Sonntag, 28. Mai 2017

Alltagsgeschichten #1 – Im Waldsee darf man nicht wellenreiten

„Surfen ist hier nicht erlaubt“, erklärt mir der Junge in der orangenen DLRG-Uniform.
Warum das unfassbar absurd ist, bedarf einer genaueren Ortsanalyse.
Da der Sommerurlaub näher rückt, wollten wir die dafür benötigten Muskelpartien trainieren, und hatten unsere Surfbretter an den Waldsee gekarrt. Die Idee war, mehrmals quer über den See zu paddeln. Zweimal war mir das gelungen. Nun steht also dieser Junge mit seiner zitternden Unterlippe und den unsteten Augen vor mir. Ich beschließe, ihn trotzdem zu siezen.
„Surfen?“, frage ich verblüfft.
Er deutet auf mein Wellenreit-Brett.
„Ach, Sie meinen meine Schwimmhilfe?“, frage ich leider nicht, weil mir so etwas immer erst hinterher einfällt.
„Das da geht nicht“, sagt er.
„Sie haben aber schon gesehen, dass es hier im Waldsee keine Welle gibt, die man surfen kann, und dass das da ...“, ich deute ebenfalls auf mein Board, „... kein Windsurfbrett ist, denn die haben ja Segel und sind auch viel größer.“
„Es steht auf dem Schild. Das darf man nicht“, wiederholt er.
Ich mag diesen See eigentlich nicht. Er ist belagert von grölenden Jugendlichen und anderen Menschen, die gerne laut sind und dabei auch nicht gut aussehen. Jeder mit eigener plärrender Musik, überall rauchende Grills und kleine Feuerchen. Auf dem Weg ins Wasser muss man achtgeben, nicht in zerbrochene Bierflaschen oder Kronkorken zu treten. Über das Wasser jagen sie sich mit riesigen Lufttieren und Matratzen. Schräg gegenüber sitzen die Angler. Als ich ankam hatten sie gerade wieder einmal den großen, uralten Karpfen an der vernarbten Unterlippe an Land gezerrt. Für das hundertste Karpfen-Selfie. Armer Kerl. Doch was soll er tun? Er ist eben ein Fisch und lernt nichts aus seinen Erfahrungen.
„Warum nicht?“, frage ich.
„Es steht auf dem Schild“, zittert der Junge heraus.
Ich schaue ihn nur an. Er guckt beinahe panisch überallhin, nur nicht zu mir.
„Vielleicht weil es gefährlich ist?“, fragt er mich dann.
Wir blicken über den See. Am schmutzigen Badestrand brüllen und tunken sie sich bis kurz vor knapp. Auf unserer Paddelstrecke ganz am Rand ist keine Menschenseele. Allerdings schaukelt dort eine einsame Ente.
„Mhm“, mache ich. „Für die Ente?“, sage ich allerdings wieder nicht.
Irgendwie tut er mir leid. Noch kann ich nicht glauben, dass das hier ernst sein soll. Schon immer sind wir hier gepaddelt. Da war das Kerlchen noch nicht mal geboren.
„Ist das nicht ein öffentliches Gewässer?“, frage ich. „Vielleicht gilt das nur für den Badebereich?“ Das wäre kein Problem. Von dem sind wir sehr weit entfernt.
„Es steht auf dem Schild.“
Ich habe Sorge, dass er gleich zu weinen beginnt.
„Kann ich dieses Schild mal sehen?“
Wir laufen durch herumliegende Flaschen, Dosen, Tüten , Feuerstelln und Lumpen zur Regeltafel. Dort steht etwas von Freizeitgelände, Selbstverantwortlichkeit und zeitweiliger Betreuung durch den DLRG.
„Da steht es“, sagt er und deutet auf einen der Sätze.
„Feuermachen verboten“, lese ich laut.
„Dann da“, flüstert er und zeigt auf einen anderen Satz.
„Müll ist zu vermeiden“, lese ich wieder laut. „Aber vielleicht meinen Sie diesen Satz hier“, helfe ich ihm, „motorbetriebene Boote, Segeln und Surfen sind nicht erlaubt.“
„Ja, genau“, atmet er erleichtert auf.
„Sie wissen aber schon, dass die Windsurfen meinen?“, frage ich ihn.
„Jedes Surfen“, beharrt er.
Inzwischen bin ich doch etwas fassungslos, erkläre es ihm aber trotzdem. „Man könnte hier nur Windsurfen. Zum Wellenreiten braucht man Wellen. Das hier ist ein Waldsee.“
„Es steht auf dem Schild.“
Der Chef des Dreimann-DLRG-Teams beobachtet uns grimmig. Er ist beinahe zahnlos, voller schlechter Tätowierungen, Bierwampe. Ich bin mir etwas unsicher, ob in Seenot geratene Nichtschwimmer hier tatsächlich gerettet werden würden. Leider bin ich mir aber sehr sicher, dass er, hier quasi auf letzter Station mit Macht in seinem Leben, auf keinen Fall vernünftigen Argumenten lauschen würde. Vielleicht hat er auch selbst längst begriffen, dass auf dem Schild nichts davon steht, dass wir uns irgendwie verboten verhalten hatten. Aber das würde er niemals zugeben. Er musste sein orangefarbenes Shirt, seine Ehre und Männlichkeit verteidigen. Vielleicht auch ein bisschen den IQ seiner Truppe. Obwohl ich bezweifle, dass er so weit dachte.
Ich wende mich trotzdem an den ihn, trage vor, was Sache ist.
„Ist verboten“, knurrt er.
„Woher weiß man das?“, frage ich.
„Es steht nicht auf dem Schild.“
Er starrt einem Mädchen im Bikini nach. Leckt sich über die Lippen. Mir wird ein bisschen schlecht.
„Feststoff“, kräht hinter mir der dritte und wippt mit stolzgeschwellter Brust auf und ab. „Alles aus Holz ist verboten.“
„Holz?“, entschlüpft es mir.
Ich hätte sehr gerne ein echtes, altes Board aus hawaiianischen Holz, besitze aber eines aus Resin mit Schaumstoffkern. Meine Tochter paddelte auf ihrer modernen Epoxi-Planke. Beide Bretter hatte ich zuvor einen Kilometer durch den Wald getragen. Eins rechts unterm Arm, eins links. Nur mal so, wegen der Feststoffe.
Ich weiß längst, dass hier nichts mehr hilft. Keine Nachhilfe in Lesen und in das Gelesene Verstehen. Da stehen drei Männer, die stolz ihren Dienst tun. Fertig.
Ich drehe um. Schlängele mich zurück, durch die Massen, die alle Regeln brechen, aber das auf eine sehr verständliche Art und Weise. Ein Surfboard ist wohl einfach zu obskur.
Hilfe, in was für einer Welt leben wir eigentlich, denke ich und hüpfe auf einem Bein weiter, weil ich in eine noch brennende Zigarette getreten war. Na, zum Glück ist die nun aus. Waldbrandgefahr und so. Aber egal.


