Mittwoch, 17. Dezember 2014

Eine Adventskalendergeschichte



Wir saßen in der teuren Villa der Fotografin beim siebten, achten oder zwanzigsten Kaffee.

„Kommt Ihr Lieben, ein oder zwei Ideen werden wir doch wohl noch finden“, ermunterte sie uns. Wir Lieben waren die Assistentin der Fotografin, der Stylist, dessen Assistent, die Visagistin, die Hairstylistin nebst Assistentin, die Beautyredakteurin eines Frauenmagazins, die Assistentin der Beautyredakteurin eines Frauenmagazins und ein weibliches Fotomodell mit braunem Haar und werbewirksamen hellen Augen. Ich.

Seit zwei Tagen produzierten wir eine Fotostrecke mit dem Titel: 24 Tipps für ein entspanntes Weihnachtsfest. Zweiundzwanzig dieser Tipps hatten wir im Kasten. Keiner davon hatte uns irgendwie entspannt. Die restlichen zwei sperrten sich gänzlich. Es wollte niemandem auch nur noch eine Winzigkeit einfallen, wie man ein entspanntes Weihnachtsfest angehen könnte, wir wussten seit Stunden nicht einmal mehr, was ein entspanntes Weihnachtsfest überhaupt ist. Das war doch nur eine Legende! Eine Legende allerdings, die überdauern würde, da wir seit zwei Tagen alles für deren Überlieferung taten.

Wir hatten sämtliche Hausfrauenkniffe und Milchmädchenweisheiten ausgeschlachtet, wir hatten alle Religionen abgeklopft, der Stylist hatte seine Oma und die ihre Nachbarin angerufen und die Visagistin durfte mit ihrem rudimentären, homöopathischen Wissen auftrumpfen, das sie sich einst in einem vorzeitig abgebrochenen Wochenendseminar zugelegt hatte.

„Müssen es denn unbedingt 24 sein?“ Das war der Assistent des Stylisten, der da leise fragte.

Wir anderen blickten hoffnungsfroh auf die Beautyredakteurin. Ja, warum eigentlich vierundzwanzig?

„Na, diese Zahl liegt ja wohl nahe“, sagte diese jedoch.

Das lag sie wohl, mussten wir enttäuscht zugeben. Denn die Idee war ein dem Dezemberheft beigelegter Adventskalender. Hinter jedem Türchen sollte sich ein entspannender Tipp verstecken.

„Wir könnten hinter die 24 einfach Wir wünschen ein entspanntes und inspirierendes Fest! schreiben“, schlug die Assistentin der Beautyredakteurin vor.

„Genau. Und am Nikolaustag wünschen wir einen prall gefüllten Schuh. Dann hätten wir sie alle“, sagte die Assistentin der Fotografin.

Ich musste kichern. Die Beautyredakteurin blitzte einmal in die Runde. Wir verstanden, unterdrückten ein Stöhnen und taten weiterhin so, als dächten wir nach.

„Wie wäre es denn mit dem guten, alten OHM?“, rief die Fotografin und wir zuckten zusammen, weil sie so rüde die eingekehrte Stille zerbrochen hatte.

„Wir haben schon zwei Yoga- und zwei Atemübungen. Wird ein bisschen viel, oder?“

„Unsinn, das ist doch etwas völlig anderes. Komm Antje! Wir probieren das aus.“ Die Fotografin gab sich große Mühe ihre lahme Idee mit Verve zu unterlegen, sprang wie aufgezogen herum und versuchte jeden, aus der ihn umklammernden Erschöpfung zu reißen.

Ich setzte mich auf eine vom Stylisten schnell ausgebreitete indische Decke ins Fadenkreuz der Scheinwerfer. In den Schneidersitz, den ich irgendwie für passend hielt. Meinen Kopf ließ ich in den Nacken sinken. OHM.

„Wie sieht das denn aus, wenn einer so ein entspannendes OHM von sich gibt? So doch sicher nicht“, zweifelte die Beautyredakteurin.

Alle beäugten mich kritisch.

„Ich könnte meine Handgelenke auf die Knie legen, die Hände nach oben abwinkeln und die Fingerspitzen zusammenführen,“ schlug ich vor.

„Ja, mach das doch mal.“

Acht Augenpaare lagen hoffnungsvoll auf mir.

„Also, ich weiß nicht“, murmelte die Fotografin.

„Vielleicht wenn sie die Augen schließen würde?“ Zustimmende Mhms wurden laut. „Und mach doch mal einen runden Mund, als würdest du gerade das O ertönen lassen.“

„Nicht schlecht, oder?“, sagte jemand, den ich nicht sehen konnte.

Jeder wollte das, was er sah, entspannend finden. Jeder wollte endlich nach Hause gehen. Doch die Wahrheit ist manchmal augenscheinlich, besonders wenn man sie zu beugen versucht.

„Und wie wäre es mit dem MH?“, kam ein leiser Vorschlag. Ich glaube von der Visagistin.

„Also, wenn ihr mich fragt, das sieht total bescheuert aus.“

Das hätte ich ihnen schon vorher sagen können. Über das zustimmende Gemurmel ärgerte ich mich dennoch. Die anderen sich aber auch.

