das Adrenalin sein. Zum Abschied drückt mir die Bibliothekarin noch ein Käsebrötchen in die Hand. Am liebsten hätte ich sie umarmt. Einen Moment überlege ich, ob ich ihr sage, dass so ein Käsebrötchen manchmal den Unterschied macht, ob man sich wie ein geduldeter Gast oder wie ein willkommener Mensch fühlt. Dann kommt mir das aber etwas zu pathetisch vor. Ich sollte dringend schlafen.
Die letzte Lesung findet in Karlsruhe im Museum für Literatur statt. Ich möchte noch einmal alles geben. Nicht nur weil Frau Hess zuhört oder weil wir in diesen Räumlichkeiten der Literarischen Gesellschaft gastieren. Aber natürlich kommt es anders. Zwei Klassen sind zu spät, die Begrüßungsrede zieht sich etwas und plötzlich bleiben mir nur noch 40 Minuten für mein gesamtes Programm. In denen entdecke ich eine Lebensalternative: Falls das irgendwann nicht mehr laufen sollte mit dem Bücherschreiben, werde ich Marktschreier. Mir gelingt es, in nur zwei Dritteln der üblichen Zeit alles zu lesen und zu erzählen, zu lachen, herumzuhüpfen und zu jubeln. Ich darf es zugeben, danach bin ich nass geschwitzt.
Eine letzte Umarmung und ich sitze im Zug nach Hause. Während der Zugfahrt frage ich mich, ob meine Kinder noch leben, ob sie heute in der Schule waren, wie die Bude wohl aussieht und wie das Konzert von Alligatoah war, das die beiden gestern (um Gottes willen, das erste des Sohnes, und beide des nächtens in Frankfurt, und überhaupt) besuchten.
Später erfahre ich, alles super.
Danke. An alle!
In drei Tagen geht es wieder los.

Samstag, 6. Februar 2016

Regretting Motherhood? – Niemals!

Zwei Ereignisse innerhalb zweier Tage brachten mich zum Nachdenken. Wenn ich etwas bedenke, muss ich es aufschreiben. So entsteht so mancher befindliche Text. Meistens veröffentliche ich diese auf meiner Autorenseite. Dort rutscht es jedoch schnell ins Vergessen, darum also hier noch einmal. (Ich möchte mich disziplinieren, das immer zu tun. Ehrlich gesagt, habe ich durch die Autorenseite meinen Blog etwas vernachlässigt. Schade, denn nicht jeder ist im Facebook vertreten. Ich gelobe Besserung.)



