Mein Name ist
Kurt. Kurt Kreutzer. In den elf Jahren, die ich bisher auf diesem Planeten weilte, habe
ich echt schon eine ganze Menge erlebt. Ich würde sogar behaupten, dass ich
einige ganz unglaubliche Dinge gesehen habe, die nicht viele andere erblickten.
Selbst wenn die schon 80 Jahre alt sind. Aber als ich in dem Moment erwachte,
hatte ich weder eine Ahnung davon, wo ich mich befand noch was ich gerade
machte. Nur eines wusste ich ganz genau: Was immer es war, ich hatte es zuvor
noch nie getan. Ich konnte kaum atmen, weil viel zu viel Luft wie eine Wand
gegen mein Gesicht prallte. Hätte ich Haare gehabt, wären die in einem
stürmischen Wind geflattert. Meine Beine baumelten frei herunter und unter
meinen Gummistiefeln sah ich das undurchdringliche grüne Dach des Dschungels
vorbeiziehen. Ich flog!
Über mir spürte
ich ein riesiges Wesen, das mit kräftigen Flügelschlägen unseren Kurs
bestimmte. Es hatte mich an meinen Oberarmen gegriffen. Mit einem Blick zur
Seite erkannte ich entsetzlich große Krallen. Sie sahen aus wie das superscharfe
Messer, mit dem Oma die Tomaten schneidet und das ich auf gar keinen Fall
benutzen darf. Also, die Krallen sahen aus wie acht von Omas Tomatenmessern. Und eigentlich hätten sie mir das Fleisch zerschneiden müssen. Das taten
sie nur deshalb nicht, weil sie locker um meine Arme herum reichten. Ich war glücklicherweise
einfach zu dünn. Ein markerschütternder Schrei ließ mich den Kopf nach oben
reißen. Ich starrte gegen einen gefiederten Bauch und in ein schwarz und weiß
gestreiftes riesiges Flügelpaar. Ach, du grüne Neune! Ich war dem größten Greifvogel
der Welt zum Opfer gefallen.
Eine grausame
Harpyie brachte mich an den versteckten Ort, wo sie normalerweise Affen und
Faultiere in Stücke reißt. Die besten dieser Stücke legt sie ihrem Kind ins
Nest. Den Rest frisst sie selbst. Heute würde die Tochter der Harpyie also Menschenfleisch
à la Kurt Kreutzer serviert bekommen. Ich war verloren. Das hatte ich zwar schon öfter
gedacht, doch dieses Mal war ich noch viel verlorener als jemals zuvor. Ach,
Mama! Ich war losgezogen, um dich zu retten. Obwohl ich noch immer gar nicht
wusste, ob du überhaupt gerettet werden musstest. Und nun war ich rettungslos.
Zu allem Überfluss bekam ich auch noch Nasenbluten. Dicke Tropfen quollen aus
meiner Nase und der Wind schmierte sie mir über das ganze Gesicht. Na, toll!
Falls die Harpyie noch keinen großen Hunger gehabt hatte, war der nun bestimmt
geweckt. Mir wurde schlecht.
Für einen
winzigen Moment überlegte ich, ob ich vielleicht den ersten und letzten Freiflug
meines Lebens genießen und mich ein bisschen umschauen sollte. Doch das
bevorstehende Massaker ließ keinen einzigen netten Gedanken zu. Die Wolken über uns
drohten dunkel. Der Himmel hatte sich in eine finstere Kulisse verwandelt, die
supertoll zu meinem Schicksal passte. Plötzlich zerschnitt ein gewaltiger Blitz die
dicken Wolken. Es krachte zum Gotterbarmen. Geblendet schloss ich die Augen.
In meinen Ohren hallte der Donner wider. Was für ein Spektakel! Die Welt
verabschiedete mich mit Paukenschlägen und Feuerwerk! Als wäre ich in meinem
kurzen Leben ein echter Held gewesen. Ein weiterer Schrei der Harpyie ließ mich
erneut zusammen zucken. Dann krachte auch schon der nächste Donner. Da sah ich
im zuckenden Licht des Blitzes den Ort des Schreckens – den blutüberströmten
und knochenübersäten Felsen, auf dem der riesige Greifvogel seine Beute
zerkleinerte. Wir hielten genau darauf zu. Ein weiterer Donnerschlag rollte
über den Himmel, die Harpyie schrie und setzte zur Landung an. Meine letzten
Sekunden schienen angebrochen. Denn ich würde auf keinen Fall fliehen können.
Auf einmal
änderte der riesige Vogel jedoch die Richtung. Nanu, was war denn mit dem los? War
ihm der Hunger vergangen? Hatte er etwa Angst vor Gewitter? Ich kicherte ein
bisschen. Es war ja sowieso alles egal. Plötzlich ließ mich der mächtige Vogel einfach
fallen. Hilfe!