Freitag, 19. Mai 2017

Die Mutter-Kolumne – Versprechen muss man halten. Ach, ja?

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wieso eigentlich.


„Das könnten wir doch vielleicht irgendwann mal machen, oder?“, hatte ich gesagt und auf die schönste Seite des Abenteuer-Kochbuchs gedeutet, das wir gerade gemeinsam anschauten. Camping an einem Flüsschen, Angeln, Wiesenkräuter sammeln, Feuerstelle und köstliche, auf einem Stock gegrillte Fische. Ein richtiger Abenteuertraum.
„Au ja!“, hatten die Kinder gerufen. Beide. Obwohl mein Sohn gar keinen Fisch mag.

Dann passierte das Leben. Es spülte uns leider den ganzen Sommer lang an kein Flüsschen. Eine Angel entdeckte ich auch nirgendwo. Und das Buch fiel mir nicht wieder in die Hände.

Im Herbst saß die Kinderschar, derer zwei plus einiger sie begleitende Kuscheltiere, vor mir auf dem Sofa und schaute mich mit vorwurfsvoll aufgerissenen Augen an. Alle, auch die Kuscheltiere. Auf dem Teppich daneben, halb unter das Sofa gerutscht, lag das Abenteuerkochbuch. Es wirkte wie ein Verräter.
„Du hast uns das da versprochen“, sprach das Töchterchen und tippte mit der Fußspitze dagegen.
„Was man verspricht, muss man auch halten“, krähte das Söhnchen.
Die anderen nickten. Alle.
„Aber ich hatte doch vielleicht gesagt, es war kein richtiges Versprechen“, verteidigte ich mich.
Das ließ die Schar nicht gelten. „Versprochen ist versprochen“, hieß es. Das hatte ich ihnen genauso beigebracht.

Daraus lernte ich. Nie wieder wollte ich etwas versprechen, das ich nicht halten konnte. Nicht einmal Möglichkeiten andeuten, die man als Versprechen missdeuten konnte. Ich begann, grundsätzlich Konditionalsätze zu vermeiden. Sicher war sicher.