„Mama, wie oft hast du eigentlich bereut, dass du uns geboren hast?“, fragte mein Sohn vor einigen Tagen.
Ich dachte, mein Herz würde brechen. „Wie kommst du denn auf so was?“, rief ich verstört. „Noch nie! Ich habe es noch nie bereut, dass es euch beide gibt.“
„Aber es gibt doch Momente, wo man bedauert, Kinder zu haben, oder? Also manchmal, da hast du dich echt so angehört“, hakte mein Sohn nach.
Mir wurde ganz elend. „Klar, es gab manch schwierigen Augenblick“, gab ich zu. „Ihr habt mich angekotzt und angepinkelt, mir den Schlaf geraubt, mich bloßgestellt, ihr habt mich die Haare raufen lassen, bis sie ausfielen, mir Sorgen bereitet und mich in Angst und Schrecken versetzt, ihr habt mich zur Putzfrau, zur Köchin und Hinterherräumerin, zum Geldbeutel, zum Müllmann, zum Bulldozerfahrer, zur hilflosen Therapeutin und zu einem geifernden Etwas gemacht, das ich selbst am allermeisten verabscheute. Doch immer liebte ich euch wie verrückt und hätte mir ein Leben ohne euch nicht vorstellen mögen.“
„Dann ist es ja gut“, sagte mein Sohn. 
Gestern sah ich eine Fernsehsendung, in der eine Frau saß, die ein Buch darüber geschrieben hat, dass sie und auch andere die eingegangene Mutterschaft ganz klar bereuten. Es schien also einen gesellschaftlichen Trend zum Thema zu geben, Regretting Motherhood genannt. Dieser begann im letzten Jahr mit einer Studie der israelischen Soziologin Orna Dornath, in der sich zwei Dutzend Mütter über ihre Mutterschaft bitterlich beklagten (Moment mal, zwei Dutzend? Darf man das überhaupt Studie nennen? Ich weiß, ich werde gerade unsachlich, doch dies hier ist auch kein sachlicher Text). Irgendwie war das Ganze bisher unbemerkt an mir vorübergegangen, aber scheinbar hatte meinen Sohn ein Luftzug davon gestreift.
Mir fiel zu dieser Fernsehdiskussion nicht viel ein, eigentlich überhaupt nichts. Ich gebe zu, meine Emotionen hatten die Oberhand übernommen und fassungslos betrachtete ich die Dame.
Keine Frau muss, wenn sie das nicht möchte, ein Kind bekommen. Warum sich manche dennoch unter solcherlei Druck fühlen, ist mir ehrlich gesagt unverständlich, und meiner Meinung nach, eher individuell denn gesellschaftlich bedingt.
Ein Kind zu bekommen, ist die größte Entscheidung des Lebens. Keine andere ist größer, denn sie ist die einzige, die nicht umkehrbar ist. Dafür sollte man sich dann auch schon etwas Zeit nehmen, im Vorfeld darüber nachzudenken.
„Da müssen Sie jetzt einfach durch“, sagte auch eine ältere Politikerin der Dame.
Hätte von mir sein können. Und noch: Bitte mit Respekt dem Kind gegenüber. Schöner wäre es jedoch mit Liebe. Dass sie diese für ihr Kind empfände, darauf verwies die Dame immer wieder beinahe flehentlich. Mir blieb unklar, welch Definition sie für die Liebe hat.
„Das arme Kind, das mit einer Mutter aufwächst, die ein Buch darüber schrieb, dass sie es bereue, ein Kind bekommen zu haben“, sagte auch meine Tochter zum Thema.
Gerade in der Pubertät denken das die Kinder doch sowieso: Dass sie ungewollt sind. Weil die Bude wackelt, weil gestritten, gemeckert, gezofft und geschrieen wird. Weil die Heranwachsenden nicht wissen, wo sie hingehören, weil sie sich selbst gerade verloren haben, eher einen abgehalfterten Rockstar, einen ausgewanderten Nordpolreisenden oder gar Aliens als wahre Eltern akzeptieren können, als diese Personen, die zwar in derselben Wohnung leben, aber nur dazu da zu sein scheinen, sie in den Wahnsinn zu treiben und bei allem zu stören.
Das dachte (und denke) ich übrigens auch in diesen Zeiten. Denn wenn sich plötzlich die geliebten herzigen Kleinen, die sich einst mit einem riesigen Strahlen im Gesicht, juchzend in meine Arme schmissen und mich unendlich liebten, in Wesen verwandeln, die maulend, grummelnd oder schreiend durch manche Tage schlurfen und durch andere rasen, aber dabei immer eine Spur der Verwüstung hinter sich lassen, nimmt einem das schon mal den Atem. Also ehrlich gesagt, ist es richtig furchtbar. Doch da muss man dann eben auch durch. Man hat ja schon gehört, es ginge vorüber. Und: Man überlebt es.
Getragen von der Liebe, watet man tapfer durch den zähen Morast dieser düsteren Jahre. Auf der anderen Seite kann man sich dann in die Arme fallen, froh es geschafft zu haben, ausruhen und erst mal etwas trinken. Zusammen. Vielleicht im Sonnenschein.
Nicht eine Sekunde, mein Sohn. Nicht eine Sekunde.

Nachtrag: Da dieser Text (auf der Facebookseite) auf so viel Resonanz stößt und auch Fragen und Kritiken aufwirft, möchte ich noch einen Kommentar dazu abgeben. Meine Worte sind aus dem Herzen geschrieben. Ich lebe in einer Gesellschaft, deren Werte auf dem Christentum basieren, in der ich aber die Freiheit habe, mir meinen eigenen Weg zu suchen. Ich habe in meinem Text sicher (auch) die Position eines Kindes eingenommen, das vielleicht nicht in der Lage ist, sich objektiv mit der Tatsache auseinander zu setzen, dass seine Mutter die Mutterschaft bereut, ohne das auf sich zu beziehen. Ich denke, dass die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, sehr durchdacht sein muss. Man muss sich die Frage stellen, schaffe ich das (im Zweifelsfall auch alleine) oder nicht. Wie die Welt, wie die Gesellschaft aussieht, in der ich lebe, darf mir keine Überraschung dabei sein, das gehört quasi zur Recherche. Wenn ich diese Frage nicht eindeutig mit ja beantworten kann, dann ist das zumindest einen Moment des Zögerns wert. Denn ich bin letztlich verantwortlich für ein kleines und größer werdendes Leben. Ich selbst war und bin alleinerziehend. Dabei möchte ich nicht vergessen zu erwähnen, dass diese 17 Jahre 2 x 3 Jahre lang von wunderbaren Männern begleitet wurde. Trotzdem musste ich diesen Weg letztlich alleine gehen, von Anfang an. Dass ich nicht jede Facette meiner Persönlichkeit ausleben, mir nicht jeden eigenen Wunsch erfüllen konnte, ist "part of the game". Das habe ich gerne gegeben.

