KurzKrimi - Lanolin


Mein Anthologiebeitrag zum Odenwaldkrimi-Wettbewerb  "Mords Schafe" 

Lanolin

Das Schaf wusste um die Wahrheit. Aber es senkte den Kopf und trottete davon.
„Warum sagt man, Schafe seien feige und dämlich?“
Ich betrachtete die kleine, junge Frau, die neben mir an der Koppel stand. Trotz des herben Zugs um den Mund, strahlte sie etwas Weiches aus. Es kroch einem aus ihren großen Augen direkt ins Herz.
„Sagt man das?“
Ihre Stimme klang hell und wie von weit her. Sie zog fröstelnd die Schultern hoch und wandte sich zum Gehen, stemmte den zarten Körper in der dicken Jacke gegen den kalten Wind.
Das hier war der erste Fall, den man mir übertragen hatte.
Mir war unklar, warum Oberkommissar Linde daran festhielt, dass es sich um Mord handeln müsse. Herzversagen hatte es im Totenschein geheißen. Ausgestellt vom Arzt der Kreisstadt. Neun Zeugen hatten beinahe identisch den plötzlichen Zusammenbruch am zweiten Weihnachtsfeiertag zu Protokoll gegeben.
Wir liefen den Hangweg zum Hof zurück, vorbei an den Tieren, die uns stumm hinterher schauten.

Es hatte blaue Augen. Das hatte sie damals gesehen, als das alte Mutterschaf ihr zart das Brot von der Handfläche zog. Es war nicht sofort an den Zaun gelaufen gekommen, gierte nicht, wie die anderen. Und blieb auch, als die Tüte leer war. Es hatte hinter dem Draht gestanden, der die schmerzenden Stromstöße verteilte. Hatte sie angeschaut, minutenlang. Und verstanden.
Drei Jahre waren vergangen, seit sie dem Mann, dessen Namen sie nun trug, ins Dorf gefolgt war. Sie arbeitete auf dem Hof, wie er es von ihr erwartete, ihr mit knappen Anweisungen gebot. Als hätte er die Worte in der Stadt zurückgelassen, dort, wo sie einst verwundert seine großen Hände auf ihrer weißen Haut betrachtet hatte; wo sie von seinem Duft aufgefangen wurde, als wäre dieser das Zuhause, nach dem sie sich so sehr sehnte. Dass er sein Versprechen nicht halten würde, hatte sie dann schnell gemerkt, hier, auf dem Hof, umgeben vom Geruch der Viehzucht.
Nächtelang hatte sie um Gnade gefleht, stumm, unter ihm liegend, der roh und verbissen in sie stieß. Doch erst seit der Arzt ihr bescheinigt hatte, dass sie niemals schwanger werden würde, fasste der Mann sie nicht mehr an. Die Verachtung in seinen Augen spürte sie im Unterleib brennen. Als die Nachbarin ein Jahr später ein Kind zur Welt brachte, hatte sie den Eindruck, es sähe ihm ähnlich. Trotzdem passte sie manchmal auf den Kleinen auf.
Jeden Tag lief sie zur Weide. Das Mutterschaf mit den blauen Augen erwartete sie am Zaun. Zeriss für kostbare Minuten die unerwartete Pein, die sie durch den Mann erfuhr.
Irgendwann hatte sie begonnen, die ausgerissenen Wollbüschel abzuzupfen, die vom verbotenen Stacheldraht gefangen im Wind wehten. Achtlos erst, dann mit Bedacht. Sie nahm sie mit nach Hause. Dort füllten sie über die Monate einen großen Korb: warm, zottig, herb duftend.
Im zweiten Jahr weinte sie nicht mehr, wenn sie die Todgeburten in die große Tonne warf und auch das Blöken der suchenden Mütter zerrte nicht mehr an ihr. Dem Wagen, der die Milchlämmer abholte, schaute sie nicht nach. Sie hatte sich an die Schmerzen im Rücken gewöhnt. Die Innenflächen ihrer Hände waren verhornt.
Sie hörte auf zu sprechen. Wartete und wusste nicht worauf. Manchmal befürchtete sie, der Gang zur Weide, die wissenden, blauen Augen des Muttertieres könnten eines Tages nicht mehr genügen. Darum hatte sie ihre Studien wieder aufgenommen. Nach der Arbeit, mit müden Gliedern. Der Mann hatte nur den Kopf geschüttelt. Niemals hätte er verstanden.
Im Spätsommer des dritten Jahres verlangte sie mit fester Stimme, dass er auch die älteren Muttertiere scheren lassen müsse, besonders das Blauäugige litt unter der Last der schweren, verfilzten Wolle. Die wurde nicht verkauft, war Abfall und das Scheren kostete Geld. Sie war auf taube Ohren gestoßen, als sie ihm einst vorschlug, einen Internetverkauf von pflanzengefärbter, kardierter Biowolle zu starten.
„Eine Schur haben die sich nicht verdient,“ knurrte er nur.
Es hatte im Frühjahr drei Todgeburten gegeben, zudem wurden vier der Lämmer von ihren Müttern nicht gesäugt und waren verendet.
„Die sind jetzt wieder trächtig. Wir warten die Lämmer noch ab. Dann kommen die Alten zum Schlachter.“
Fünf Monate. Ihr blieben fünf Monate Zeit. Verzweiflung hatte nach ihr gegriffen.
Drei Tage später gelang ihr etwas, das ihr in einem anderen Leben Ruhm und Anerkennung eingebracht hätte. Und plötzlich lag da eine Lösung vor ihr. Sie bestellte ein Bestimmungsbuch der heimischen Wald- und Wiesenflora und unternahm ausgedehnte Spaziergänge an den Waldkanten entlang.
Sie wagte endlich, auf ein eigenes Zimmer zu bestehen und wenn er es hin und wieder uneingeladen betrat, belächelte er das Spinnrad, die verschiedenen Fläschchen, die Tiegel und die Pflanzensträußchen, die an einer Schnur aufgehängt über dem Kamin trockneten.
„Du entwickelst dich wohl zur Kräuterhexe? Oder was soll dieser ganze Zurück-zur-Natur-Mist,“ höhnte er, wenn sie nun die Abende damit verbrachte, die gesammelten Wollbüschel durch ihre behandschuhten Finger laufen zu lassen, sie zu einem schweren Faden zu verspinnen, in den sie eigentümlich duftendes Wollfett knetete.
Den gestrickten Pullover schenkte sie ihm zu Weihnachten. Er gefiel ihm nicht, doch er trug ihn am zweiten Weihnachtsfeiertag, um sie unter dem lauten Hallo seiner geladenen Freunde zu beschämen, grobe Menschen, wie auch er einer war. Sie ertrug mit ausdruckslosem Gesicht die grölende Häme der Betrunkenen. Alle waren sie gekommen, fraßen und soffen und versuchten, nach ihren Brüsten zu fassen. Der Mann lachte mit rotem Kopf. Es gefiel ihm, dass die anderen sie begehrten.
Sie legte einen Buchenscheit nach, dann noch einen, blickte in die prasselnden Flammen des offenen Kamins. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er sich den Schweiß von der Stirn wischte, sah die dunklen Flecken unter den Achseln. Und lächelte versonnen.

