Leben am Tropf Wer Blutstammzellen spendet, kann Leben retten – ein Erfahrungsbericht


Leben am Tropf
Wer Blutstammzellen spendet, kann Leben retten – ein Erfahrungsbericht

Wenn Wunden nicht aufhören zu bluten, die Leber die Funktion verweigert, das Immunsystem nicht mehr kämpft, wenn das Gewicht stetig sinkt und Blutarmut Müdigkeit und Schwindel hervorruft, dann kann die Diagnose Blutkrebs (Leukämie) lauten. Insgesamt erkranken jährlich allein in Deutschland etwa 12.000 Menschen daran, bei Kindern ist Leukämie die häufigste bösartige Krankheit überhaupt. Am Ende steht – untherapiert – der Tod.

Als mich meine Freundin fragte, ob ich sie zur Stammzellenspende ins Blutspendezentrum Frankfurt begleiten würde, sagte ich sofort zu. Die Prozedur sollte etwa fünf Stunden dauern. Ich packte CDs, ein Vorlese-Buch und die „Gala“ ein. Ich wollte Händchen halten, wenn es nötig wäre, und wir wollten über die Stammzellenspende berichten.
Alles, was von meiner langjährigen Beziehung mit einem Medizinstudenten übrig geblieben war, ist ein Organspendeausweis und die Registrierung in der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS). Sowohl der Freund als auch diese beiden „Dokumente“ erschienen mir über Jahre hinweg als „Karteileichen“. Die Vorstellung, Fallschirm zu springen, finde ich furchtbar. Ich hasse Bungee-Jumping. Aber plötzlich, nach all den Jahren, bietet sich mir eine sympathische Gelegenheit, doch einmal Mut zu zeigen: Ich komme eventuell als Stammzellenspenderin in Frage.
Seit 1991 gibt es die DKMS. Inzwischen ist sie die weltweit größte Datei mit 2,4 Millionen potentiellen Stammzellen-Spendern. Doch in Anbetracht der geringen Wahrscheinlichkeit, genetische Zwillinge zu finden, ist diese Zahl viel zu niedrig. Jeder fünfte Krebspatient stirbt, weil kein passender Spender gefunden wird. Darum werden dringend Stammzellenspender gesucht.
Juli 2011. Rückkehr aus dem Urlaub. Im Postfach und Briefkasten: Eine E-Mail und zwei Briefe, in denen ich darum gebeten werde, mich schnellstmöglich mit der DKMS in Verbindung zu setzen. Dann ein Anruf im August: Ob ich bereit bin, tatsächlich zu spenden? Ein langes Telefonat mit einer freundlichen Mitarbeiterin der DKMS klärt mich auf, was nun alles anstehen würde. Erst einmal muss ich meine gesamte (glücklicherweise noch nicht allzu lange) Krankheitsgeschichte erzählen und viele Fragen beantworten. Der endgültige Merkmal-Test muss schnell gehen. Gleich am nächsten Tag treffen die Unterlagen für die Blutentnahme ein. Meine Hausärztin nimmt mich – direkt am vollen Wartezimmer vorbei – sofort dran. Nachdem alle Gläschen und Röhrchen voll sind, entlässt sie mich mit den Worten: „Sie sind die Heldin des Tages.“
Verantwortung für ein fremdes Leben
Wenige Tage später das „Ja-Wort“: Ich würde für einen Leukämiepatienten als Spenderin passen und solle mich bitte für die kommenden zwei Monate bereithalten. Der Termin richtet sich nach dem Gesundheitszustand des Patienten. 14 Tage später schon der Anruf: Es soll in weiteren zwei Wochen so weit sein. Um ambulant Stammzellen spenden zu können, muss ich mich dafür vorbereitend fünf Tage lang „ein Stammzellen-Transportmittel“ spritzen müssen. Ich werde Grippesymptome verspüren und könne diese dann mit leichten Schmerzmitteln behandeln. Ich schlucke. Ich bin aber zu allem Notwendigen bereit. Ich habe nun Verantwortung für ein fremdes Leben übernommen. Es könnten ja auch meine Kinder sein. Ich zieh' das jetzt durch!
Der Ort der Stammzellen-Spende müsse noch gefunden werden, erklärt die DKMS. Die entsprechenden Apparate gibt es in Deutschland nur in wenigen Krankenhäusern. Voraussichtlich Dresden werde es. Ich mag nicht fliegen. Wenn's nicht unbedingt sein muss: bitte, bitte nicht. Einen Tag später ein Anruf: In Frankfurt am Main ist ein Platz frei.
Sich als Spender registrieren zu lassen, ist noch keine große Tat – und doch ein erster Schritt, eventuell Leben zu retten. Alle gesunden Menschen zwischen 18 und 55 Jahren können sich in die Datei der DKMS aufnehmen lassen. Eine geringe Blutabnahme oder gar nur ein Wangenabstrich ermöglichen die Bestimmung der Gewebemerkmale. Wer mag, spendet auch die 50 Euro, die diese Typisierung kostet.
Statistisch wird nur einer von hundert Spendern in den darauffolgenden zehn Jahren von der DKMS zur Spende gebeten. Und er kann seine Spendebereitschaft dann immer noch ohne Angabe von Gründen widerrufen. Bestätigt man sie jedoch, folgt zwei bis vier Wochen vor der eigentlichen Spende eine umfassende ärztliche Untersuchung. Zudem müssen viele Fragebögen, die das soziale und familiäre Leben betreffen, ausgefüllt werden.
Da sich nur ein geringer Teil der körpereigenen Stammzellen im Blutkreislauf befindet – der größere verbleibt im Knochenmark – muss sich der Spender direkt vor dem Eingriff fünf Tage lang subkutan (also: unter die Haut) Spritzen mit Wachstumshormonen setzen. So wird die Stammzellenproduktion angeregt und es gelangt ein größerer Anteil ins Blut. Gleichzeitig wird der Patient einer Chemotherapie und einer starken Bestrahlung ausgesetzt, die sein Knochenmark völlig zerstören. Ein Rücktritt des Spenders in dieser Phase hätte den Tod des Patienten zur Folge.
Die Voruntersuchung dauert ein paar Stunden, alle sind sehr nett. Ich fahre mit einer Tasche voller Einwegspritzen und Paracetamol nach Hause. Ich bin rundum gesund, stabil genug für den Eingriff, heißt es. Noch fünf Tage. Eine Nachbarin assistiert mir beim Aufziehen der ersten Spritze und wird sie mir verabreichen, falls ich mich nicht traue. Aber es ist nicht schlimmer als ein Sprung vom Fünf-Meter-Brett. Etwas Überwindung. Ich traue mich. Die DKMS hätte mir notfalls auch einen ambulanten Pflegedienst vorbei geschickt – daran soll das Ganze nicht scheitern.
Fünf Tage fühle ich mich etwas matschig. Ich denke oft an die andere Person. Sie besitzt nun keine Stammzellen mehr, wartet nur noch auf meine, sonst: Ende und aus. Ich bin verantwortlich für einen mir unbekannten Menschen irgendwo auf dieser Welt. Fallschirmspringen und Fliegen hat man mir für die letzten Tage verboten, aber ich bin ja eh ein Angsthase. Ich will es nicht zugeben, aber „gleich Null“ ist der psychische Druck nun nicht mehr.
Fast fünf Stunden lag meine gesunde Freundin in einem Krankenhausbett des Blutspendedienstes des Deutschen Roten Kreuzes in Frankfurt, vier Mal wurde ihr Blut vor meinen Augen durch die durchsichtigen Schläuche der Apheresemaschine gepumpt. Blut ist ja gar nicht rot, dachte ich die ganze Zeit, eher braun. Abends zuhause musste ich eine Flasche Wein entkorken und auf das Leben anstoßen. Der schwere Rotwein hatte die gleiche Farbe wie die gefüllten Schläuche der Maschine, in der das Blut meiner Freundin sich – durch eine Zentrifuge gejagt – von seinen Stammzellen trennte. Mehr als vier Stunden hatte ich beobachtet, wie sich der darüber hängende Beutel mit den Stammzellen füllte.
Beide, Spender und Empfänger, müssen zeitgleich zur Spende beziehungsweise zum Empfang bereit sein. Spätestens 72 Stunden nach der Spende müssen sich die neuen Stammzellen im Blutkreislauf des Patienten befinden. Weltweit sind „Kuriere des Lebens“ auf Abruf bereit, um die frisch gefüllten Beutel in kleinen Kühlakkus persönlich und so schnell wie möglich vom Spender zum Empfänger zu transportieren.
Eine echte Heldin
Ich schaue auf den Koffer und eben jenen Kühlakku eines spanischen Kuriers, als wir hinterher in der Lobby des Spendezentrums einen Kaffee trinken. Später werde ich meine tapfere Freundin nach Hause fahren, sie soll sich schonen und ihrer Milz Zeit lassen, damit diese sich zurückbildet. Die vermehrte Stammzellenproduktion hatte sie wachsen lassen. Ich schaue in ihr etwas blasses Gesicht, sehe ihre verbundenen Handgelenke und denke: eine echte Heldin.
Ein Mitarbeiter der Deutschen Knochenmarkspenderdatei ruft noch am gleichen Tag bei mir an, fragt, wie es mir ergangen sei, bedankt sich und berichtet mir, ich habe für einen 70-Jährigen aus Deutschland gespendet. Ich könnte in einigen Wochen erfahren, ob der Patient überlebt hat. Ich wünsche mir das so sehr. Er könnte der Opa meiner Kinder sein. Aber der Ausgang dieser Geschichte liegt nicht in meiner Hand.