Im Gegensatz dazu mehrten sich mit den Jahren die Versprechen der Kinder. Zu Beginn merkte ich es noch gar nicht. Vor allem nicht, dass diese Versprechen gar nicht erfüllt wurden. Ich glaubte ihnen, wenn sie sagten: „Das Zimmer räume ich später auf. Versprochen.“ Oder: „Ich komme gleich.“
Erst nach und nach begriff ich die Bedeutungen von gleich, später und sofort. Die waren: vielleicht, irgendwann oder auch niemals.
Waren das dieselben beiden Personen, die einst so darauf bestanden hatten, dass man ein Versprechen, auch wenn man es nur sehr wage formuliert hatte, einhalten musste? Die mich mit vorwurfsvollen Augen bestraft und ihre Kuscheltiere auf mich gehetzt hatten?
„Was ist denn nun mit versprochen ist versprochen?“, fragte ich.
„Ach, Mamilein, nimm doch nicht immer alles so ernst“, sagte mein Sohn.
Mamilein war ich immer dann, wenn sich auf liebevolle Art und Weise aus der Kinderriege ein wenig über mich lustig gemacht wurde. Hinzu kam noch ein beinahe joviales Schulterklopfen.
„Ja, und was ist jetzt damit?“, fragte ich und deutete mal ganz unbestimmt auf das uns umgebende Chaos im Kinderzimmer.
„Das räume ich später auf“, sagte mein Kind und schlüpfte in seine Jacke. „Jetzt muss ich erst mal ganz dringend weg.“
„Aber –“, begann ich.
„Versprochen, Mamilein“, sagte der Sohn, gab mir noch einen Kuss und war verschwunden.

Dienstag, 9. Mai 2017

Die Mutter-Kolumne – Die schicke, blöde Hose

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wieso eigentlich.


Ganz hinten im Schrank meines Sohnes hingen zwei Bügel. Auf dem einen ein Hemd mit Kragen, auf dem anderen eine helle Hose ohne Löcher. Die gute Hose. Ein Outfit für einen besonderen Tag. 
Ich gebe es zu, die Sachen hatte ich ungefragt gekauft. Sie sahen im Katalog so niedlich aus. Außerdem: Jedes Kind braucht doch zwei, drei ordentliche Kleidungsstücke, oder? Es gibt im Leben Momente, da geziemt sich eine nett anzuschauende Optik.

„Die Sachen sehen doof aus“, knurrte jedoch mein Söhnchen, wenn ich darauf zeigte. Zum Beispiel vorm Familienosterbrunch oder an Heiligabend. „Ich denke, wir sollen uns schön machen. Dann kann ich doch nicht so was Doofes anziehen.“
Er hatte eben ein ganz eigenes Bild von schön machen. Die abgewetzte Cordhose zum Beispiel, die war schön. Denn sie war super bequem und wunderbar weich. Oder der Pulli mit dem Hai. Der war zwar schon ein bisschen sehr kurz an den Ärmeln und sein Bäuchlein blitzte darunter hervor. Trotzdem. Der Haipulli war schön. Darum trug mein Kind ihn auch jeden Tag. Sollte ich zusehen, wie ich mit dem Waschen hinterher kam. Seinetwegen musste der auch gar nicht so oft gewaschen werden.

„Omi fände es schön, wenn du zu ihrem Geburtstag deine gute Hose und den Pullunder tragen würdest“, sagte ich einmal.
Er schaute mich skeptisch an.
„Ganz genau“, krähte das Töchterchen. „Sie freut sich bestimmt auch, dass ich mich so schön gemacht habe.“
Ich betrachtete etwas beklommen die Frosch-Gummistiefel an ihren Füßen, das türkisfarbene Satinnachthemd darüber, das sie mich gezwungen hatte, auf einem Flohmarkt einer alten Dame abzukaufen. Hochgeschürzt von einem ollen Ledergürtel aus der Verkleidungskiste. Darüber ein strahlendes Lächeln.
Ich gab ihr einen Kuss. „Bestimmt wird sich Omi sehr darüber freuen.“
„Ich bin ja auch keine Prinzessin“, knurrte das Söhnchen.
Dabei warf er einen neidvollen Blick auf den glänzenden Fetzen am Leib seiner Schwester.

„Einmal ziehst du die guten Sachen für mich an, ja?“, fragte ich ein anderes Mal.
Das Söhnchen schlüpfte mit angewiderter Mine und großem Geziere vor einem Theaterbesuch in eben jene Sachen. Ich machte schnell ein Foto. Dann lief ich schon mal vor. Jacke und Schuhe anzuziehen ging bei meinen beiden schneller, wenn ich nicht in der Nähe war.
In der Theatergarderobe musste ich dann herzhaft lachen, als unter der Jacke der Haipulli auftauchte.

Die Zeit arbeitete für ihn. Mein Sohn entwuchs dem schicken Outfit, ohne es ein einziges Mal getragen zu haben. Wir hängten es an unseren Stand auf einem Kinderflohmarkt.
Als sich eine Mutter dafür interessierte, begann mein Kind die ungeliebten Kleider anzupreisen. Ich hatte ihm einen Anteil für sein Sparschwein versprochen.
„Das ist eine sehr schicke Hose“, sagte er und nickte gewichtig. „So etwas braucht man.“
Die Mutter lächelte und zückte ihr Portemonnaie.
„Sie hängt sehr gut ganz hinten im Schrank“, fuhr mein Söhnchen fort. „Da sieht man sie nicht so. Und anziehen ...“, er schüttelte vehement seinen Kopf, „... anziehen würde ich so was nie.“