Ich saß im Auto und dachte nach.
Da war etwas gewesen, etwas Unbestimmtes, ein Geruch, die schnelle Bewegung mit der die kleine Frau das Buch mit den keltischen Zeichen zuschlug, das zaghafte Lächeln, auf meine Feststellung hin, dass ich mich auch für Runen interessiere.
Im Wegfahren hatte ich sie im Rückspiegel beobachtet und plötzlich ein Straffen ihrer Schultern wahrgenommen. Es schien, als würde sie ein paar Zentimeter wachsen. Und da ahnte ich, dass ich die Wahrheit nicht wissen wollen würde.

Je kürzer die Tage geworden waren, desto tiefer hatte sie sich verloren in den Geschichten der alten, nordischen Völker, war geflüchtet in die Geheimnisse ihrer Zeichen. Still und allein hatte sie sich an der Entschlüsselung einer alten Runenschrift erfreut, deren Abbild ihr eine Studienkollegin einst aus Schottland mitgebracht hatte. Eingemeißelt in einen Grabstein, diente die nicht der erwarteten Erinnerung eines Menschen, sondern beschrieb die Ursache dessen plötzlichen Todes.
Sie hatte nicht gewusst, ob sie hier äquivalente Pflanzen finden würde und bezweifelt, dass der Mond tatsächlich eine große Rolle spielte. Aber der Wille und die Hoffnung, das alte Schaf zu retten, hatten sie getrieben.
Die Idee, den giftigen Pflanzensud in das Wollfett zu kneten, war ihr gekommen, als sie Trost suchend in die blauen Augen schaute, die sie aus dem undurchdringlichen, schmutzig verfilzten Fell heraus anschauten. Die Ärmelabschlüsse und der Kragen des Pullovers hatten sich beinahe nass angefühlt. Bei einer Temperatur von 40 Grad war das Fett geschmolzen und samt seiner tödlichen Beimischung von der trockenen Haut des Mannes aufgenommen worden. Das es so schnell gehen würde, hatte sie nicht erwartet.

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