Text: Antje Herden (Begleiterin) + Meike Heinigk (Stammzellen-Spenderin)
Fotos: Antje Herden

INFOBOX:
Sei auch ein Held!
Die Stammzellentransplantation ist eine der Therapieformen für Leukämie. Blutstammzellen sind adulte Zellen (also solche, die sich nach der Geburt im Körper befinden), aus denen sich neue weiße und rote Blutkörperchen sowie Blutplättchen bilden. Doch nur etwa 30 Prozent der Leukämie-Patienten finden im Verwandtenkreis einen passenden Blutstammzellen-Spender. Denn die Voraussetzung dafür ist die hundertprozentige Kompatibilität der Gewebemerkmale des Kranken und des Spenders – sie müssen genetische Zwillinge sein. Ansonsten würde das Immunsystem des Empfängers die fremden Stammzellen zerstören. Bei etwa 4.000 unterschiedlichen Merkmalen liegt die Wahrscheinlichkeit, dass das Gewebe zweier Menschen übereinstimmt, bei eins zu mehreren Millionen. Umso wichtiger ist es, sich registrieren zu lassen!
Eine umfangreiche Broschüre zum Thema kann hier bestellt werden:
Deutsche Knochenmarkspendedatei (DKMS) gemeinnützige Gesellschaft mbH
Kressbach 1
72072 Tübingen
Telefon (07071) 9430
Weitere Infos und die Möglichkeit zur Online-Registrierung als Stammzellen- oder Knochenmarkspender unter www.dkms.de

Artikel erschienen im P-Magazin, Ausgabe Dezember 2011/Januar 2012  www.facebook.com/pmagazin