„Arrghh!“
Ich stürzte
schreiend aus den Wolken. Doch nach nur wenigen Metern landete ich weich auf
einem dicken grünen Teppich. Dann spürte ich jedoch einen schrecklichen
Schmerz. Zu guter Letzt hatten mich die tomatenmesserscharfen Krallen also doch
noch erwischt und mir den linken Arm aufgeschlitzt. Der Ärmel meiner Regenjacke
hing zerfetzt von meiner Schulter. Darunter sah ich das zerrissene T-Shirt. Es
verfärbte sich rasendschnell blutrot. Ich wollte gar nicht wissen, wie es unter
dem T-Shirt aussah.
Ich biss die
Zähne so fest zusammen wie ich konnte. Dann blickte ich mich um. Ich saß im
riesigen Nest der Harpyie. Es war aus starken Ästen und Knochen gebaut und dick
mit Moos und Blättern gepolstert. Neben mir hockte ein weißes flauschiges
Etwas, das mich aus großen Augen ein Weilchen erschrocken anstarrte.
Schließlich schrie es äußerst kläglich. Na klar, so hatte es sich seinen
Sonntagsbraten sicher nicht vorgestellt. Aber heute war ja auch gar nicht
Sonntag. Ich kicherte schon wieder. Wahrscheinlich waren mir die Höhe, der Flug,
der Schmerz und die Todesangst zu Kopf gestiegen. Außerdem machte mir auch das
enorme Gewitter, das um uns herum zuckte und krachte, große Bedenken. Ich
dachte sofort „wir“. Denn der puschlige Typ neben mir im Nest schien
schreckliche Angst zu haben. Er tat mir leid. Außerdem sah er total süß aus. Spontan
nannte ich ihn Charlie. Irgendwie passte das zu dem kleinen Greifvogel. Auch
wenn es vielleicht ein Mädchen war.
Ich spürte, wie
mir das Blut den Arm hinunter lief. Hoffentlich war die Wunde nicht zu groß.
Nach allem, was bisher passiert war, wollte ich jetzt nicht im Nest einer
Harpyie neben ihrem Baby einfach verbluten. Egal wie, viel Zeit blieb mir
nicht. Ich kletterte an den Ästen des Nestes hoch, um mir einen Überblick zu
verschaffen. Als ich über den Rand von Charlies Behausung blickte, hätte ich
mir allerdings einen etwas weniger großen Überblick gewünscht. Weit konnte ich
über das grüne Dach des Regenwaldes gucken. Unendlich weit und von sehr weit
oben.
„Ach, du grüne
Neune! Charlie, du wohnst vielleicht hoch.“
Charlie guckte
mit seinen großen Augen zu mir auf, als hätte er verstanden. Das Nest befand
sich auf einem Baum, der bestimmt 55 Meter hoch war. Das konnte ich zwar nicht
abschätzen, das wusste ich aber, weil ich es mal im Internet gelesen hatte. Darum
wusste ich ja auch, dass dieser gigantische Vogel eine Harpyie war und auch,
dass es mehr als seltsam war, dass Charlie hier allein im Nest saß. Er war
höchstens ein paar Tage alt. Eigentlich hätte seine Mutter auch da sein müssen
und ihn die ersten sechs Monate nicht verlassen dürfen.
„Charlie, hier
stimmt was nicht“, stellte ich fest.
Ich blickte über
den unendlichen Wald auf den ohne Unterbrechung Blitz und Donner niedergingen. Mir war äußerst
beklommen zu Mute. Wie sollte ich jemals aus diesen luftigen Höhen auf den
Boden zurückkommen?
Dann stieg mir
ein schrecklicher Geruch in die Nase. Rauch! Es brannte. Irgendwo musste der
Blitz eingeschlagen und ein Feuer entfacht haben. Ein Feuer, das nicht weit weg
sein konnte. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass es sogar sehr nah war. Über
mir brannte nämlich der Baum. Quasi unser Baum! Vielleicht waren Charlies
Eltern deshalb verschwunden? Sie waren abgehauen und hatten einfach ihr Kind zurück
gelassen! Plötzlich war ich empört. Wahrscheinlich ließen mich der Blutverlust
und der Höhenrausch komische Sachen fühlen. Aber Harpyien sind total kostbar.
Es gibt nicht mehr viele von ihnen, weil immer mehr Regenwald abgeholzt wird und
alles aus dem Gleichgewicht gerät. Wenn irgendwo eines der seltenen Nester
entdeckt wird, wissen die Leute, dass dort die Natur noch in Ordnung ist. Das
hatte ich auch alles im Internet gelesen. Wenn mir aber nicht sofort etwas sehr
Kluges zu unserer Rettung einfiel, würde ich nie wieder etwas im Internet lesen
können.
Ich versuchte,
meine Gedanken zu sortieren und unsere Situation zu begreifen. Mein Arm blutete
stark und brannte wie Feuer, von oben drohten echte Flammen, um uns herum tobte
ein ungeheures Unwetter und irgendwo lauerten bestimmt Charlies Eltern mit
ihren grässlichen Krallen. Was waren da schon 55 Meter Höhe!
„Charlie, wir
müssen hier runter“, sagte ich.
