Donnerstag, 16. Juni 2016

Die Mutter-Kolumne – Gute Noten, muss das sein?

Kennt Ihr den Papalagi? Das bist Du, das seid Ihr und wir und ich betrachtet durch die erstaunten Augen eines fiktiven Südseehäuptlings. Alltäglichkeiten, die schon immer so waren, die man einfach so macht, die doch richtig sind, erscheinen in dessen Worten plötzlich gar nicht mehr so normal und logisch, allenfalls witzig oder absurd manchmal sogar falsch. So etwas mache ich jetzt auch. Jeden Monat in der eltern.family nehme ich mir eine Selbstverständlichkeit aus dem Leben mit Kindern vor und frage mich: Klar, alle machen das so, aber wie so eigentlich


„Leon hat geweint“, erzählte das Söhnchen und pfefferte sein Zeugnis auf den Tisch. „Wegen seiner Eltern. Weil er schlechte Noten hat. Dabei hat er nur Zweier und Dreier.“
„Um Gottes willen!“, entschlüpfte es mir und ich wusste nicht, ob wegen Leons strenger Eltern oder der Noten meines Sohnes. „Da ist nur eine Zwei, aber drei Vieren!“
Mit gerunzelter Stirn schaute er mich an. „Willst du etwa auch schimpfen?“
„Nein, aber das kannst du besser“, sagte ich zwar mahnend doch gefasst. „Außerdem haben wir es
der Lehrerin versprochen, die nur darum eine Empfehlung fürs Gymnasium gab.“
„Diese Lehrer schaffen es einfach nicht, mich zu faszinieren oder zu motivieren“, rief mein Sohn etwas theatralisch.
Es lag definitiv nicht an fehlender Intelligenz. Trotzdem. Er musste lernen. Er musste lernen zu lernen. Er musste gute Noten schreiben, allein um sein Selbstbewusstsein zu stärken. Und ich musste ihm dabei helfen. Egal wie.

Beim Besuch einer Schulpsychologin schilderte ich das Problem. Inzwischen hatte es sich um eine Französisch-Fünf vergrößert.
„Was ich dir jetzt sage, bleibt unter uns“, sagte die nette Dame zum Kind. Das nickte mit großen Augen. „In den Fächern, die dir Spaß machen, erreichst du gute Noten, in Französisch vermeidest du die Sechs und der Rest bleibt wenigstens im Mittelfeld. Abgemacht?“
Er gab ihr die Hand darauf.

Das sechste Schuljahr verging. Die Noten meines Sohnes machten mir weiterhin große Sorgen.
„Denk an die Absprache mit der Dame“, erinnerte er mich.
„Du aber auch!“, rief ich. „Irgendwann schaffst du es nämlich nicht mehr in diesem Sparmodus.“
„Wie so Sparmodus?“, empörte er sich. „Wir lernen doch jeden Tag Französisch.“
„Inzwischen kann ich das auch richtig gut“, erwiderte ich. „Ich habe mein Abitur aber schon.“

Eine Woche später wedelte er mit einer Mathearbeit und deutete auf die mit roter Tinte geschriebene 2+.
„Das war nur eine Ausnahme, als Beweis, dass ich es könnte. Ansonsten kennst du den Plan“, sagte er.
Hin- und hergerissen schaute ich ihn an. Ich wusste, dass es keinen Sinn machte, ihn zum Lernen zu zwingen. Allein die mehr oder minder freiwilligen Französischlerneinheiten wurden durch sein stetiges Gemecker zu einer echten Zerreißprobe.
„Schreit euch doch 5 Minuten an und dann lernt ihr 55 Minuten konzentriert“, hatte die Psychologin vorgeschlagen. Ein paradiesisch anmutender Zustand, den wir leider nie erreichen.
„Vertrau mir“, sagte mein Sohn. „Ich kriege das schon hin. Entweder packt mich der Ehrgeiz oder ich erkenne, dass das Gymnasium nichts für mich ist. Wenn ich niemals gerne lernen werde, möchte ich auch nicht studieren und brauche kein Abitur.“
Das klang plausibel. Konnte und sollte ich ihm tatsächlich vertrauen oder war es meine Aufgabe, für ihn zu entscheiden, weil er noch gar nicht wissen konnte?
„Irgendwann machst du mir vielleicht Vorwürfe, dich nicht härter rangenommen zu haben.“
„Auf keinen Fall“, sagte er.
„Wenn du mit mir lernen möchtest, ich bin da. Immer“, sagte ich.
Er nickte. Seitdem stehe ich in den Startlöchern und blättere schon mal durch das Chemiebuch.

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