„Auf der anderen Seite ist das Bild nachher drei auf drei Zentimeter groß, man könnte es also gar nicht so genau erkennen“, erinnerte die Fotografin.

„Na, dann machen wir das jetzt so“, bestimmte die Beautyredakteurin.

Unverhohlenes Jubeln erfasste alle. Die Fotografin griff nach der Kamera und drückte ein paar Mal auf den Auslöser. Mit gespitztem Mund ließ ich das Mh ertönen. Einmal zwischendrin entspannte ich mich  ganz kurz. Nur aus Versehen.

„So, das hätten wir. Und nun?“

„Singen! Wie wäre es denn mit Singen?“, fragte der Visagist.

„Ja, Singen finde ich gut. So etwas macht man in der Vorweihnachtszeit“, ging die Beautyredakteurin auf den hoffentlich letzten Vorschlag ein.

Also schmiss ich mich in eine Pose, die meiner Meinung nach ein von Herzen kommendes Singen darstellte.

„Versuch es noch mal anders“, sagte jedoch die Fotografin.

Ich versuchte es anders.

„Nein, das ist nicht überzeugend. Sing mal laut.“

„Laut? Also so, dass ihr es hören könnt?“, fragte ich erschrocken.

Ich wollte niemanden enttäuschen. In Gedanken stellte ich mich alleine unter die Dusche und intonierte mit kläglicher Stimme einen aktuellen Popsong, von dem ich die erste Zeile kannte. Ganz deutlich konnte ich ein Kichern vernehmen.

„Vielleicht eher etwas Weihnachtliches?“, knurrte die Beautyredakteurin.

Auf die Schnelle fiel mir nur Vom Himmel hoch, da komm ich her ein. Ich hasse dieses Lied, weil ich schon in der Vorschule des Magdeburger Domchors damit scheiterte. Trotzdem krähte ich die ersten drei Zeilen im vollen Bewusstsein, dass mein Kopf vor lauter Anstrengung die gnadenlosen Höhen zu erklimmen, rot wenn nicht gar lila anlief während sich blaue Adern aus meinen Schläfen drückten. Ansehnlich, gar entspannungsmotivierend, sah das ganz sicher nicht aus.

Alle starrten der Fotografin über die Schulter auf das kleine Display der Kamera.

„Sieht nicht gut aus,“ unterbrach der Assistent des Stylisten die angespannte Stille.

„Wie wäre es denn damit?“, erklang die vorsichtig fragende Stimme der Assistentin der Beautyredakteurin.

Noch bevor ihr zagendes Stimmchen ganz verhaucht war, gab es ein ohrenbetäubendes Scheppern.

„Oh, nein, meine Tuba!“, schrie die Fotografin entsetzt und beruhigte sich erst, als sie ganz sicher war, dass ihr riesiges Instrument keine Delle davongetragen hatte.

„Super. Machen sie doch mit ihrer lieben Familie mal wieder Hausmusik. Und die Mutter bläst die Tuba“, sagte der Assistent des Stylisten und feixte mich erwartungsvoll an.

„Das ist nicht euer Ernst,“ protestierte ich. Ich behauptete zwar immer, mir für nichts zu schade zu sein, aber hier tat sich eine Grenze auf. Mit diesem Ungetüm wollte ich mir nicht die drei auf drei Zentimeter hinter der Nummer 24 eines Adventskalenders teilen.

Aus schierer Verzweiflung und in Ermangelung einer besseren Idee, begann ich aus vollem Halse Oh, du Fröhliche zu krakeelen, wobei ich meinen Körper in etwas verrenkte, was ich so ähnlich mal bei einer Yoga turnenden Freundin sah.

„Vielleicht ist die Idee mit dem Wunsch für ein entspanntes Weihnachtsfest hinter der 24 doch nicht so schlecht.“ Mit diesen Worten und einem höchst irritierten Blick auf mich unterbrach die Beautyredakteurin meine lautstarke, gymnastische Übung und erlöste uns endlich.

Später fuhr sie mich ins Hotel. Während ich aus dem Seitenfenster in den lauen Sommerabend starrte, stellte ich mir unzählige Frauen vor, die erwartungsfroh die Türchen ihres Adventskalenders öffneten und die von einem modernen Frauenmagazin abgesegneten Entspannungstipps befolgten. Wie viele würden am 23. Dezember in verkrampfter Haltung am Boden kauern, vielleicht mit einer indischen Decke unter dem Hintern und ein OHM in den Raum stöhnen?

„Sag mal, hast du gar kein schlechtes Gewissen?“ fragte ich die Beautyredakteurin.

„Warum?“

„Na, wegen des Quatsches, den wir uns da ausgedacht haben. Stell dir vor, die Leserinnen machen das wirklich nach.“

„Es zwingt sie doch niemand dazu.“

„Na, aber viele glauben doch, was in der Zeitung steht.“

„Wir machen die Zeitschrift, um zu unterhalten, nicht mehr und nicht weniger.“

„Trotzdem hast du doch eine gewisse Verantwortung“, ließ ich nicht locker.

„Aber du hast doch auch mitgemacht“, sagte sie leise.

„Wenn ich es nicht gemacht hätte, dann hättet ihr einfach ein anderes Model gebucht. Und ich brauchte das Geld.“

Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite an. Den Rest des Weges schwiegen wir.

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