Als ob ich
gewusst hätte, wie das geht, riss ich ein langes dünnes Stück vom unteren Ende
meines T-Shirts ab. Ich schnappte den zappelnden, wild um sich hackenden Charlie.
Das Band wickelte ich um seinen Schnabel und seine großen Füße. Dann steckte ich
die Baby-Harpyie in die Kapuze meiner Regenjacke. Da hing sie wie in einem
Rucksack. Ich atmete noch einmal tief ein und kletterte los: aus dem Nest
heraus, außen daran herunter, auf den nächsten Ast und von dort wieder zum
nächsten.
Man sagt, wenn
man in großer Gefahr ist, dann schafft man viel mehr als man sonst so schafft.
So muss es gewesen sein. Anders kann ich mir nicht erklären, wie es mir gelang,
Charlie und mich heil den Baum hinab zu bringen. Ich schickte jeden Gedanken
und jede Angst weg und machte meinen Kopf ganz leer. So etwas lernen wir im
Hapkido-Training. Das braucht man zum Beispiel wenn man einen Stein mit der
Hand zerschlägt. Denkt man nämlich darüber nach, was man da gerade machen will,
dann klappt es nicht. Der Stein bleibt ganz und man selbst bricht sich alle
Finger. Nicht, dass ich schon jemals einen Kieselstein mit meiner Hand
zerschlagen hätte. Aber mein Meister hat es mir so erklärt. Als ich den Baum
hinunterkletterte schaute ich nicht in die schwindelerregende Tiefe, merkte
keinen Schmerz in meinem blutendem Arm, vergaß den Geruch des rauchenden
Feuers, ignorierte den zappelnden Charlie in meiner Kapuze und dachte keine
Sekunde an die messerscharfen Krallen seiner Eltern. Ich konzentrierte mich nur auf
den Ast genau vor mir.
Später versuchte
ich, mich daran zu erinnern, wie ich das genau gemacht habe und wie es sich
anfühlte. Aber es gelang mir nicht. Sandro und die Prinzessin löcherten mich
immer wieder und konnten es mir fast nicht glauben. Aber so war es und ich weiß
es nicht mehr.
16.
Ich kuschelte
mich tiefer in das Bett, zog die Decke noch etwas höher und drehte mich auf die
Seite. AU! Das tat total weh. Was war denn mit meinem Arm los? Außerdem hatte
ich riesigen Durst. Ich hätte den ganzen Stadtsee austrinken können. Obwohl ein
Glas Cola mit Eiswürfeln auch toll gewesen wäre. Sehr toll sogar. Aber Oma
erlaubte mir nicht Cola zu trinken. Höchstens mal als Belohnung, wenn ich in
der Schule eine Eins bekam. Hatte ich eigentlich schon die Mathehausaufgaben
gemacht? Kürzen und Erweitern von Brüchen. Dabei waren doch eigentlich Sommerferien,
oder? Wer machte denn in den Sommerferien Hausaufgaben? Oma hielt mir ein Glas
Wasser an die Lippen. Ich trank gierig. Das Wasser schmeckte seltsam. Ich
schlug die Augen auf und blinzelte. Oma war gar nicht Oma. Aber das Bett, in
dem ich lag, war immer noch da.
„Gott sei Dank“,
rief die Prinzessin.
Sie klatschte
vor Freude in die Hände.
„Was ist
passiert?“, stöhnte ich.
Aber bevor die
Prinzessin überhaupt den Mund aufmachen konnte, fiel mir alles wieder ein. Zumindest
bis zu dem Moment, als meine Füße endlich den festen Dschungelboden unter den
Gummistiefelsohlen spürten.
„Ich wurde von
einer Harpyie entführt. Dabei wurde ich schwer verletzt. Trotzdem bin einen 55
Meter hohen Baum runtergeklettert und habe das Kind der Harpyie gerettet. Ich
bin ein Held!“, krächzte ich ganz erschüttert.
Die Prinzessin
nahm meine Hand.
„Ja, das bist
du“, sagte sie.
„Wie habe ich
euch wieder gefunden?“
„Das hast du gar
nicht, wir haben dich gefunden“, erklärte sie mir. „Du bist durch den Dschungel
gestolpert als wärst du blind. Außerdem hast du ausgesehen wie ein Zombie. Dein
Gesicht war total blutverschmiert.“
„Ich hatte
Nasenbluten“, ächzte ich.
„Das haben wir
dann später auch gemerkt. Es sah aber furchtbar gruselig aus. Obendrein hast du
dich die ganze Zeit mit einem Charlie unterhalten. Als hättest du einen
unsichtbaren Freund oder wärst irgendwie verrückt geworden. Was ja auch kein
Wunder gewesen wäre.“
„Wie geht es
ihm?“
„Der
Babyharpyie? Der geht es gut. Sie hat Pflegeeltern gefunden.“
Ich wusste
gerade nicht genau, wie ich mir diese Pflegeeltern vorstellen sollte. Waren das
Vögel, Menschen oder irgendwelche anderen Tiere? Darum dachte ich lieber über
etwas anderes nach.
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