Dienstag, 12. Januar 2016

Die Mutter-Kolumne – Täglich frische Luft?

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wie so eigentlich?


Manche behaupten ja, es gäbe kein schlechtes Wetter nur schlechte Kleidung. Solche Leute tragen gerne Goretexjacken, Fleecemützen und robuste, wasserundurchlässige Schuhe mit wärmenden Filzeinlagen, die man nur im Internet oder in speziellen Outdoor-Läden bekommt.

Dass ich noch nie eine derartige Allwetterbekleidung besaß, liegt nicht daran, dass ich sie unkleidsam und farblich zumeist etwas fragwürdig finde. Ich besuche auch hin und wieder diese oft etwas streng riechenden Läden, kaufe beispielsweise Gaskartuschen für den Campingkocher und betrachte staunend, was man alles zu brauchen scheint, wenn man sich mal ins Freie wagt. Nein, es liegt daran, dass diese Funktionskleidung erstens sehr teuer ist und ich zweitens bei Regen, Hagel und Sturm einfach nicht so gerne rausgehe. Daran änderten auch die Geburten meiner Kinder nichts.

Ich höre das empörte Luftschnappen der Guten und bin mir der Schwere meiner Schuld durchaus bewusst. Ich weiß sehr wohl, dass Kinder täglich und ohne Rücksicht auf die Wetterlage an die frische Luft gehören. Und natürlich führte dieser Umstand immer wieder zu einem enormen inneren Konflikt. Nicht nur mit meinem schlechten Gewissen, sondern auch mit meinen Eltern. Sie schoben jedes tropfende Näschen, jedes tränende Äuglein und jedes kleine Hüstelchen auf die Pimpelhaftigkeit meiner Kinder, ausgelöst durch den nachweislich von mir verursachten Mangel an frischer Luft. Diesen Nachweiß erbrachte ein Hauttoncheck, den mein lieber Herr Papa mit einem Stück weißen Karton durchführte. Ehrlich gesagt, konnte ich ihn dessen nie tatsächlich überführen, bin mir aber sehr sicher, dass er stattfand. Es könnte natürlich auch sein, dass großelterlicherseits einfach per se behauptet wurde, meine Kinder seien bei schlechtem Wetter zu selten draußen. Immerhin wussten meine Eltern ja, dass ich mich dort nicht so gerne aufhielt, wenn es ungemütlich aussah. Übrigens genauso wie meine Kinder. Das muss genetisch und oder ererbt sein. Wenn es vor den Fenstern stürmte und pladderte, machten wir es uns dahinter lieber geschichtenlesend auf dem Sofa gemütlich. Je nach Lage manchmal tagelang und meist im Schlafanzug. 
Doch wir waren nicht dumm.

„Kinder, Omi und Opo holen euch gleich fürs Wochenende zu sich. Wir müssen mal raus“, sagte ich in solchen Momenten.
„Auweia, das gibt bestimmt Ärger“, sagte das Töchterchen.
„Genau, weil wir so weiß sind wie Bettlaken“, tönte das Söhnchen heiser und etwas hüstelnd.

Die Situation war ausreichend anlysiert. Aber draußen regnete es noch immer. Es galt, Plan B umzusetzen. Also standen wir auf, zogen unsere Jacken an, setzten Mützen auf, banden Schals um, schlüpften in Gummistiefel und stellten uns auf den Balkon, die Gesichter dem grauen Himmel entgegengereckt. Der Wind rötete unsere Wangen und wenn wir uns ein bisschen verbogen, konnten wir beim Nachbarn im Haus ums Eck mit Fernseher gucken. Wir verbrachten die Zeit damit, das von Ferne Gesehene zu synchronisieren.

„Mützen ab!“, sagte ich nach einer Weile.
„Genau, wegen dem Vitamin D“, erklärte das Söhnchen. 
Wir wussten bescheid.

Als wir glaubten, genug davon gebildet zu haben, gingen wir hinein und machten es uns mit großen Tassen heißer Schokolade wieder auf dem Sofa gemütlich.
Trotzdem nagte natürlich das schlechte Gewissen an mir.

„Mach dir keine Sorgen, Mama“, tröstete das Töchterchen. „Bei Omi und Opo müssen wir sowieso ganz viel wandern.“

Da war ich auf einmal sehr froh, dass meine Eltern Goretexjacken tragen und auch welche für die Kinder gekauft hatten.